Elf Tage nach dem Angriff der Zehnten Flotte auf Strenia hatte Famke Korkonnen eine interessante Begegnung auf dem Raumhafen. Zunächst hatte alles nach einer Routineangelegenheit ausgesehen, als ein Zivilist, den zwei Soldaten unter ihrem Kommando, in der Nähe eines Sicherheitsbereiches aufgegriffen hatten, zu ihr geführt wurde. Möglicherweise handelte es sich um einen Kollaborateur. Entsprechend finster musterte sie den etwas abgerissen wirkenden Mittfünfziger, als man ihn zu ihr brachte.
„Wer sind Sie und was wollten Sie in einem Sicherheitsbereich der Raumflotte?“, erkundigte sie sich bei dem dunkelblonden Mann. „Was hatten Sie vor?“
Die grau-blauen Augen des Mannes funkelten wütend. „Bitte, Sie müssen mich gehen lassen. Ich muss zurück zu…“
Der Mann wurde, bei dem was er sagen wollte, unterbrochen als zwei weitere Soldaten zu ihnen schritten und einer der beiden aufgeregt meldete: „Leutnant Korkonnen, diese beiden, jungen Damen haben wir unweit des Ortes aufgegriffen, wo wir auch den Mann entdeckt haben. Sie behaupten, zu ihm zu gehören.“
Die Finnin sah fragend von dem Mann zu den beiden Mädchen. Beide schienen noch nicht volljährig zu sein. Sich wieder dem Mann zuwendend, fragte sie ruhig: „Beantworten Sie bitte jetzt meine Fragen und sagen Sie mir, ob die Mädchen wirklich zu Ihnen gehören.“
„Sie sind meine Töchter“, beantwortete der Mann die letzte Frage zuerst. „Mein Name ist Henderson Wayne. Mir und den beiden Mädchen ist kürzlich die Flucht aus dem Sol-System hierher geglückt. Wir hatten vor, die Gelegenheit zu nutzen, um uns an Bord eines der Fracht-Raumschiffe zu schleichen, bevor der Angriff durch Ihre Einheit stattfand. Wir wollen zum Wega-System. Meine Freundin kennen Sie vielleicht. Bei ihr handelt es sich um Generalmajor Azadeh Hazrat. Die beiden Mädchen sind unsere gemeinsamen Töchter.“
Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, bis Famke Korkonnen erkannte, dass diese Begegnung möglicherweise wichtiger war, als sie bisher vermutet hatte. Umgehend nahm sie über ihr Kommunikator-Armband Verbindung zum Flaggschiff auf. In knappen Sätzen erklärte sie die Situation und bat um weitere Anweisungen.
Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sich Generalmajor McGowan persönlich meldete und sagte: „Bleiben Sie an Ort und Stelle. Ich komme persönlich zu Ihnen, denn ich kenne die Familie von Generalmajor Hazrat. Wenn es sich wirklich um die Familie der Kommandeurin handeln sollte, dann hat deren Weiterflug zum Wega-System Priorität. Sollte der Mann gelogen haben, dann kann er etwas erleben. McGowan - Ende und aus.“
Der dunkelblonde Mann, der die Antwort mitbekommen hatte, wirkte erleichtert und sagte: „Gott sei Dank. Caitriona ist hier. Das erleichtert die Sache.“
Famke sah kurz zur Seite und gab den Soldaten einen Wink, die Mädchen zu dem Mann zu lassen. Er wirkte nicht gefährlich oder unaufrichtig. Die Mädchen noch weniger.
Der Mann nickte Famke Korkonnen dankbar zu.
Es dauerte etwa zehn Minuten, bis die Oberkommandierende der Zehnten Flotte den Ort des Geschehens erreichte. Sichtlich zufrieden näherte sie sich und sprach den Mann an, als sie die Gruppe von acht Personen erreichte. „Hallo, Henderson. Ich freue mich aufrichtig, dass es dir und den Mädchen gutgeht. Azadeh hat sich im letzten Jahr fürchterliche Vorwürfe gemacht, weil sie, bei dem Rückzug aus dem Sol-System, die Pflicht über ihre Familie stellen musste. Seitdem ist sie in Sorge um euch.“
„Und wir waren in Sorge um sie. Denn wir wussten ja nicht, ob sie selbst den Befehl gegeben hat, oder du, als ihre Stellvertreterin.“
Caitriona McGowan sah Henderson Wayne eindringlich an. Danach die beiden Mädchen, denen Tränen in den Augen standen. Sie legte ihre Hände an deren Wangen und sagte mit sanfter Stimme zu ihnen: „Eure Mutter konnte damals nicht anders entscheiden. Ich hätte denselben Befehl gegeben, denn seinerzeit stand die Flotte auf verlorenem Posten. Das versteht ihr zwei bestimmt.“
Die beiden Mädchen, deren Teint und Haarfarbe etwas dunkler waren, als bei ihrem Vater, nickten stumm.
