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Es beginnt! Leo Witsch der Sechste, findet seinen Platz im Leben und erkennt seine Bestimmung. In den letzten Monaten seines Internatsaufenthalts entwickelte er den Mut, der ihn fortan auszeichnen und sein Selbstbewusstsein stärken sollte. Er nimmt den Kampf gegen die Pinguine auf, lässt das Spielen hinter sich und ebenso alles andere. Nun beobachtet er die Klosterschwestern, von denen er einige für in Ordnung hält und die ihn auch ein wenig mögen. Doch der Großteil von Ihnen ist streng und ungerecht. Hat er das Gefühl, dass etwas nicht richtig läuft, insbesondere wenn eine Schwester etwas tat, was er als "NICHT NORMAL" empfindet, greift er ein.
An diesem Tag nahmen ihm diese Pinguine seinen Lieblingsmenschen.
Leo war bei den Mädchen sehr beliebt; es gab keine, die ihn nicht mochte. Sie hatten das Credo: "Wenn Leo bei uns ist, brauchen wir uns vor nichts zu fürchten, denn er passt auf uns auf!" Anita war für Leo etwas ganz Besonderes; er verbrachte die meisten seiner Nachmittage bei ihr. Er hatte seinen festen Platz neben ihr in der Gruppe der Älteren, sogar die vier älteren Jungen akzeptierten ihn.
Anita holte ihn ab, wenn sie von der Schule kam. Er saß neben ihr, während sie aß oder ihre Hausaufgaben erledigte. Sie spielte auch mit ihm ein Spiel, das er notfalls alleine spielen konnte und das er bei jeder sich bietenden Gelegenheit übte: Mikado, ein Geschicklichkeitsspiel mit farbigen Stäbchen. Dabei lehrte sie ihn das Zählen; jedes Stäbchen war mit farbigen Ringen markiert, die jeweils einen anderen Wert repräsentierten. Er lernte, sich zu konzentrieren, tief ein- und auszuatmen, die Luft anzuhalten und dabei nicht zu zittern, um ein Stäbchen vorsichtig zu kippen, zu ziehen oder in die Luft zu werfen.
Leo hatte kürzlich seinen fünften Geburtstag gefeiert. Seine Nase war nach einem Unfall mit dem Tretroller noch immer geschwollen, und bei schnellen Bewegungen bekam er Nasenbluten. Anita, die seinen Kopf behutsam auf ihren Schoß bettete, reinigte das Blut mit einem feuchten Waschlappen und wechselte mehrmals täglich die Watte in seiner Nase. Sie war wie eine Schwester für ihn, obwohl Leo zu dieser Zeit das Wort "Schwester" noch nicht kannte.
Anita musste das Internat schon früh am Morgen verlassen. Leo war für den Skandal in diesem christlich geleiteten Klosterinternat verantwortlich. Doch niemand unter den Pinguinen wollte seine Sichtweise hören; sie waren immer noch darauf aus, ihm eins auszuwischen. Sie sahen mit Genugtuung zu, wie er getroffen wurde, und freuten sich über seine Tränen. Keiner kam, um ihn von der Fensterscheibe wegzuziehen, an der er kniete und Anita nachsah, wie sie in ein Auto einstieg.
Mehrmals versuchten andere Mädchen, ihn abzulenken, doch er lehnte selbst das Mittagessen ab. Hertha und Franzi näherten sich mit einem Stuhl, einer Scheibe Extrawurst und Brot. Leo bedankte sich, bat sie aber, ihn allein zu lassen, da er jetzt alleine sein wollte. Er verspürte nicht den Drang, seine Tränen zu trocknen; er ließ sie stattdessen über seine Wangen laufen und auf seinen Kragen fallen. Dieses Gefühl wollte er festhalten, in seiner Erinnerung verankern und immer dann hervorrufen, wenn er den Klosterschwestern gegenüber einmal zu milde gestimmt sein sollte. Der Kragen seines Hemdes war durchweicht, und während er am Fenster saß, nahm er sich fest vor, dass diese Pinguine dafür bezahlen würden.
Als Leo den Sessel anhob, um in den Aufenthaltsraum zurückzukehren, hatte sich der Knabe Leo in einen mutigen Jungen verwandelt, der sich nie wieder unterkriegen lassen würde. Er würde keine Furcht vor irgendjemandem oder irgendetwas zeigen. Er, Leo Wilhelm Witsch der VI., mit den Genen seines sizilianischen Großvaters und denen eines Russen, der sich der Armee des Zaren anschloss, würde ihnen von nun an das Leben bei jeder Gelegenheit schwer machen.