„Schwester Eleonora, was soll nur aus dir werden?“ Mutter Oberin Margarethe schaute die junge Nonne ernst an. „Zum wiederholten Male bist du der Andacht ohne triftigen Grund ferngeblieben. Außerdem hat sich Schwester Angelika schon wieder über dich beschwert.“
„Mutter“, Eleonora blickte die Oberin offen ins Gesicht. Sie war sich keiner offensichtlichen Schuld bewusst. „Das mit der Andacht kann ich erklären.“ Sie scharrte mit den Füßen auf dem Holzfußboden, um Zeit zum Überlegen einer plausiblen Antwort zu haben. Es war ihr sichtlich unangenehm, von der Äbtissin gemaßregelt zu werden. Zum Glück musste sie diese Prozedur dieses Mal nicht vor allen Mitschwestern über sich ergehen lassen, wie es sonst gang und gäbe war. Seit sie nach ihrem Gelübde aus einem anderen Kloster in dieses übergesiedelt war, hagelte es nur noch Schelte und Strafen. Warum nur ließ sie sich von ihrem Bruder, der auch ihr Vormund war, überreden, in einen größeren Konvent umzuziehen. Nur, weil dies näher an ihrer Heimatburg lag und ihr Bruder es lieber hatte, sie in seiner Nähe zu wissen.
„Lass das Gescharre!“, wurde die Nonne von der Mutter Oberin belehrt. „Ich höre! Ich bin gespannt, welche banale Ausrede du dieses Mal parat hast.“
„Nun ja, es ist ganz einfach. Ich habe die Zeit verpasst, als ich im Wald war und für die Köchin Pilze zum Trocknen gesammelt habe. Es war so schön und besinnlich dort“, bekannte Eleonora reumütig. „Es tut mir sehr leid, es wird nicht wieder vorkommen“, setzte sie noch hintenan.
„Eigentlich solltest du inzwischen wissen, wann die Andachten stattfinden“, rügte die Mutter Oberin. „Du bist schon lang genug bei uns.“ Sie erhob sich aus ihrem Lehnstuhl, der nah am Feuer stand. Ächzend stemmte sich die alte Frau die Fäuste ins Kreuz, das an einem regnerischen Tag wie diesem, mehr schmerzte als sonst. Das Alter, und auch das Wetter, machten ihr zu schaffen. Die Jahre meldeten sich seit einiger Zeit immer öfter. Es verging fast kein Tag, an dem sie nicht unter Schmerzen in den Knochen oder anderen altersbedingten Wehwehchen litt. „Du bist zwar erst vor einigen Wochen zu uns gewechselt. Aber du hast bereits dein Gelübde abgelegt. Daher nehme ich aus guten Gründen an, dass dir die Regeln des Konvents geläufig sein sollten. Wie es scheint, ist dir dies immer noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen.“ Sie blickte Eleonora ernst an. „Das muss sich ändern! Und wenn ich dir die Regeln persönlich mit der Knute einbläuen lasse!“
„Ich sagte schon, Mutter, es tut mir leid“, bekannte Schwester Eleonora nochmals reumütig tuend. In Wirklichkeit ging ihr die Gängelei schon längst auf den Nerv. Seit sie hier war, fühlte sie sich nicht mehr wohl. Es war so anders als in dem Konvent, in dem sie ihre Zeit als Novizin verbracht und nach Jahren des Lernens auch ihr Gelübde abgelegt hatte. In dem Stift hier waren viele der Schwestern abweisend, einige von ihnen sogar feindlich gesinnt. Woran das lag, konnte sie bisher noch nicht in Erfahrung bringen. Keine wollte mit ihr über den Grund sprechen, auch die Äbtissin nicht. Entweder wusste diese nicht Bescheid, oder sie schwieg sich darüber aus.
„Zügele deine Zunge, du vorlautes Gör“, schnappte die Mutter Oberin. „Zur Strafe wirst du die nächsten drei Nächte betend in der Kapelle verbringen. Das Abendessen wird an diesen Tagen ausfallen.“
„Aber…“
„Schweig still“, schimpfte die alte Äbtissin und wechselte das Thema. „Was hat es mit Schwester Angelika auf sich? Sie beschwerte sich über dich, dass du ihren Anweisungen nicht folgst.“ Mit schlurfenden Schritten ging sie in ihrer Zelle hin und her. „Nun!“, wandte sie sich an Eleonore und sah sie strafend an.