Sich wieder Wayne zuwendend sagte die Kommandeurin der Zehnten Flotte dann: „Ich werde die CARDIFF abstellen, die euch ins Wega-System bringen wird. In einer halben Stunde brecht ihr auf. Bestellt Azadeh meine besten Grüße. Ach, und bringe deinen Töchtern bei, was Krieg für Soldaten wie mich, Azadeh und all die Anderen bedeutet. Ich meine, vor dem Wiedersehen auf Wega-IX.“
Henderson Wayne verstand den Wink und erwiderte müde: „Das werde ich.“
Caitriona McGowan sah die drei Zivilisten bedauernd an und meinte: „Leider muss ich mich bereits jetzt wieder von euch verabschieden, doch wir werden uns sicherlich noch sehen, in den nächsten Wochen und Monaten – jetzt, da ihr in Sicherheit seid.“
Die Kommandeurin reichte Wayne die Hand und legte danach nochmal die Hände auf die Schultern der Mädchen, bevor sie sich zu Famke Korkonnen wandte: „Sie geleiten die drei Zivilisten zur CARDIFF, sobald sie eingetroffen ist. Halten Sie sich dabei nicht länger auf der Fregatte auf, als zehn Minuten, Leutnant.“
Damit ging die Rothaarige.
Henderson Wayne sah der Bekannten fragend hinterher und wandte sich danach an Famke Korkonnen, indem er sich erkundigte: „Was meinte sie mit dem letzten Satz?“
Die Finnin lächelte schwach und erklärte: „Der Kommandant der CARDIFF ist mein Bruder. Die Kommandeurin weiß, dass ich die Chance ihn kurz zu sehen und mit ihm zu reden nutzen werde.“
Der Mann legte die Arme um die Schultern seiner Töchter und gab zurück: „Ich verstehe, Leutnant.“
Nur eine Minute später setzte die CARDIFF, ganz in der Nähe, zur Landung an und Famke Korkonnen erahnte, dass ihre Vorgesetzte keine Zeit verlieren wollte, um den Freund und die Kinder ihrer Freundin zu ihr zu schicken.
Natürlich hatte Famke davon gehört, dass die Kommandeurin der Heimatflotte, zu Beginn des Jahres 3221 den Rückzug befohlen hatte, nachdem die Gefechtslage unhaltbar wurde. Es waren seitdem die verschiedensten Gerüchte in Umlauf, auf die Famke nie viel gegeben hatte. Sie rief sich in Erinnerung, dass ihr Bruder zu diesem Zeitpunkt ebenfalls seine Pflicht über seine persönlichen Gefühle hatte stellen müssen. Gemeinsam mit Dean Corvin hatte er den Experimentalkreuzer NOVA SOLARIS dem Zugriff des Feindes entzogen, anstatt zu versuchen, sich zur Erde durchzuschlagen.
Henderson Wayne und die beiden Mädchen an seiner Seite folgte Famke, als sie darum bat. Sie geleitete die drei Zivilisten an Bord der CARDIFF. Bereits in der Bodenschleuse wurden sie von Kimi Korkonnen erwartet.
Für Wayne nahm es sich seltsam aus, dass die junge Frau ihren eigenen Bruder zuerst militärisch korrekt grüßte und Meldung erstattete, bevor sie ihn herzlich umarmte. Doch er vermutete, dass das beim Militär wohl zum guten Ton gehörte. Selbst unter Verwandten. Er wartete ab, bis sich die Geschwister alles gesagt hatten, was ihnen momentan wichtig war.
Erst, als Famke Korkonnen von Bord ging, begrüßte Kimi Korkonnen Henderson Wayne und die beiden Mädchen förmlich und sagte auffordernd: „Bitte folgen Sie mir, Sir. Ich bringe Sie drei zum Quartier, das Ihnen und den Mädchen für die Dauer Ihres Aufenthaltes auf der CARDIFF zur Verfügung stehen wird. Es ist, da die Fregatte kein ziviles Passagierschiff ist, vielleicht etwas beengt, doch es ist ja nicht für lange Zeit.“
Henderson Wayne bedankte sich und folgte dem Hauptmann zum nächsten Lift. Auf dem Weg zum Hauptdeck meinte Wayne nachdenklich: „Irgendwie kommt mir der Name Korkonnen bekannt vor. Bereits, als man Ihre Schwester mit dem Namen ansprach, hatte ich diesen Eindruck. Doch ich weiß nicht, wo ich ihn einsortieren soll.“
Der Finne sah zu Henderson Wayne und fragte: „Sagt ihnen die NOVA SOLARIS etwas? Ein ehemaliger Experimentalkreuzer der Flotte.“
Wayne schnippte mit den Fingern der rechten Hand. „Jetzt weiß ich, wieso mir der Name gleich bekannt vorkam. Ich hörte ihn während der Besetzung von Terra immer wieder. Die Konföderierten haben ziemlich geflucht, weil ihnen der Kreuzer durch die Lappen ging. Dann gehören Sie also zu dieser berühmten Gruppe von Flottenoffizieren, die für die Entführung der NOVA SOLARIS aus dem Sol-System verantwortlich zeichnen.“
„Wohl eher berüchtigt“, wiegelte Korkonnen, mit einem Augenzwinkern, schnell ab. „Es stimmt. Dabei war ich hin- und hergerissen, weil ich gleichzeitig nichts lieber getan hätte, als zur Erde zu fliegen, um meine Familie zu retten. Doch das hätte den Konföderierten nur weitere Vorteile verschafft und die Kriegslage für uns verschlimmert.“
„War die Lage damals wirklich so fatal? Ich meine, war der Rückzug der Flotte wirklich unumgänglich?“
