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Leos erste Erinnerungen setzen kurz vor seinem fünften Geburtstag ein. Dieser Tag, ein grüner Eisen-Tretroller, ein schwerer Unfall und ein gebrochenes Nasenbein, ohne dass ein Arzt zu Rate gezogen wurde. Diese Ereignisse fungieren als Anker in seinem Gedächtnis; die Geschehnisse danach sind ihm so klar vor Augen, als hätten sie sich erst gestern ereignet.
Ein Klosterinternat repräsentiert geistliche Schwestern und Nonnen in grauen Gewändern und weißen Hauben, die ein strenges Regime führen.
Das morgendliche, mittägliche und abendliche Gebet war das einzige, das christliche Werte vermittelte. Ansonsten herrschte strenge Disziplin und es kam zu sadistischen Übergriffen. Wenn diese Strenge für alle gegolten hätte, hätte Leo sie vielleicht als normal empfinden können. Aber es gab Bevorzugungen und Urteile nach willkürlichen Maßstäben.
Leo vermutet heute, dass die Eltern der Bevorzugten wertvolle Mitglieder der Glaubensgemeinschaft waren, entweder als regelmäßige Beitragszahler, großzügige Spender oder als besonders fromme Kirchgänger.
Er denkt zurück an das erste Mal, als er, ein sensibler Krebs, in eine Besenkammer gesperrt wurde. Ein winziger Raum, ungefähr 1 x 1,5 Meter groß, voll mit Besen, Kübeln und Wischtüchern, aber gerade ausreichend, um ein Kind hineinzustellen.
Warum musste Leo hinein?
Es drehte sich alles um das einzige Dreirad, das stets in Benutzung war und in der Garderobe gefahren werden durfte. Thomas war der Ansicht, dass er es uneingeschränkt nutzen könnte. Er zog jeden, der es benutzte, sofort herunter, sobald er fahren wollte. Gewöhnlich tat er dies recht grob, doch dieses Mal hatte er Pech, denn Leo war extra als Aufpasser dabei. Kaum hatte Rosa zwei Runden gedreht, erschien Thomas, griff nach ihrer Hand und versuchte, sie wie gewohnt herunterzuziehen, aber diesmal? Leo verhinderte es, und es entbrannte ein heftiger Streit. Beide waren nahezu gleich groß und stark, und niemand wollte nachgeben. Aber Leo? Natürlich! "Er hat ja angefangen."
Daraufhin fand sich Leo kurz darauf in der besagten Besenkammer wieder, schleckte seine Wunden, während die Tür von außen verschlossen wurde.
Erschöpft drehte Leo nach kurzem Stehen die Metallkübel um, machte sich mit den Bodentüchern eine weiche Sitzfläche, lehnte sich an die Wand und schloss die Augen. In dieser völligen Dunkelheit war ohnehin nichts zu sehen, nur ein schmaler Lichtspalt am Boden zeigte, ob jemand vorüberging oder stehenblieb. Gelegentlich wurde nach dem Wohlbefinden von Leo gesehen, da er nicht, wie sonst üblich, er schrie oder weinte.
Für Leo war die Stille eine willkommene Auszeit, keine Strafe. Rosa setzte sich auf den Boden vor der Besenkammer und streckte ihre kleinen Finger unter der Tür hindurch. Leo beruhigte sie und versicherte ihr, dass sie keine Schuld habe, als er hörte, wie sie zu weinen begann. Rosa flehte die Schwestern wiederholt an, Leo freizulassen, doch sie erhielt stets eine Absage.
Kurz vor dem Abendessen kam der Moment: Leo, geblendet vom Licht, wurde von Rosa zum Tisch geführt.
Die Besenkammer, einst von den Klosterschwestern genutzt, um Gehorsam zu erzwingen, war für viele Internatskinder der blanke Horror – eingesperrt in einem düsteren Raum ohne frische Luft. Doch es kam der Tag, an dem sich alles änderte, ....
Leo wurde erneut ruppig hineingestoßen, die Wut der Schwestern war gewaltig, denn er hatte sich wirklich etwas zu Schulden kommen lassen. Geschickt hatte er einen Stuhl vor die Tür der Besenkammer geschoben, um den sonst unerreichbaren Riegel, der so hoch montiert war, dass kein Kind ihn erreichen konnte, zur Seite zu schieben. Er wollte das Weinen, oder besser gesagt, das Röcheln von Eva nicht länger hören.
Zunächst blieb es lange Zeit unbemerkt. Doch als sie Eva holen wollten und die Besenkammer leer vorfanden, wuchs ihre Wut umso mehr. "Wer war das?" Leo, seinem Naturell entsprechend, meldete sich. Als Strafe stellten sie alle Eimer heraus, bevor sie ihn hineinstießen, sodass Leo nun nicht sitzen konnte. So ergaben sich die Ereignisse, die schließlich zu diesem Ergebnis führten.
Leo liegt am Boden, da die Luftqualität hier extrem schlecht ist und ein starker Geruch von Desinfektionsmittel den Raum durchdringt. Er hat keine andere Wahl, als sein Gesicht zum Boden zu legen, mit seiner Nase so nah wie möglich an den Türspalt zu kommen, um frische Luft von außen zu atmen.
Leo hatte längst jegliches Zeitgefühl verloren, als die Tür sich öffnete. Er hielt die Augen geschlossen und wollte sie auch nicht öffnen. Das Vortäuschen von Schlaf beherrschte er meisterhaft. Doch plötzlich gerieten die Pinguine in Panik und versuchten vergeblich, ihn mit kalten Waschlappen an Hals, Stirn und Wangen zu "reanimieren". Die ersten Mädchen neben ihm begannen zu weinen, und es blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Rettung zu rufen.