„Ich sehe nicht ein, immer nur niedere Arbeiten ausführen zu müssen. Friedberta ist genauso lange wie ich hier und muss das nicht tun.“ Eleonora schaute die Oberin trotzig an.
„Du wagst es, dich zu wiedersetzen!“, fuhr die Äbtissin die junge Nonne an. „Mit deinem Eintritt in unser Kloster hast du geschworen, alles zu tun, was dir befohlen wird. Und so lange du dich nicht vollends in unsere Gemeinschaft eingefügt hast, wirst du tun, was ich oder die anderen älteren Schwestern dir auftragen! Du bist zwar die jüngste Nonne in unserem Konvent, aber das heißt nicht, dass du deswegen einen Freifahrtschein hast und tun und lassen kannst, was du willst. Auch du hast dich an die Regeln zu halten und dich einzufügen wie jede andere auch!“ Die Äbtissin war wütend und konnte sich kaum noch zurückhalten. Am liebsten hätte sie ihrem Gegenüber ins Gesicht geschlagen. Aber andere zu züchtigen, sah sie als allerletzten Ausweg. Daher riss sie sich zusammen. Doch sie ballte ihre Fäuste und versteckte diese in ihrem weiten Gewand. Während sie versuchte, sich zu beruhigen, setzte sie ihre Wanderschaft im Raum fort. Am Fenster blieb sie stehen und blickte nachdenklich hinaus. „Was soll ich nur mit dir tun?“, sprach sie wie zu sich selbst.
Eleonora fühlte sich angesprochen. „Bestraft mich. Es wird nur nichts bringen. Solange Friedberta besser behandelt wird als ich, werde ich immer aufmüpfig sein. Wir sind eines Standes und sie ist nicht besser als ich. Sie ist genauso eine einfache Nonne wie ich… Ihr sagtet immer, wir wären alle gleich.“ Das Mädchen redete sich in Rage. Trotzig blickte sie die Klostervorsteherin an.
„Du wagst es!“, fuhr die Äbtissin hoch. „Die nächsten zwei Wochen wirst du nicht an den gemeinsamen Mahlzeiten teilnehmen, sondern allein in deiner Zelle speisen. Zu den Andachten wird dein Platz beim Gesinde sein. Außerdem wirst du täglich die Abtritte der Nonnen reinigen, sowie die Böden in der Küche und im Speisesaal schrubben. Danach gehst du dem Knecht bei den Tieren zur Hand. Dabei hast du genügend Zeit, über deine Sünden nachzudenken und Buße zu tun. Deine freie Zeit wirst du betend in der Kirche verbringen. Vielleicht siehst du dann endlich ein, dass du zu gehorchen hast!“ Die Mutter Oberin nahm ihren Weg wieder auf. Abrupt blieb sie vor Eleonore stehen und blickte in deren das von Wut gezeichnete Gesicht. „Und damit du endlich deine Zunge zu zügeln lernst, wirst du während deiner Buße schweigen.“
„Das könnt Ihr nicht tun“, schrie Eleonora empört auf.
„Doch, das kann ich!“, widersprach die Äbtissin. „Und nun geh mir aus den Augen und an deine Arbeit, ehe ich mich doch noch vergesse!“
Eleonora erkannte, sie hatte verloren. Artig knickste sie und verließ ohne ein Wort des Grußes die Zelle der Mutter Oberin. Nur die Tür laut hinter sich zuzuschlagen ließ sie sich nicht nehmen.
„Das wird sie bereuen“, sprach Eleonora leise zu sich selbst, nachdem sie die Standpauke hinter sich gebracht hatte. Schon arbeitete ihr Hirn, sie schmiedete Rachepläne. Doch ehe sie diese ausführen konnte, musste sie sich fügen und tun, was ihr befohlen wurde.
Die nächsten beiden Wochen verhielt sich Eleonora still. Sie verrichtete ihre Arbeit ohne Tadel, obwohl die eine oder andere Mitschwester sie striezte, nur um sie zu ärgern. In ihrem Inneren brodelte es. Am meisten vermisste sie die Plaudereien mit den beiden Nonnen, mit denen sie sich ein wenig angefreundet hatte und oft die frei zur Verfügung stehende Zeit verbrachte. Die beiden fehlten ihr sehr, da sie die einzigen waren, denen sie sich anvertrauen konnte. So sehr sie sich auch bemühte, sie gingen ihr aus dem Weg. Wahrscheinlich hatte die Mutter Oberin ihnen strengstens befohlen, kein Wort mit der aufmüpfigen Ordensschwester zu wechseln. Da die meisten der anderen lieber den einfachen Weg gingen und brav das taten, was von ihnen verlangt wurde, war Eleonora ganz auf sich allein gestellt. Die Mahlzeiten verbrachte sie in ihrer Zelle, die sie seit einiger Zeit mit ihrer Mentorin Schwester Sieglinde teilte.