Kimi Korkonnen ahnte, warum der Mann diese Frage stellte und verstehend sah er von ihm zu den Mädchen, als sie vor dem Schott des Quartiers stehenblieben. „Sir, wir hätten damals, wegen der fatalen Missweisungen aller Scanner, auf dreihundert Meter nicht einmal den Erdmond getroffen. Auslöser dafür waren Störsender, die von der Konföderation im System, auch durch Verrat, platziert worden waren. Das erfuhren wir natürlich erst einige Zeit später. Die NOVA SOLARIS entkam nur knapp, zusammen mit den letzten sich zurückziehenden Kriegsschiffen der Heimatflotte, darunter die NIBELUNGEN. Es heißt, dass sie nicht fort wollte, doch der Kommandant des Schlachtkreuzers hat insistiert. Sie entschuldigen mich nun bitte, Sir.“
Bevor sich Korkonnen abwenden konnte, erkundigte sich das jüngere der beiden Mädchen: „Wie lange wird der Flug dauern?“
Kimi Korkonnen, der diese Art von Fragen nur allzu gut von seiner jüngeren Schwester kannte, als sie noch Kinder waren, schmunzelte unmerklich und antwortete: „Wir sind in etwa zwölf Stunden im Wega-System.“
Henderson Wayne sah dem Offizier sinnend hinterher. Dann legte er seine Hand auf den Öffnungssensor des Schotts und meinte sanft: „Kommt, bevor wir im Wega-System ankommen sollten wir alle drei gründlich duschen.“
* * *
Der Flug mit der CARDIFF zum Wega-System verlief für Henderson Wayne und seine Töchter ohne besondere Ereignisse. Nach einer Dusche hatten sie die Gelegenheit genutzt, seit einiger Zeit wieder in richtigen Betten zu schlafen. Danach hatten sie etwas gegessen und Wayne hatte das gegebene Versprechen eingehalten und mit seinen Töchtern über die Aufgaben und Pflichten von Soldaten gesprochen. Zwar hatten sie dieses Gespräch schon früher geführt, doch er wollte ganz sicher gehen, dass Elenya und Inara wirklich verstanden, warum ihre Mutter, vor nun mehr als einem Jahr, das Sol-System verlassen musste. Er hoffte inständig, sie würden Azadeh keine Vorwürfe machen. Er würde es auch nicht tun, obwohl er anfangs den Rückzug nicht hatte nachvollziehen können. Weitgehend deshalb, weil man im Sol-System stets an die eigene Unbesiegbarkeit geglaubt hatte. Erst nach und nach hatten er und seine Töchter dann von den verheerenden Missweisungen der terranischen Scanner-Systeme erfahren. Erst, ab diesem Zeitpunkt hatte bei viele Menschen auf der Erde, die ohnmächtig und wütend wegen des Rückzugs der Heimatflotte gewesen waren, ein Umdenken stattgefunden.
Ein wenig schämte sich Henderson Wayne, wegen der Tatsache, dass er anfangs ebenso wütend gewesen war. Gerade er musste wissen, dass seine Freundin weder feige war, noch jemals unverantwortlich handeln würde. Vielleicht hatte er unterschätzt, was es in letzter Konsequenz bedeuten konnte, mit einer Soldatin liiert zu sein. Bereits vor dem Krieg war Azadeh oft an Bord ihres Flaggschiffs unterwegs – weit weg von Terra. Für ihn war es stets selbstverständlich gewesen, den Hauptanteil daran zu haben, ihre beiden Töchter großzuziehen und dennoch war es etwas ganz anderes gewesen, plötzlich auf unabsehbare Zeit von Azadeh getrennt zu sein. Die Angst, sie möglicherweise für immer zu verlieren war neu gewesen. Sie hatte ihn beinahe erstickt. Dasselbe galt umso mehr für Elenya und Inara.
Henderson Wayne schien aus einer Art Trance zu erwachen, als ihn die Durchsage aus dem Kommandozentrum erreichte, dass die CARDIFF, auf Wega-IX, zur Landung auf dem Raumhafen der HARRISON-CROENEN-BASIS ansetzte.
Bereits zwei Minuten später meldete sich Hauptmann Kimi Korkonnen vor dem Quartier an, um Wayne und seine Töchter persönlich zur vorderen Backbord-Schleuse der Fregatte zu geleiten. Auf dem Weg dorthin informierte der Offizier Wayne darüber, dass die Kommandeurin der Heimatflotte sie bereits im Hauptgebäude des Raumhafens erwartete.
Es überraschte Wayne nicht, dass auf dem Landefeld ein Gleiter auf sie wartete, denn immerhin betrug die Entfernung zu den Gebäuden, am Rand der Landefelder, mehrere Kilometer, was bei den Ausdehnungen und der Bedeutung dieser Basis kaum verwunderte.
Kimi Korkonnen hatte neben dem Piloten Platz genommen. Unterwegs wandte er sich wieder zu Henderson Wayne und sagte mit gedämpfter Stimme: „Wenn wir die Haupthalle des Gebäudes erreicht haben, ist es meine Pflicht, der Kommandeurin zuerst Ihre Ankunft zu melden. Dafür haben Sie sicherlich Verständnis?“
Wayne, der sich mit den militärischen Prozeduren zwangsläufig gut auskannte, bestätigte und legte seine Arme um die Schultern seiner Töchter, die es kaum mehr erwarten konnten, endlich ihre Mutter wiederzusehen.
Nachdem sie das Hauptgebäude erreicht hatten und sie ausgestiegen waren, nahm Henderson Wayne seine Töchter an die Hand und folgte Kimi Korkonnen mit zwei Schritten Abstand. Sie ließen das breite, mit viel Glas versehene, Portal hinter sich und schritten durch die weitläufige, in hellen Farben gehaltene, Halle. Wayne erkannte die Frau, auf die sie nun zuhielten augenblicklich und er musste die Mädchen fest an den Händen halten, damit sie nicht, trotz seiner vorherigen Worte an sie, nun einfach losrannten.
