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Leos Eltern standen, wie viele andere auch, die nach dem Kriegsende neue Existenzen aufbauen mussten, vor großen Herausforderungen: eine neue Wohnung, die Anschaffung von Konsumgütern des täglichen Bedarfs wie Waschmaschine, Geschirr und ja, einfach alles, gab großen Nachholbedarf. Leo kann es aber nicht akzeptieren, dass sie das als Entschuldigung nehmen, um ihn bereits mit 17 Monaten in ein von Nonnen geleitetes Internat zu stecken. Aufnahmekriterium: römisch-katholisch, Lohnbestätigung und vor allem REIN! Das hieß, keine Windeln mehr tragen.
Ihr gemeinsames Leben war schwierig, doch in einer Sache waren sie sich einig: beim Schuldenmachen. Trotz ihres guten Einkommens – Inge arbeitete im Akkord in einer Mantelfabrik, Leopold war Hilfsarbeiter in einer Schokoladenfabrik – verdienten beide überdurchschnittlich. Dennoch kauften sie alles auf Kredit. Die Lohnbestätigungen ermöglichten es, den Alltag zu bestreiten, so wie es die Familie Witsch seit vier Generationen tat. Allerdings existierte das Witsch'sche Vermögen nicht mehr, und hinzu kam die Verschwendung durch verdorbene Lebensmittel.
Um nicht als Rabeneltern vor der restlichen Familie zu gelten, gaben sie auch Leos Onkel mit und bezahlten den Aufenthalt für ihn. Dieser war zweieinhalb Jahre älter und der jüngste Bruder von Leopold. Martin hieß er und sollte Leo das Leben erleichtern und auf ihn aufpassen. Gut gemeint, aber für Leo schlecht umgesetzt – warum wohl? Sie kannten sich nicht; Onkel Martin war für ihn fremd. Zudem hatte dieser keine Lust, die Rolle eines Kindermädchens zu übernehmen. Bereits in den ersten Minuten der Übergabe im Internat wurde es deutlich.
In den Tagebüchern, gibt 92 kleinen Ursus-Heften im Postkartenformat aus dem Nachlass von Inge, diese verschiedene bedeutende Tagesereignisse festgehalten, so auch den Tag, an dem beiden ins Internat kamen.
Leo wurde von seiner Mutter immer Poldi genannt, während sie ihren Mann Leopold nannte, nur um zukünftig für Klarheit zu sorgen. Warum sich er lieber Leo nennt? Er wollte auf keinen Fall wie sein Vater heißen.
15.12.1952: Heute habe ich beide ins Internat gebracht. Martin fand sofort Freunde und verschwand, ohne sich zu verabschieden. Poldi weinte bitterlich und klammerte sich an mich. Die Schwestern riefen zwei ältere Mädchen, die ihn von mit wegtrugen. Auch ich musste weinen, aber...
Leo hat keine persönlichen Erinnerungen an seine ersten Lebensjahre, weder an das Internat noch an die Wochenenden zu Hause. Seine frühesten Erinnerungen stammen von einem Vorfall, der kurz vor seinem fünften Geburtstag passiert sein muss. In den Tagebüchern seiner Mutter fand er jedoch einige seltsame Einträge, die aufschlussreich für seine damaligen Lebensumstände sind. Er möchte einige Auszüge teilen, damit sich die Leser ein eigenes Bild machen können. Er macht deutlich, dass er kein Mitleid sucht und seine Kindheit nicht durchweg negativ sieht. Seine Kindheit war unkonventionell, anders als die meisten anderen.
5.01.1953: Heute war es wieder sehr schlimm. Poldi hat sich aufgeführt, weil er die Feiertage über zu Hause war und heute sein erster Tag war. Martin musste ihn diesmal wegtragen, während Poldi sehr laut geschrien hat, was mir wieder das Herz gebrochen hat.
12.01.1953: Heute war es beinahe zum Abbruch gekommen, die Schwestern wollten, dass ich Poldi wieder mitnehme, da er einfach noch zu jung ist. Zwei Mädchen sind wieder gekommen, die ihn überreden konnten.
4.05.53
Es lief schon einige Male wunderbar, doch heute kam es wieder zu einem Exzess. Ich habe eine halbe Stunde verloren und bin zu spät zur Arbeit gekommen. Die Vorarbeiterin hat mir mit Kündigung gedroht, falls ich nochmals zu spät erscheine. Ich darf Poldi am Wochenende nicht mehr so verhätscheln!
Verhätscheln bedeutet also Verwöhnen! Dass Leo es vorzieht, ins Internat zu gehen, anstatt zu Hause zu bleiben, kann nur so interpretiert werden. Ihm fällt jetzt nichts Kluges mehr dazu ein. Doch es gab eine Zeit, in der er sehr gerne ins Internat ging und sogar die letzten Meter von der Haltestelle allein zurücklegte.
Martins Onkel fand schnell Anschluss; es gab zwei neue Kinder, und der ältere zog natürlich die Blicke der Jungen auf sich. Leo wurde, könnte man sagen, jeden Montag von den Mädchen mitgenommen. Wie er sich dabei fühlte und welche Auswirkungen das auf seine Psyche hatte, bleibt jedoch unklar. Martin erinnert sich noch daran, bevor er das Internat verlassen musste, weil die Schule für ihn begann. "Leo sah er immer nur bei den Mädchen und ausschließlich in ihrer Gesellschaft."
Das entspricht Leos Erinnerungen; er kann sich nicht erinnern, Autos am Boden herumzuschieben, mit Bausteinen zu spielen oder Fußball zu spielen. Seine bevorzugten Freizeitaktivitäten waren Zeichnen, Malen, Schwarzer Peter und Quartett. Vor allem aber war es ihm wichtig, darauf zu achten, dass seine Freundinnen ungestört blieben. Kam ein Junge und nahm einer Freundin die Puppe weg, griff er schnell ein, drehte dem Jungen die Hand um und kniete sich auf ihn. Es ist nachvollziehbar, dass dieser Junge dann nicht mehr sein Freund werden konnte.
Und falls ihr nun denkt, Leo, falscher Geist im falschen Körper – nein, das ist nicht der Fall. Er fühlte sich ganz als Junge, spielte Mutter-Vater-Kind und übernahm die Rolle des Vaters. Dann kam der Tag, an dem es auch seine Mutter bemerkte und auch niederschrieb.
12.10.53. Heute war alles anders. Schon beim Abholen am Freitag bemerkte ich, dass er länger bleiben wollte. Er war trotzig und wollte auch das Wochenende dort verbringen. Obwohl die Möglichkeit besteht, würde es unnötig Geld kosten. In der Garderobe erwartete ihn heute eine Matha. Er kann ja das 'r' noch nicht sprechen. Und er verabschiedete sich nicht einmal von mir und ist mit ihr gleich verschwunden.
Wir merken uns das DATUM! 12.10.53. Leo 2 Jahre und drei Monate und seine erste Freundin MARTA!