Eleonora saß schon einige Zeit auf der Bank am Brunnen und hing ihren Gedanken nach. Sie blickte zurück zum Kloster, das sie erst vor wenigen Tagen verlassen hatte. Obwohl es ihr nicht einerlei war, in dieser Einöde völlig allein zu sein, war sie froh, den strengen Regeln des Konvents entflohen zu sein. Ihr kam es vor, als wäre sie schon ewig weg. Dabei war es erst Vorgestern gewesen, dass sie das Leben als Nonne hinter sich gelassen hatte. Nun würde mit der Ankunft im Bergschlösschen ein neuer Lebensabschnitt beginnen. Der Weg hierher war beschwerlich. Doch nun war sie angekommen und musste das Beste daraus machen.
Sie schaute sich um und wurde traurig. Wie nur konnte es sein, dass die Mitgift ihrer Mutter so verkommen konnte. Als sie als Kind hier gewesen war, war das kleine Bergschloss ein ansehnlicher Besitz gewesen. Nun war es verkommen, das Palas war eine Ruine und unbewohnbar. Das Dach war eingefallen. Einige Balken des Dachstuhls ragten wie Finger mahnend in die Höhe. Die Natur hatte sich teilweise wieder erobert, was ihr vor vielen Jahren geraubt wurde. Nur die Außenmauer und die beiden Türmchen, die an zwei Seiten ins Tal hinab als Ausguck dienten, trotzten dem Zahn der Zeit.
Ihrem Bruder Elmar machte sie am meisten Vorwürfe. Er achtete sein Erbe viel zu wenig und ging lieber seinen Interessen nach, anstatt sich um den Erhalt zu kümmern. Dabei wäre es ein Leichtes gewesen, Eleonora zu erlauben, bis zu einer Heirat hier zu leben. Aber nein, er musste sie ins Kloster abschieben und ihr weiß machen, es wäre ihre eigene Entscheidung gewesen. Was für ein Halunke war Elmar nur, ihr so etwas anzutun.
Doch auch ihr Vater vernachlässigte das Anwesen nach dem Tod ihrer Mutter, ihr Bruder allerdings ließ es vollends verkommen. Nun war so gut wie nichts mehr zu retten. Wenn sie Glück hatte, konnte sie eines der kleinen Nebengelasse bewohnen. Wenn nicht, wusste sie erst einmal auch nicht weiter. Dann müsste sie weiterziehen und woanders ihr Glück versuchen. Zu ihrer Heimatburg, in der Elmar lebte, konnte sie nicht. Der Bruder würde sie kurzerhand ins Kloster zurückbringen und das war das letzte, was sie wollte. Natürlich könnte sie verlangen, in einen anderen Konvent einzutreten. Aber dann wäre sie erneut den strengen Regeln ausgesetzt. Das wollte sie nicht mehr, nachdem sie sich die Freiheit um die Nase hatte wehen lassen. Dann lieber ein Leben in Armut.
Die junge Frau erhob sich von ihrer Bank. Sie musste etwas tun, um hier heimisch werden zu können. Untätig herumsitzen brachte sie nicht weiter. Den Zahn, in diesen Gemäuern etwas Essbares zu finden, konnte sie sich ziehen. Als erstes musste sie sich darum kümmern, ein festes Dach über dem Kopf zu haben.
Neugierig ging Eleonora über den kleinen Hof. Das Palas als Unterkunft konnte sie vergessen, stellte sie schnell fest. Das Dach war nicht mehr zu gebrauchen. Es war vollends eingestürzt und die meisten Balken lagen am Boden der Halle. Irgendwelche Tiere hatten sich auf dem Hallenboden verewigt. Es stank gewaltig nach Exkrementen und Urin.
So ging sie weiter und inspizierte jeden einzelnen Raum. Doch nichts war mehr dazu geeignet, bewohnt zu werden. Erst als sie in die Küche kam, wurde sie fündig. Das kleine Häuschen, in dem die Küche untergebracht war, war zwar auch heruntergekommen, aber bewohnbar. Das Dach wies einige kleine Löcher auf, war aber ansonsten fast vollständig intakt. Die Löcher konnte sie vorerst mit Stroh schließen. Der Kamin schien noch benutzbar zu sein. Sogar Töpfe und Pfannen, sowie ein kleiner Tisch mit einer Bank waren noch vorhanden. Eleonora kontrollierte jede Ecke und fand den Zugang zur Vorratskammer, die mit Wachsdecken fast hermetisch verschlossen war.
Sie öffnete die Tür und betrat die Kammer. Es war trocken und roch nach Kräutern. Auf den Regalen standen große Tontöpfe mit Deckeln. In einen der Töpfe schaute sie hinein. Er enthielt eingelegtes Gemüse. Eleonora frohlockte. Ob der Inhalt noch essbar war? Sie kostete vorsichtig. Es war Kohl und schmeckte vorzüglich.