Als Kimi Korkonnen sich vor Azadeh Hazrat aufbaute und Meldung erstattete, kam Wayne dieser Moment wie eine Ewigkeit vor. Doch schließlich entfernte sich der Offizier rasch und passierte die Mädchen und ihn zu seiner Linken.
Mit gemessenen Schritten kamen er und die Mädchen nun näher. Wayne erkannte die Tränen, die in den Augen seiner Freundin standen und auch seine Emotionen drohten ihn nun zu übermannen. Doch er riss sich zusammen. Endlich ließ er die Hände seiner Töchter los und die Mädchen flogen im nächsten Moment ihrer Mutter in die Arme.
Generalmajor Azadeh Hazrat presste ihre Töchter, die sie achtzehn Monate lang nicht mehr gesehen hatte, fest an sich. Dabei bemerkte sie gar nicht, dass sich auch Henderson Wayne näherte und sanft seine Arme um sie drei legte.
Für eine lange Zeit hielten sich die vier Menschen nur in den Armen und jene Anwesenden der Terranischen Raumflotte, die nicht wussten, was sich hier gerade ereignete, sahen zum Teil erstaunt zu der Gruppe. Erst nach einer geraumen Weile hob Azadeh Hazrat den Kopf an und suchte den Blick ihres Lebensgefährten. Ihn inständig ansehend sagte sie kratzig: „Es tut mir so schrecklich leid, dass ich euch damals im Stich lassen musste, um…“
„Nein, das hast du nicht“, unterbrach Henderson Wayne sie rasch. „Du hattest, nach dem, was ich gehört habe, keine andere Wahl. Hätte es eine gegeben, so hättest du sie ganz bestimmt genutzt, dessen bin ich mir sicher. Wir drei lieben dich, Azadeh.“
Unfähig etwas zu sagen, sah die Kommandeurin der Ersten Flotte ihren Freund dankbar an und lächelte erleichtert. Erst nach einem Moment räusperte sie sich und sagte, nun mit fester Stimme: „Kommt, ich begleite euch zu der Hotelsuite, in der ihr vorerst einquartiert werdet. Ich habe das Kommando über die Flotte, für die nächsten sechs Stunden, in die Hände meines Stellvertreters gelegt, um erst einmal wenigstens für ein paar Stunden bei euch sein zu können. Es gibt so viel, über das wir reden müssen, dass ich gar nicht weiß, wo wir anfangen sollen.“
„Das wird sich bestimmt finden“, gab Henderson Wayne ruhig zurück. „Du wirst wissen wollen, wie es auf der Erde aussieht. Doch, mit deiner Erlaubnis, werden wir darüber erst morgen reden.“
Azadeh Hazrat nickte mit einem glücklichen Lächeln. „Natürlich. Und jetzt kommt.“
* * *
Fast zu demselben Zeitpunkt saßen Dean Corvin und Irina Hayes sich im Arbeitsbereich des Quartiers des Kommandanten der NOVA SOLARIS gegenüber. In der letzten halben Stunde waren sie die neuen Dienstpläne durchgegangen und hatten, zum Teil heftig darüber diskutiert, ob der neue Offizier für den Kreuzer, der vor drei Tagen auf Outpost angekommen war, von Vorteil oder ein Risiko sein würde. Denn es handelte sich um keine andere, als Léa Le Garrec. Eine gebürtige Denebarranerin.
Vor über einem Jahr war sie, nachdem Dean und sein Trupp im Sol-System ihren Frachter gekapert hatten, übergelaufen. Sie hatte den Terranern aktiv dabei geholfen unbemerkt auf dem Mars zu landen. Nicht durch Zwang, sondern aus Überzeugung.
An Letzterem hegte Irina, die seinerzeit an Bord der NOVA SOLARIS hatte bleiben müssen, Zweifel, während Dean fest an die Loyalität der Frau glaubte.
Laut Léa Le Garrec war sie zum Dienst beim Militär der Konföderation gezwungen worden. Sie hatte sich ungeachtet dessen auch deshalb bereiterklärt Corvin und seinem Trupp zu helfen, weil er ihr seinerzeit versicherte, dass man sie nicht als Kriegsgefangene behandeln würde. Es hatte den Terraner zwar einiges an Überzeugungskraft gekostet, doch er hatte sich erfolgreich für sie verwendet. Nach ihrer Überführung nach Farradeen war sie dort vernommen worden, wobei sich die junge Frau kooperativ gezeigt hatte. Danach kam das Militär von Farradeen ihrer Bitte nach, sie aufzunehmen. Sie hatte seitdem alle Prüfungen abgelegt, die nötig waren, um das Offizierspatent der Raumflotte von Farradeen zu erwerben. Für Letzteres hatte sie sich erst endgültig entschieden, nach einigen intensiven Gesprächen mit Corvin, bevor er zu dem Einsatz aufbrach, bei dem er schwer verletzt worden war.
Damals hatte Dean Corvin darum gebeten, Léa Le Garrec der NOVA SOLARIS zuzuteilen, sobald sie zum Leutnant der Raumflotte von Farradeen promoviert hatte. Nun war es so weit und Irina Hayes sah sich dazu genötigt Dean ihre Bedenken vorzutragen.
