Eleonoras Flucht vom Wagen der Mönche wurde nicht sofort bemerkt. Erst als die Brüder einige Stunden später eine Rast einlegen wollten, fiel ihr Fehlen auf.
„Du musst doch registriert haben, dass diese eigenartige Nonne vom Wagen gefallen ist. So etwas geht nicht ohne einen Laut vonstatten“, fuhr einer der Ordensbrüder den Kutscher an. „Du hast bestimmt wieder geschlafen!“ Er überlegt kurz. „Wie konnte das nur geschehen? Einfach so fällt ein Mensch nicht über die Planke. Es sei denn, sie ist… aber das kann nicht sein. Wer entführt schon eine Nonne? Garantiert hätte sie sich bei dem Übergriff gewehrt und das wäre nicht ohne Geräusche vor sich gegangen.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber dass sie geflohen ist, nein, glaube ich auch nicht. Warum sollte sie das Weite suchen?“
„Ich habe wirklich nichts bemerkt“, beteuerte der Fuhrmann. „Die Frau war ruhig. Anfangs versuchte sie, mit mir zu reden. Aber da ich Anweisung bekommen habe, nicht auf Ansprachen zu reagieren, tat ich es auch nicht. Dann war sie plötzlich still. Ich dachte, sie war eingeschlummert und nun ist sie weg. Einfach so!“ Der Mann weinte fast. Er riss das von Eleonora zurückgelassene Bündel hoch und zeigte es allen. „Schaut, ihr Gepäck ist noch hier. Weit kann sie nicht sein“, jubilierte er. „Vielleicht ist sie doch entführt worden, wenn alles andere von ihr noch da ist, oder sie musste mal und hat dann den Anschluss an die Kolonne verpasst“, mutmaßte er. Alle anderen stimmten ihm zu. Einen Grund musste das Verschwinden Eleonoras haben. Und sie mussten diesen herausfinden.
„Suchen wir sie und beten wir, dass ihr nichts Schlimmes geschehen ist“, befahl ihr Anführer.
So machten sich die Brüder auf, um Eleonora aufzuspüren. Sie schauten hinter jeden Busch, in jede Kuhle. So sehr sie sich auch abmühten, die Suche war erfolglos und sie mussten ohne die abtrünnige Nonne weiterziehen. Gern taten sie es nicht, doch es blieb ihnen nichts anderes übrig. Sie mussten unbedingt ihren Weg fortsetzen, denn schon in einigen Tagen wurden sie in ihrem Kloster erwartet, da die Wahl eines neuen Abtes anstand. Der alte war ganz plötzlich verstorben und nun stand das Mönchskloster ohne Führung da.
„Was sollen wir nur der Äbtissin des Stifts in Bamberg sagen“, jammerte der ranghöchste Bruder. „Und was soll Mutter Oberin Margarethe von uns denken, dass wir ihren Schützling verloren haben.“ Doch alles Klagen nutzte nichts. Eleonora war und blieb wie vom Erdboden verschluckt.
Anfangs schaute sich Eleonora immer wieder um und spähte vorsichtig in jede Richtung. Jedes noch so leise Knacken ließ sie aufschrecken. So allein im Wald war schon beängstigend für sie. Vor allem, wenn man es gewohnt war, ständig mit anderen Menschen zusammen zu sein. Bisher war sie seit ihrem Eintritt ins Kloster keinen einzigen Tag allein.
Aber dann stieg ihr Mut und sie schritt schnell voran, ohne weiter auf die Geräusche um sie herum zu achten. Allerdings blieb sie mehr im Schutz der Büsche, die am Waldrand wuchsen und die Straße vom Wald trennten. Sie fand dies sicherer, da sie bei drohender Gefahr schnell in ein Versteck flüchten konnte.
Schon nach einigen Minuten begannen die Gurte ihres schweren Bündels zu drücken. Eleonora hatte die Last wohl doch überschätzt und zu viel eingepackt. Immer wieder ruckte sie es hin und her, bis sie eine bequemere Lage gefunden hatte. Doch nach einer Weile begann es von vorne. Etwas dagegen tun konnte sie nicht. Also gab sie sich damit ab und nahm es in Kauf. Wollte sie schnell im Bergschlösschen ankommen, konnte sie sich nicht mit solchen Nichtigkeiten aufhalten.