„Gott sei Dank“, stieß Eleonora aus. „Wenn der Inhalt des einen Topfes noch genießbar ist, dann sind es die anderen bestimmt auch.“ Da sie wusste, das Eingemachte durfte nicht geöffnet werden, bis es gebraucht wurde, unterließ sie es, in den anderen Töpfen nachzuschauen. Wenn sie Glück hatte, fand sie später sogar noch eingesalzenes Fleisch. Daraus könnte sie sich einen Eintopf kochen.
Eleonora erinnerte sich daran, dass das Schlösschen auch über einen Weinkeller verfügte. Sie wusste nur nicht mehr, wo sich dieser befand. Als Kind durfte sie diesen unter keinen Umständen betreten. Daher machte sie sich auf die Suche. Nach einer Weile fand sie im Hof eine Tür in einem Erdhügel, hinter der Treppen in die Tiefe führten. Nachdem sie sich eine Fackel entzündet hatte, stieg sie die steil nach unten führenden Stufen hinab. Es roch muffig und es war kühl. Ob dies der gesuchte Weinkeller war? Als sie um eine Ecke bog, sah sie große Fässer nebeneinander an der Wand aufgereiht. Am liebsten hätte die junge Frau einen Freudenjauchzer ausgestoßen. Doch noch war kein Grund zur Freude.
Sie klopfte am ersten Fass, es klang leer. Das Öffnen des Zapfhahnes brachte Gewissheit. Nur ein kleines Rinnsal an Wein kam heraus. Das nächste war auch leer, so alle Fässer, die sie fand. „Ich kann nicht alles haben“, sagte sie sich. „Ich kann mich glücklich schätzen, hier ein intaktes Dach über dem Kopf gefunden zu haben. Bin ich lieber dankbar, anstatt zu hadern.“
Als nächstes schaute sie sich in den Schlafgemächern im Haupthaus um. Doch dort war außer zusammengefallenen und verrottenden Betten nichts zu finden, die sie allerhöchst noch als Brennholz verwenden konnte. Allerlei Gerümpel lag herum. Es hätte sein können, dass… aber das war leider nur ein Wunschtraum. Von Komfort würde sie in der nächsten Zeit wohl nur träumen können. Glücklicherweise hatte Eleonora Leinen und Nähzeug aus dem Kloster mitgenommen. Damit würde sie sich einen Sack zusammennähen und diesen mit Stroh füllen, sollte sie welches finden. Eine Ecke in der Küche wäre dann ihr Nachtlager. Im Ganzen war die Küche der einzige Raum, in dem sie sich ohne Gefahr aufhalten konnte, ohne dass sie Angst haben musste, dass ihr das Dach über dem Kopf zusammenstürzte.
Im Stall fand Eleonora noch Stroh, das sie verwenden konnte. Es roch zwar auch ein wenig muffig, war aber trocken. Sie setzte ihr Vorhaben um und fertigte als erstes einen Strohsack, auf dem sie schlafen konnte. Als Zudecke würde sie zuerst ihren Umhang verwenden. Das musste anfangs genügen.
Vor Aufregung hatte sie vergessen, dass sie an diesem Tag noch gar nichts gegessen wurde. Als Eleonora auf den Hof hinaustrat, setzte bereits die Dämmerung ein. Zeit, sich für die Nacht vorzubereiten. Sie musste sich beeilen, denn Kerzen oder Talglichter hatte sie keine.
Ihr Wasserschlauch musste gefüllt werden. Daher ging sie zum Brunnen, um welches zu schöpfen. Doch der Ledereimer war durchlöchert. Mit diesem würde sie kein Wasser mehr zutage fördern. Nur das Seil war noch brauchbar. Deshalb ging sie in die Küche und suchte einen geeigneten Topf. Schon bald war ihr Wasserschlauch prall gefüllt und sie konnte sich daran machen, das Abendessen vorzubereiten.
In ihren Magen grummelte es, die Gedärme zogen sich vor Hunger zusammen. Um nicht übermäßig viel essen zu müssen, trank sie vorher ein paar Schlucke Wasser aus ihrem Schlauch. Wer weiß, wann sie die Möglichkeit hatte, sich Lebensmittel zu besorgen, denn ihre Vorräte würden nicht ewig halten. Sie holte sich etwas Kohl und aß diesen kalt zu Brot und etwas Käse. Ein einfaches, aber köstliches Mahl, das sättigte.
Eleonora begann es zu frösteln. Ob sie es wagen sollte, im Küchenkamin ein Feuer zu entzünden? Wer weiß, wie kalt es in der Nacht werden würde. Außerdem würde ihr die Flamme des Feuers auch ein wenig Licht liefern, zwar nur wenig, aber das war besser als gar nicht. Frieren wollte sie ebenfalls nicht. Schnell hatte sie mit Zunder und einem Feuerstein eine kleine Flamme entzündet, die sich schnell in das trockene Holz fraß. Zum Glück war der Kamin nicht verstopft, sodass der Rauch gut abzog. Als sie in der Esse nach oben schaute, entdeckte sie etwas darin. Was das wohl war? Sie wusste es nicht. Auch konnte sie es nicht richtig erkennen. Der Rauch nahm ihr die Sicht. Morgen früh, wenn der Kamin wieder kalt war, wollte sie nachschauen.