„Du kennst diese Frau nicht“, versuchte es Irina zum wiederholten Mal. „Wer weiß, ob das Ganze nicht ein geschickter Schachzug des konföderierten Geheimdienstes war, um uns eine Laus in den Pelz zu setzen.“
„Das würde voraussetzen, der Geheimdienst der Konföderation hätte damals gewusst, dass wir kommen“, hielt Corvin dagegen. „Die hätten uns doch nicht auf dem Mars landen und eine ihrer Fregatten entführen lassen, nur für die vage Chance, einen Spitzel in unseren Reihen zu platzieren. Einerseits wäre das für die Konföderierten viel zu absurd und zum Anderen hätten die von Deneb uns nie einen solchen Vorteil dafür erringen lassen.“
„Mein paranoides Ich bleibt trotzdem misstrauisch“, gab sich Irina Hayes noch immer nicht geschlagen.
Corvin seufzte entsagungsvoll. „Und was ist mit deinem nicht paranoiden Ich?“
„Auf das höre ich nicht, das ist zu naiv.“
Dean Corvin nervte diese Diskussion. Ernsthaft stellte er klar: „Hör zu, du wirst sie, als Teil der Besatzung dieses Kreuzers, nicht anders behandeln, als alle anderen Personen. Behalte sie im Auge, wenn du meinst, dass das unbedingt nötig ist, aber mach es in diesem Fall unauffällig. Das ist ein Befehl. Du wirst ihr eine faire Chance geben.“
Irina Hayes fuhr sich mit der Hand durch das flammend rote Haar und presste die Lippen aufeinander, bevor sie meinte: „Also schön. Aber ich garantiere dir, dass ich sie im Auge behalten werde.“
Der Erste Offizier des Kreuzers bemerkte die innere Unruhe des Majors und mit einem feinen Schmunzeln wechselte die Frau abrupt das Thema, indem sie mit verändertem Tonfall fragte: „Wie geht es Anaris Ikari?“
„Oberfeldwebel Ikaris Verwundung heilt bestens“, gab Corvin Auskunft. „Doktor Asuka Langdon hat hervorragende Arbeit geleistet. So, wie auch bei meiner Schussverletzung damals, nachdem mich deine Freundin unglücklich erwischt hatte.“
Irina erlaubte sich ein immer breiter werdendes Grinsen, bevor sie betont ironisch zurückgab: „Oh… Oberfeldwebel Ikari. Du glaubst, es würde mir nicht auffallen, dass du sie magst, wenn du ihren Rang voranstellst, anstatt einfach Anaris zu sagen? Vergiss es.“
Corvin erwiderte nichts darauf, doch seine Blicke sprachen Bände. Schließlich erhob er sich und stellte fest: „Für heute haben wir das Dienstliche geklärt.“
„Grüß Oberfeldwebel Ikari schön von mir, wenn du sie gleich besuchst“, grinste Irina Hayes verschmitzt. „Ich selbst werde morgen mal wieder nach ihr sehen.“
„Das wird wohl nichts“, konterte Corvin schnell. „Ikari wird nämlich heute aus dem Lazarett entlassen. Und zwar in zehn Minuten.“
„Ach“, machte Irina amüsiert. „Deshalb hast du in der letzten halben Stunde so unruhig hin und her gezappelt. Holst du sie ab?“
„Spare dir dieses scheinheilige Gehabe“, knurrte der Kanadier gespielt finster. „Ikari hat mich auf Erron fünf Monate lang jeden Tag besucht. Da ist es ja wohl das Mindeste, dass ich sie jetzt vom Krankenrevier zu ihrem Quartier begleite.“
„Natürlich“, spöttelte Hayes. „So wie die langen Gespräche an ihrem Krankenbett, in den letzten elf Tagen. Langdon erwähnte es, als ich Ikari zuletzt besucht habe.“
„Herrje, das Gerede auf diesem Kreuzer ist schlimmer, als der Tratsch an der Akademie“, stellte Corvin grimmig fest. „Und jetzt raus hier. Für heute ist Dienstschluss.“
Damit schob Corvin die Freundin zum Schott und verließ eilig mit ihr sein Quartier. Nach einem kameradschaftlichen Klaps auf die Schulter, den ihm Irina mit auf den Weg gab, wandte sich Corvin in Richtung Heck, wo er den Lift nahm, um ein Deck tiefer zu fahren. Nach weniger als zwei Minuten erreichte er das Krankenrevier.
Dean Corvin kam gerade zurecht, um mitzubekommen, wie sich Asuka Langdon mit einigen letzten mahnenden Worten, es in der nächsten Zeit ruhig angehen zu lassen, von ihr verabschiedete. Die Ärztin wirkte nicht sonderlich überrascht wegen Corvins Erscheinen. Mit einem Blick zu Anaris Ikari meinte die Ärztin: „Sie können Oberfeldwebel Ikari mitnehmen, Major. Aber sie soll es in den nächsten Tagen noch ruhig angehen lassen.“
„Das wird sie“, versicherte Corvin schnell und gab Anaris Ikari einen Wink ihm zu folgen. Erst als sie sich auf dem Gang befanden, erklärte der Major: „Ich wollte da so schnell wieder raus, weil unsere Leitende Ärztin sich als Tratschtante entpuppt hat.“
„Ich kann mir denken, wie Sie das meinen, Sir“, gab Anaris Ikari düster zurück. „Sie hat mich nämlich seit Tagen immer wieder aushorchen wollen, ob sich etwas zwischen uns anbahnt. Dabei habe ich ihr wieder und wieder versichert, dass Sie lediglich höflich meine Krankenbesuche erwidern, die ich meinerseits auf Erron machte, als Sie im Koma lagen.“
„Die Leute haben einfach eine viel zu blühende Fantasie“, hieb Corvin in dieselbe Kerbe, während sie mit dem Lift zum Deck hinauf fuhren, auf dem das Quartier der Frau lag.