Es war seit ihrer Flucht vom Wagen der Mönche schon einige Zeit vergangen. Die Sonne strebte dem Zenit zu, es war wärmer geworden. Eleonora schwitzte in ihrem Umhang. Daher legte sie ihn ab und band ihn an ihr Bündel. In der ungewohnten Kleidung fühlte sie sich unwohl, ja sogar wie nackt. Der weite, alles verhüllende Habit, den sie in den letzten Jahren getragen hatte, war ihr wohl doch lieber. Wie gut, dass wenigstens ein Tuch ihr Haar verhüllte.
Da Eleonora auf der Straße schon lange keinen Wanderer, Reiter oder Pferdewagen gesehen hatte, wagte sie es nun doch, den Fahrweg zu benutzen. Hier kam sie schneller voran und musste nicht ständig durchs Unterholz kriechen oder umständlich Hindernisse umrunden.
Obwohl sie völlig allein war, war sie immer auf der Hut. Jederzeit konnte ein Vagabund aus dem Dickicht hervorpreschen und sie überfallen, oder ein Räuber auf einem Pferd sie einholen. Am meisten Furcht hatte sie davor, erkannt zu werden und Fragen beantworten zu müssen, die sie nicht beantworten wollte. Sie sah aber ein, sich Gedanken um ungelegte Eier zu machen, war unsinnig. Daher richtete sie ihr Augenmerk nach vorn und daran, so schnell wie möglich das schützende Bergschlösschen zu erreichen. Der Weg war noch weit und je zügiger sie vorankam, desto besser war es für sie. Im Schlösschen wäre sie vorerst in Sicherheit, während auf der Straße ständig Gefahren lauerten, die sie nicht einschätzen konnte.
Bald schon verspürte Eleonora Hunger. Laufen machte hungrig. Es war bereits mittags und seit dem Morgenmahl hatte sie nichts mehr zu sich genommen. Sollte sie eine Rast einlegen, oder doch lieber noch weitergehen und erst am Abend essen, wenn sie ein geeignetes Lager für die Nacht gefunden hatte. Sie entschied sich für den Abend und ignorierte den knurrenden Magen.
Als ihre Gedanken erneut beim Punkt Nacht Halt machten, wurde sie stutzig. Dass sie irgendwo übernachten musste, hatte sie bisher noch gar nicht in Erwägung gezogen. Im Wald wäre es wohl am besten. Aber dort es gab wilde Tiere, die ihr gefährlich werden könnten. In einem Gasthaus war es unmöglich, da sie kein Geld besaß, mit dem sie die Übernachtung zahlen konnte. Dafür zu arbeiten, fiel aus. Es war zu gefährlich. Am besten wäre, sie fände irgendwo eine Scheune, einen Heuschober oder Ähnliches in der Nähe eines Bauernhofes. Sich heimlich in die Scheune zu schleichen, wäre wohl besser als unter freiem Himmel schlafen zu müssen. Sicherer wäre es allemal, auch wenn der Bauer nichts von ihrer Anwesenheit wusste. Schnell flüchten konnte sie immer noch, falls dieser sie wider Erwarten entdecken sollte. Außerdem waren die Nächte im Mai teilweise noch empfindlich kalt. Auf dem Boden schlafen zu müssen, widerstrebte ihr. Doch wenn sie nichts anderes fand, musste sie wohl oder übel auf dem Waldboden ein Lager richten und hoffen, die Nacht ohne Blessuren zu überstehen.
Eleonora lief und lief, bis ihr die Füße schmerzten. Auch ihr Rücken und die Schultern taten weh vom Gewicht ihres Gepäcks. Einige Male war sie in die Büsche gesprungen, wenn sie von Weitem Leute kommen sah. Dann drückte sie sich eng an den Boden oder verbarg sich im Gestrüpp. Die Passanten hatten sie zum Glück noch nicht gesehen und gingen an ihrem Versteck vorbei, ohne dass sie die Heimlichtuerin bemerkten. Jedes Mal klopfte ihr Herz vor Aufregung so laut, dass sie annahm, die Vorbeigehenden würden es hören können. Am liebsten hätte sie sich dann im Boden verkrochen. Das Dickicht jedoch bot ihren genügenden Schutz.
