Du bist Brenna Sundergeer.
Es ist nicht so einfach, gleich zwanzig Zwerge unter Kontrolle zu halten. Elred unterstützt dich zwar mit dem Tigerauge, sodass du schneller reagieren kannst als die Zwerge, falls sich einer aus dem Griff des Imperials befreit – doch es sind immer noch zwanzig Zwerge, die ihr im Labyrinth eingesammelt habt.
Ihr geht in der Mitte einer Prozession des kleinwüchsigen Volkes. Karja hat dir erklärt, wo die Zellen liegen, auf diese haltet ihr zu, während ihr die Hände hinter dem Rücken haltet. Die Wachen marschieren mit grimmigen Gesichtern durch die Menge, die zusammenläuft. Jubel erklingt, die Nachricht von eurer Gefangennahme verbreitet sich wie ein Lauffeuer durch die Menge. Ihr setzt eine entsprechend betroffene Miene auf.
Die Wachen stehen natürlich nur unter deiner Kontrolle. Karja und Elred, die vor und hinter dir laufen, sind genauso wenig gefesselt wie du selbst. Karja dirigiert euch vorsichtig in die richtige Richtung und Elred bemüht sich, dich weiterhin abzuschirmen, damit du dich auf den Imperial konzentrieren kannst.
Ihr habt euch direkt in die Mitte des Gewimmels begeben. Schweiß rinnt in Strömen über deinen Rücken, während du versuchst, alles im Blick zu behalten. Dein Herz hämmert viel zu stark in deiner Brust. Der Imperial in deiner Hand fühlt sich heiß an, deine Fingernägel graben sich in deinen Handballen, so fest hältst du den Kristall umfasst.
Die Zellen sind über die vordere Halle erreichbar. Dort müsst ihr die Zwerge irgendwann freigeben und das Schauspiel abbrechen, um zu fliehen. Doch bis dorthin müsst ihr die größere Halle durchqueren. Und eure Reittiere solltet ihr holen. Zu Fuß habt ihr keine Chance.
Du kannst nicht genau gucken, wie schnell ihr vorankommt. Es dauert ewig. Elred hat die Zeit stark verlangsamt. Du kannst spüren, wie die Zwerge um ihr Bewusstsein kämpfen. In Galabad hattest du den Imperial instinktiv genutzt, hier fällt es dir schwerer. Du kannst die Gedanken der Zwerge spüren, wie ein blasses Echo deiner eigenen Gedanken, das jedoch nur auftaucht, wenn du den Stein benutzt. Eure Gefangenen hassen dich dafür, dass du sie eingefangen hast. Sie versuchen, den anderen Zwergen, den freien, einen Hinweis zu geben. Sie versuchen, die Kontrolle über ihre Körper zurückzuerlangen.
Du kannst dagegenhalten, doch es ist wie ein ständiges, mentales Tauziehen. Früher oder später wird dir einer der Zwerge entgleiten.
Es war auch gar nicht geplant, dass ihr so viele verschleppt. Zunächst hattet ihr vier, doch eurer kleinen Gruppe haben sich mehr angeschlossen, um euch im Blick zu behalten. Die haben gemerkt, dass etwas nicht stimmt, und so hast du sie kurzerhand auch übernommen. Sie zu töten, könntet ihr nicht mehr riskieren. Ihr wart zu nah am Tunnelausgang.
Also hast du nun fast zwei Dutzend Zwerge unter deiner Kontrolle. Du schluckst, als eine weitere Gruppe auf euch zu kommt. Sie treten euch in den Weg, sodass kein Zweifel daran besteht, mit wem diese Gerüsteten sprechen wollen.
Du kannst kaum mehr als die Stiefel der neuen Zwerge erkennen, doch du spürst ihre Gedanken. Sie sind noch nicht misstrauisch, sondern erleichtert über eure Festnahme. Doch das kann schnell umschlagen.
Widerstrebend lässt du die Gruppe halten. Die Zeit wird wieder etwas schneller, sodass ihr die Worte des Empfangskomitees verstehen könnt.
„Ihr habt sie also gefunden“, stellt der fest, der vermutlich der Anführer ist. Du kannst spüren, wie er dich und deine Freunde kritisch mustert. „Gute Arbeit.“
Du befiehlst dem Anführer eurer eigenen Gruppe, zu nicken. Ob du es schaffst, ihn antworten zu lassen, weißt du nicht. Dafür müsstest du ihn etwas freilassen, doch das birgt das Risiko, dass er dir gänzlich entkommt.
„Wir können sie übernehmen“, teilt der Neuankömmling der Wachtruppe mit.
Du erstarrst. Gleichzeitig ersterben die Geräusche um euch herum, als Elred das Tigerauge wieder umfasst.
Was sollst du jetzt tun? Fieberhaft überlegst du, während du langsam den Kopf hebst. Als du den Zwerg siehst, der vor euch getreten ist, wäre dir der Imperial um ein Haar aus den Fingern gerutscht.
Er ist es – der Zwerg, den ihr im Auge des Drachen gesehen habt, mit wildem, goldblondem Haar und Bart und der verbrannten Wange, als wäre er in eine Kohlepfanne gefallen. Der Bart fehlt dort, die Haut ist gerötet und schuppig vernarbt.
Du siehst in seine dunklen Augen. Er furcht die Brauen langsam, nun flackert Misstrauen auf, weil er deinen Blick spürt. Dann siehst du zu seiner Brust.
Der Obsidianspiegel. Er ist nur zwei, drei lange Schritte entfernt! Deine Muskeln spannen sich bereits, doch dann siehst du zur Seite. Ihr seid knapp vor dem Aufgang zu den Zellen. Die Ställe liegen links von euch, auf der anderen Seite eurer Zwergengruppe. Dort sind eure Pferde und der Esel. Dort müsst ihr hin. Wenn ihr vorher versucht, den Schöpferstein zu stehlen, habt ihr vielleicht nicht mehr genug Zeit für die Flucht. Hier zählt jede Sekunde!
Du …
- … ignorierst den Obsidianspiegel. Lies weiter in Kapitel 35.
[https://belletristica.com/de/chapters/340970/edit]
- … holst dir den Obsidianspiegel. Lies weiter in Kapitel 36.