Nebeneinander durch den Gang schreitend, erkundigte sich Anaris Ikari zwanglos: „Möchten Sie noch auf einen Tee mit hineinkommen, Sir? Allein in meinem Quartier die Füße hochzulegen und gar nichts zu tun liegt mir nämlich nicht.“
Ein unmerkliches Lächeln umspielte die Lippen des Mannes, ohne, dass er sich dessen bewusst war. „Sehr gerne. Ich muss Sie ohnehin noch davon unterrichten, ab wann ich Sie wieder in die Dienstroutine einzubinden gedenke. Was ohnehin kein Problem werden wird, denn die Sonnenwind-Flotte kehrt morgen für einige Wochen nach Farradeen zurück. Soweit ich unseren Kommandeur verstanden habe, erhalten wir drei Wochen Landurlaub.“
Sie erreichten das Quartier der hochgewachsenen Frau und traten ein, bevor Anaris Ikari erwiderte: „Der letzte Urlaub liegt über ein Jahr zurück. Na ja, wenn man von den fünf Monaten absieht, in denen wir auf Wega-IX herumgegammelt haben.“
„Ja, aber das war ja kein Urlaub. Für keinen von uns.“
Anaris Ikari machte sich daran, den Tee für sie beide zuzubereiten.
Dean Corvin, der währenddessen im Wohnraum stehenblieb, beobachtete sie dabei. In diesem Moment erschien ihm die schlanke Frau gar nicht zwei Jahre und fünf Monate älter. So, wie es der Fall gewesen war, bei ihrem ersten Einsatz. Damals hatte er mitunter das Gefühl gehabt, im Vergleich zu ihr ein grüner Junge zu sein. Dieser Eindruck hatte sich im letzten Jahr gelegt, insbesondere aber in den letzten elf Tagen. Sie hatten lange Gespräche miteinander geführt, wobei er sich ihr gegenüber manchmal mehr geöffnet hatte, als es selbst Irina gegenüber tat, mit der ihn immerhin ein besonderes Vertrauensverhältnis verband. Dabei hatte er gleichzeitig gespürt, dass dies auf Gegenseitigkeit beruhte. Diese Entwicklung hatte ihn überrascht, jedoch in positivem Sinn.
Erst, als sich Ikari mit dem Tee und zwei Gläsern wieder zu Corvin wandte, fiel ihr ein, dass sie dem Major zuvor keinen Platz angeboten hatte und entschuldigend deutete sie mit dem Kopf zur Sitzecke hinüber. „Nehmen Sie doch bitte Platz, Sir.“
Dean Corvin nahm der Frau vorsichtig die beiden Gläser aus der rechten Hand und kam erst danach ihrer Aufforderung nach. Erst als sie sich, mit einem Glas Tee in der Hand, auf den beiden Sofas schräg gegenüber saßen, ergriff der Major das Wort. „Was werden Sie in den drei Wochen Landurlaub machen? Besuchen Sie Ihre Familie?“
Der Blick der Frau verfinsterte sich etwas: „Meine Eltern wurden getötet, als ein Vorauskommando der Konföderation Deneb an unserer Grenze zum Raum des ehemaligen Imperiums patrouillierte. Man hielt den Verband von zehn farradeenischen Kriegsschiffen offensichtlich für terranische Einheiten. Nur ein Kreuzer entkam damals dem Angriff.“
Dean Corvin suchte nach Worten. „Sie entschuldigen hoffentlich meine unbedachte Frage. Von den Ereignissen wusste ich nichts.“
Anaris Ikari nickte knapp. „Sie konnten das nicht ahnen, Sir. Das Oberkommando hat den Vorfall auch nicht publik gemacht. Ich selbst wurde damals zum Stillschweigen vergattert. Ich meine, bevor Farradeen in den Krieg eingetreten ist.“
Für eine Weile herrschte unangenehmes Schweigen, bevor Corvin sinnend sagte: „Ich selbst weiß nicht, was ich während dieser drei Wochen unternehmen werde. Zumal ich mich auf Farradeen nur sehr begrenzt auskenne.“
Ikari drehte ihr Glas in den Händen und erkundigte sich dann: „Wie steht es in Sachen Wassersport bei Ihnen, Sir? Wenn es wirklich Landurlaub gibt, dann habe ich vor, nach unserer Landung die Küste der Kristallsee zu besuchen und dort zu den Tempeln zu tauchen, die es auf dem Meeresboden gibt. An besagter Stelle ist das Meer nicht tiefer als maximal fünfundzwanzig Meter und das Wasser ist kristallklar. Daher auch der Name.“
Dean Corvin lächelte in der Erinnerung, als er entgegnete: „Ich bin zuletzt vor über sechs Jahren getaucht. Damals, als ich noch an der Sektion-Venus ausgebildet worden bin. Tauchen gehörte dort zum Ausbildungsprogramm.“
Anaris Ikari nahm einen Schluck von ihrem Tee, bevor sie unbefangen erklärte: „Dann wäre es vielleicht eine gute Gelegenheit für Sie, alte Kenntnisse wieder aufzufrischen, Sir. Die umgebende Landschaft ist zudem sehr malerisch und es ist, gerade zu dieser Jahreszeit, herrlich warm dort.“
„Sie meinen, ich soll mitkommen, wenn Sie dort Urlaub machen?“
Verlegen begann Anaris Ikari erneut damit, das Teeglas in ihren Händen zu drehen. Dann überwand sie sich und antwortete fest: „Ja, das meine ich. Gerade jetzt können Sie die Ablenkung durch neue Erfahrungen ganz gut gebrauchen. Meiner Meinung nach.“
Dean Corvin sah für einen langen Moment in die dunklen Augen der Frau. Nach einem Moment sagte er dann: „Vielleicht haben Sie Recht. Nach all dem was war, könnte das wohl wirklich nicht schaden.“
Beinahe glücklich sah Anaris Ikari ihren Vorgesetzten an.