Auch Sieglinde ließ sich nicht dazu hinreißen, mit Eleonora zu sprechen. War sie in ihrer Zelle, schlief sie entweder, las in ihrer Bibel oder betete. Die meiste Zeit jedoch verbrachte die Mentorin in der Küche, der sie vorstand.
Nur wenn die Nonne Befehle erhielt, wurde ein Wort an sie gerichtet. Sprechen durfte sie nicht. Tat sie es doch, wurde sie sofort aufs strengste bestraft. Von den anfangs vielen Schlägen schmerzte ihr Rücken, das Knien auf dem harten Boden beim Beten oder Wischen verursachte ihr Pein, doch sie ertrug es tapfer. Kein Wort der Klage kam über ihre Lippen. Die Haut an den Knien war inzwischen wundgescheuert. Auch die Ringelblumensalbe, die sie sich von der Apothekerin hatte geben lassen, half nicht mehr.
Mittlerweile war sie so weit, aufzugeben und reuig vor die Mutter Oberin zu treten, um nochmals aufrichtig um Verzeihung zu bitten. Doch die Äbtissin wies sie immer wieder ab, was Eleonora noch mehr schmerzte.
Fast jede Nacht lag Eleonora sehr lange wach und überlegte. Die drei Nächte, die sie betend in der Kapelle verbringen musste, hatte sie ohne weiteres auf sich genommen. Es tat ihr sogar gut, ins Gebet vertieft, ihren Gedanken nachgehen zu können. Selbst die nächtliche Kälte hatte ihr nichts ausgemacht. Doch das Sprechverbot und die harten Strafarbeiten nagten sehr an ihr. Sie fühlte sich ausgegrenzt und gemieden.
Eines Nachts, Eleonora war wieder erst sehr spät eingeschlafen, träumte sie von einem kleinen verlassenen Schlösschen in den Bergen, etwa eine halbe Tagesreise vom Kloster entfernt.
Als sie aufwachte, erinnerte sie sich an den Traum. Eleonora begann zu überlegen. „Was, wenn ich eine Flucht wage? Weg von hier, den vielen Gebeten und Geboten? Ich halte es hier nicht mehr aus. Dann lieber irgendwo allein leben als in dieser Hölle.“ Sie setzte sich auf und starrte auf das Kreuz, das über der Tür hing und sie stetig daran erinnerte, dass sie sich in einem sehr gottesfürchtigen Haus befand. „Das Schloss ist zwar nur noch eine Ruine, aber einen Ort wird es dort schon noch geben, wo ich Unterschlupf finden kann“, machte sie Selbstgespräche.
Sie kannte es aus ihrer Kindheit, wo sie mehrmals ein paar Tage mit ihrer Mutter dort verbrachte. Das Schlösschen gehörte zur Mitgift ihrer Mutter und wäre, nachdem diese von ihr gegangen war, auch ihre Mitgift gewesen, wenn sie sich nicht für ein Kloster hätte entscheiden müssen. So ging es erst in den Besitz ihres Vaters über und nach dessen Tod in den ihres Bruders Elmar, des jungen Grafen von Hohenberg.
Eleonoras Vater nutzte es manchmal als Jagdschloss und übernachtete dort mit seiner Jagdgesellschaft, wenn der Tag zu weit fortgeschritten war, um sicher nach Hause zurückkehren zu können. Jedoch nachdem ihre Mutter verstorben war, blieb es ungenutzt und verkam. Ihr Bruder hatte kein Interesse daran. Niemand interessierte sich dafür, auch Pächter nicht. Es war zu abgelegen und zu schwer zu erreichen. Gesinde gab es dort schon längst nicht mehr. Das war zur Hauptburg gewechselt. Außerdem lag das Anwesen abgelegen genug, um bestens als Versteck zu dienen.
Voller Elan sprang die Nonne Eleonora von ihrem Bett auf. Das könnte es sein! Weg aus dem Kloster in ein freies Leben! Den Weg dazu würde sie schon finden.