Als es Abend wurde, machte sich Eleonora auf die Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Sie befand sich in der Nähe eines Dorfes, das sie nicht kannte, oder sie erinnerte sich nicht mehr daran. Daher war sie vorsichtig, um von den Bewohnern nicht entdeckt zu werden. Am Rand einer Wiese fand sie einen Heuschober, auf dem noch Heu vom Vorjahr gelagert wurde. In die direkte Nähe des Dorfes wagte sie sich nicht. Sie sah dort viele Fremde, die wohl in einer Schenke am Dorfrand übernachten wollten. Dabei könnten auch Leute sein, die sie kannten. Wie Recht sie damit hatte, ahnte sie nicht.
So machte es sich Eleonora im Heuschober bequem. Sie kroch bis in die Mitte und fand dort eine Kuhle, die wohl von schutzsuchenden Tieren oder auch von Menschen benutzt worden war. Es war gemütlich und auch warm. Eleonora breitete ihren Umhang aus und setzte sich darauf. Zum Schlafen würde sie sich darin einwickeln und hoffentlich eine gute Nacht verbringen.
Der Hunger rumorte in Eleonoras Gedärm. Sie packte ihren Proviant aus, schnitt sich eine Scheibe Brot ab, auch der Käse und etwas Schinken mussten dran glauben. Dann labte sie sich daran. Die Wasserflasche hatte sie sich erst am Bach gefüllt. So konnte sie auch ihren Durst stillen.
Draußen wurde es nun gänzlich dunkel. Die Geräusche des nahen Waldes waren beängstigend. Eleonora aber verspürte keine Furcht mehr. Sie fühlte sich in ihrem Versteck sicher. Der volle Bauch machte sie müde. Auch der lange Weg, den sie zurückgelegt hatte, hatte sie schläfrig gemacht. Die Füße taten ihr weh. Sie zog ihre Schuhe aus und massierte die Fußsohlen. Wohlig seufzte sie über die Entspannung. Aber dann überwältigte sie die Müdigkeit noch mehr. Die junge Frau packte ihren Proviant in ihr Bündel, zog sich die Schuhe wieder an und wickelte sich in ihren Umhang. Kaum lag in ihrer kuscheligen Kuhle, fielen ihr auch schon die Augen zu.
Die Nacht war angenehm für Eleonora. Trotz der ungewohnten Geräusche um sie herum, schlief sie gut und erwachte am nächsten Morgen frisch und ausgeruht. Sie stellte fest, sie hatte besser geschlafen als im Kloster. Scheinbar war die frische Luft und das viele Laufen der Auslöser dafür. Ein paar Muskelschmerzen in den Beinen plagten sie, doch das übersah sie einfach.
Sie kroch aus dem Schober und schaute sich vorsichtig um. Die Sonne ging gerade auf und im nahen Dorf war es noch still. Aus einem der Ställe hörte sie das Wiehern eines Pferdes. Ein Hahn krähte, ansonsten waren nur die Vögel zu hören, die im Wald mit ihrem Gesang den neuen Tag begrüßten.
Eleonora richtete sich ihr Haar und band das Tuch wieder darüber. Danach nahm sie ein kleines Frühstück ein, dessen Zutaten dieselben waren wie die vom Abendessen des Vortags.
Dann machte sie sich auf den Weg. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ sie den Ort ihres Nachtlagers. Wie nah sie den Mönchen gekommen war, die sie zum Stift nach Bamberg bringen sollten, war ihr nicht bewusst. Die hatten im Dorf in der Gastwirtschaft übernachten müssen, nachdem eines der Zugpferde ein Hufeisen verloren hatte und eines Schmiedes bedurfte, der den Schaden beheben musste. Als der Schmied mit seiner Arbeit fertig war, war es bereits zu spät zum Weiterreisen. Zum Glück hatten die Klosterbrüder nicht weiter nach Eleonora gesucht. Dass sich ihr Schützling in ihrer Nähe befand, ahnte kein Einziger von ihnen. So konnte die davongelaufene Nonne ihren Weg unbehelligt fortsetzen und die Mönche tappten weiterhin im Dunkeln.