Sie unterhielten sich noch eine ganze Weile über die hiesigen Zustände an der Küste der Kristallsee, bevor Corvin schließlich zum Dienstlichen kam. Als er sich erhob, um sich zu verabschieden, begleitete Anaris Ikari ihn noch bis zum Schott. Bevor er gehen konnte erkundigte sie sich bei ihm: „Besuchen Sie mich morgen, nach Dienstschluss, Sir? Ich meine, wir könnten dann schon einmal durchgehen, was wir alles für diesen bevorstehenden Urlaub organisieren müssen.“
Corvin nickte und gab lächelnd zurück: „Ja, das klingt gut. Wir sehen uns also morgen, Oberfeldwebel Ikari. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend.“
Für einen kurzen Moment schien es dem Major so, als wolle die Frau noch etwas erwidern, doch dann nickte sie nur.
Draußen auf dem Gang schritt Corvin in Richtung Lift davon, wobei ein zufrieden wirkender Zug auf seinem Gesicht lag.
* * *
Nicht nur am, nach Bordzeit, nächsten Abend, sondern auch an den darauf folgenden Abenden trafen sich Corvin und Anaris Ikari, um miteinander zu reden. Sowohl über den bevorstehenden Urlaub, als auch über die verschiedensten anderen Dinge. So, wie sie es bereits während Corvins Besuche auf der Krankenstation getan hatten.
Am neunten Abend des insgesamt zwölftägigen Fluges nach Farradeen suchte Anaris Ikari Corvin in dessen Quartier auf. Es war das erste Mal, seit jenem Tag, an dem sie dem Major den Marsch geblasen hatte, dass sie wieder hier war. Etwas spöttisch hatte sie gemeint, dass es vielleicht besser wäre, erst einmal alle herumstehenden Tassen in Sicherheit zu bringen und sich einen strafenden Blick des Kommandanten eingefangen.
In den letzten neun Tagen hatte sich etwas verändert zwischen ihnen beiden. Etwas, das vielleicht schon seit ihrem ersten gemeinsamen Einsatz auf Eris unterschwellig nur darauf gewartet hatte, sich zu verändern.
Neben den dienstlichen Angelegenheiten und der aktuellen politischen Lage hatten bei ihren Unterhaltungen, in den letzten neun Tagen, die privaten Dinge langsam einen immer größeren Raum eingenommen. Auch heute hatten sie nur kurz angeschnitten, dass die Verbindung zwischen Deneb und Sol für die Konföderation nun deutlich schwieriger zu kontrollieren sein würde. Danach hatte Dean Corvin darüber gesprochen, wie er und Rian, während des Überfalls auf das Sol-System aneinander gerasselt waren.
Anaris Ikari zögerte etwas bevor sie vorsichtig fragte: „Denken Sie nicht, dass Ihre Gefühle für Rian vielleicht nur eine Folge davon waren, dass Sie sie auf Luna zurücklassen mussten? Vielleicht haben Sie sich schuldig gefühlt und dieses Gefühl später mit Verliebtheit und tatsächlicher Liebe verwechselt? Verstehen Sie mich nicht falsch, ich glaube schon, dass es da so etwas wie Liebe gab, aber vielleicht nicht die Art von Liebe.“
Zunächst war Dean Corvin drauf und dran diese Vermutung zu verwerfen. Doch dann erinnerte er sich an die Worte, die ihm Vara Kiryn vor nun mehr über einem Jahr auf Farradeen sagte, nach einem gemeinsamen Lauftraining. „Seltsam, Sie sind nicht die erste Frau, die glaubt, ich hätte Rian gegenüber, nach der Flucht aus dem Sol-System, Schuldgefühle entwickelt. Ich habe das seinerzeit rigoros verneint doch vielleicht war mehr dran, als ich wahrhaben wollte. Ich weiß jedoch, dass meine Gefühle für sie, was immer nun auch der Auslöser gewesen sein mag, sehr intensiv und aufrichtig waren. Selbst, wenn es nicht die Art von Liebe gewesen sein mag.“
Bereits seit einigen Tagen verzichteten sie auf die räumliche Distanz, indem sie sich auf verschiedene Couchen niederließen. Inzwischen saßen sie stets gemeinsam auf einem dieser Möbelstücke, jeder gemütlich in seiner Ecke, wenn sie sich unterhielten.
„Was ist mit Ihnen?“
Diese Frage, mit der Anaris Ikari im Grunde schon seit mindestens einer Woche rechnete, brachte sie aus dem Konzept. Sie hatte insgeheim gehofft, dass Corvin sie erst während des Urlaubs stellen würde.
Nervös erhob sich die Frau von der Couch und begann damit, in dem geräumigen Wohnraum auf und ab zu schreiten.
Dean Corvin erhob sich nach einem Moment ebenfalls und sah sie abwartend an. Nach einer Weile wurde er ungeduldig und näherte sich Ikari, bis er dicht vor ihr stand.
Für einen langen Augenblick sahen sie sich schweigend an, bevor der Kommandant der NOVA SOLARIS drängender als zuvor fragte: „Was ist nun?“
Anaris Ikari sah in die fragende Miene ihres Gegenübers und sagte erst nach einer Weile rau: „Bevor ich zur Raumflotte ging und meine Ausbildung zum Unteroffizier begann, hatte ich einige flüchtige Beziehungen zu Jungen in meinem Alter. Doch nach meinem Eintritt beim Militär hatte ich mich dann dazu entschieden, auf absehbare Zeit keinen festen Partner haben zu wollen. Ich verschrieb mich stattdessen ganz dem Dienst bei der Raumflotte. Ich wollte mich nie für jemanden verbiegen.“
„Dann verbiege dich gefälligst nicht.“
Anaris bekam nur am Rande mit, dass Corvin sie geduzt hatte. Vielleicht deswegen, weil alle Gefühle, die sich in den letzten achtzehn Monaten mehr und mehr in ihr entwickelt hatten, unaufhaltsam jene emotionale Schutzmauer durchbrachen, die sie seit dem Eintritt in die Raumflotte von Farradeen sorgsam in sich aufgebaut hatte. Ähnlich, wie sie es bereits vor einer Weile, fast an derselben Stelle, getan hatte, nahm sie das Gesicht des Mannes in ihre Hände. Dabei drängte sie sich gegen den harten Körper des Terraners und im nächsten Moment küsste sie ihn, ohne über irgendwelche Konsequenzen nachzudenken. Sie wusste nicht zu sagen, wieviel Zeit vergangen war, als sie sich endlich atemlos von ihm löste. Erst jetzt kam sie wieder dazu, einen bewussten Gedanken zu fassen und beinahe erschrocken sah sie in die grauen Augen des Mannes. Erst jetzt bemerkte sie, dass er seinen linken Arm um ihre Hüften gelegt hatte. Seine Rechte legte sich beinahe gehaucht auf ihre Wange. Ebenfalls erst jetzt realisierte sie, dass er ihren Kuss erwidert hatte.
„Wie lange empfindest du schon so?“, erkundigte sich Corvin beinahe flüsternd und zudem etwas überrascht wirkend.
Ein wenig erleichtert, wegen der ruhigen Reaktion des Kommandanten gab sie zu: „Ich glaube, seit dem Moment, als ich dich, hier im Kreuzer, blutend auf dem Boden liegen sah, nach dem Desaster für unsere Flotten, über dem Mars. Damals war mir, als würde etwas meine Kehle zuschnüren. Ich hätte am liebsten geschrien, doch es ging nicht.“
Dean Corvin nickte in Gedanken. „Das Meiste davon habe ich nicht mitbekommen, weil ich etwas indisponiert gewesen bin. Aber ich glaube Irina hat es mitbekommen. Die würde sich vermutlich totlachen, wenn sie uns jetzt sehen könnte. Vor zehn Tagen erst hat sie mich aufgezogen, weil ich dich täglich im Krankenrevier besucht habe. Sie hat mir dabei ziemlich direkt gesagt, ich würde dich mögen. Nun ja, sie meinte damit mehr als mögen.“
„Und? Ist es so?“
Dean grinste schief. „Hey, ich bin ein Mann. Ich werde das also erst in einer Woche ganz genau wissen. Bis dahin verlasse ich mich auf die Meinung von Irina.“
Anaris gab dem Terraner einen festen Schlag mit der flachen Hand auf die Brust. „Wenn du das schon nicht weißt, dann wirst du mir zumindest sagen können, wie du zum Thema Kinder stehst.“
Unsicherheit spiegelte sich in den grauen Augen des Mannes wider, bevor er entschlossen sagte: „Ich sehe mich nicht als Vater. Das war ein Punkt, der mir bisher immer auf der Seele gelegen hat. Egal, ob zu der Zeit, als ich noch an der Akademie war, oder später dann, bei Rian. Ich glaube nämlich nicht, dass ich zum Familienvater geschaffen bin.“
Zu Dean Corvins gelinder Verwunderung lag eine grenzenlos erleichterter Zug auf der Miene von Anaris, bei diesen Worten.
Ihre nächsten Worte bestätigten das, was Corvin bereits ihren Blicken entnehmen konnte. „Ich will ebenfalls keine Kinder haben, Dean. Ich wollte bisher nicht einmal einen festen Partner haben, doch zumindest in der Hinsicht lasse ich vielleicht mit mir reden.“
Der Major küsste Anaris sanft auf die Lippen und sie erwiderte den Kuss. Diesmal deutlich weniger ungestüm. Danach sah er die Frau in seinen Armen zufrieden an und schlug vor: „Du weißt, dass ich gerade erst eine hochemotionale Beziehung hinter mir habe, Anaris. Lassen wir es darum vorerst noch ruhig angehen. Im Urlaub werden wir dann vielleicht herausfinden, was es ist und ob es irgendwohin führen kann.“
Anaris Ikari streichelte zärtlich den Nacken des Mannes und schmiegte sich an ihn. „Ja, überstürzen wir es nicht und genießen erst einmal den anstehenden Urlaub.“