Am nächsten Morgen inspizierte Eleonora das gesamte Gelände. Wie sie schon am Vorabend festgestellt hatte, waren Palas und Haupthaus unbewohnbar. Es wieder instand zu setzen war unmöglich. Eleonora machte sich nichts vor. Solange sie über keine Geldmittel verfügte und keine Hilfe hatte, musste sie mit dem vorliebnehmen, was sie vorfand und was noch einigermaßen benutzbar war.
Im Garten fand sie Beete vor. Sie waren von Unkraut übersät und ungepflegt. Doch dann machte sie eine Entdeckung. Sie fand ein Beet mit wilden Möhren. Noch waren nur die Spitzen des Grüns zu sehen. Aber bald, in ein paar Wochen, könnte sie die Möhren ernten. Ein freudiger Anblick. Wenn sie Glück hatte, konnte sie genug ernten und für den Winter in Sand betten. Dann hatte sie auch in der kalten Jahreszeit frisches Gemüse.
Der Hof war in genau solch einem schlechten Zustand. Das Pflaster war herausgebrochen, oder nur noch teilweise vorhanden. Wahrscheinlich hatten sich die Bewohner eines Dorfes oder einer Burg daran gütlich getan und mitgenommen, was mitzunehmen ging.
Der Stall war noch einigermaßen in Schuss. Das machte sie stutzig. Gerade das Stallgebäude, das mehr genutzt wurde, war in Ordnung. In der Scheune dahinter fand sie noch mehr Stroh, ebenfalls ein wenig muffig, aber noch zu benutzen.
Landwirtschaftliche Geräte waren auf einer Seite aufgereiht. Eleonora entdeckte einen einfachen Pflug. Hacken, Spaten und Äxte hingen an den Wänden. Auch eine Egge war vorhanden. Alles Dinge, die sie für den Garten benutzen konnte, um Gemüse, Kohl oder Ähnliches anzubauen.
In einem Holzblock steckte eine Axt, als wäre sie eben erst dort hineingeschlagen worden. Gespaltene Scheite für den Kamin lagen daneben. Das Holz war trocken. Es sah so aus, als wäre die Örtlichkeit vor kurzer Zeit verlassen worden.
Eleonora durchsuchte die Scheune. Auf der Tenne entdeckte sie eine Decke, fein säuberlich und akkurat zusammengelegt. Ihr Verdacht, dass hier jemand lebte, verstärkte sich.
An einem Balken hingen ein sauberes Männerhemd und Hosen. Wem das wohl gehörte? Sie wusste es nicht. Als sie sich noch mehr umschaute, sah sie einen kleinen Schrank, in dem Brot, Käse und Eier lagerten. Die Lebensmittel waren noch recht frisch. Also musste vor Kurzem, womöglich sogar in der Nacht jemand hier gewesen sein. Hier hatte sich wirklich jemand einquartiert! Da war sie sich sehr sicher. Eleonora bekam einen Schreck. Doch dann dachte sie, wenn jemand nachts hier gewesen war und sie nicht entdeckt hatte, war sie nicht in Gefahr.
Die junge Frau packte alles zusammen und nahm es mit nach unten in ihre Unterkunft. Vor allem Hose und Hemd könnten ihr nützlich sein. Sie hatte nur sehr wenig Kleidung und Männersachen waren besser als gar nichts.
Als Eleonora zurück in die Küche ging, trat von ihr unbemerkt ein junger Mann in den Hof. Gerade noch konnte er sich verstecken, sonst hätte die Frau ihn sehen können. Er war seit dem Vortag unterwegs gewesen und hatte im Wald übernachtet, da es für einen Aufstieg zum Schlösschen zu spät war. Somit hatte er Eleonoras Ankunft nicht bemerkt. Desto erschrockener war er, die ihm scheinbar fremde Frau hier anzutreffen.
Er presste sich in eine Nische im Tor und spähte in Richtung Küchenhaus. Vor Aufregung klopfte sein Herz heftig.
„Wer ist das? Und wo kommt die Frau plötzlich her?“, fragte er sich. Obwohl er sie nur ganz kurz gesehen hatte, kam sie ihm bekannt vor. Woher er sie kannte, entzog sich derzeit leider seiner Kenntnis. Aber er würde es schon noch erfahren.
Als Eleonora einige Zeit im Haus war, schlich er näher und spähte zum offenen Küchenfenster hinein. Die Frau bereitete sich eine Mahlzeit zu. Sie stand mit dem Rücken zu ihm am Kamin. Ein paar Eier – seine gestohlenen Eier – brutzelten mit etwas Speck, den sie im Kamin geräuchert gefunden hatte, in einer Pfanne. Ein herrlicher Duft zog durch das geöffnete Fenster zu dem Heimlichtuer. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Am liebsten wäre er in die Küche gestürmt und hätte sich über die Eier hergemacht, so sehr knurrte ihm mit einem Male der Magen. Doch solange er nicht wusste, wer die Frau war, konnte er es nicht riskieren, sie kennenzulernen und zur Rede zu stellen. Zu groß war die Gefahr, dass sie ihn an seinen Herrn verriet.
Eleonora stellte die heiße Pfanne auf den Tisch. Sie nahm sich ein Brettchen vom Regal, brachte Brot und Käse. Dann setzte sie sich und begann zu essen.
Der heimliche Beobachter konnte sie nun von vorn sehen. Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Vor Erstaunen hätte er beinahe laut aufgeschrien. Das war doch die Schwester seines Herrn, Elmars von Hohenburg. Wie kam die hierher? Und was tat sie hier? Ob sie ihn suchte? Wenn ja, warum.
Abrupt stieß sich der Mann von der Wand ab. Dabei stolperte er über den großen Topf, der unter dem Fenster stand, worauf dieser umstürzte. Das verursachte einen Heidenlärm. Scheppernd rollte der Topf über den Hof. Erschrocken sah sich der Mann das Dilemma an. Eleonora hatte Wasser aus dem Brunnen geholt und wahrscheinlich vergessen, es mit nach drinnen zu nehmen. Seine Schuhe waren nass geworden. Doch das war erst einmal nicht wichtig. Er musste weg, so schnell wie möglich, war aber wie zur Salzsäule erstarrt, der Schwester des Burgherrn hier in dieser Einöde zu begegnen. Wenn Eleonora ihn entdeckte, war er geliefert. Sie würde ihn bestimmt an ihren Bruder verraten. Der würde kommen, ihn gefangen nehmen und im tiefsten Kerker auf der Hohenburg verrecken lassen.
Eleonora hörte es vor dem Fenster klappern. Erschrocken über den Lärm sprang sie auf, schnappte sich ihr Messer und rannte hinaus. War der Unbekannte zurückgekommen und wollte sie nun ausrauben. Nicht ohne Kampf, schwor sie sich.
Vor der Tür stieß sie mit dem Mann zusammen, der sich eben aufgerappelt hatte und nun flüchten wollte. Erschrocken sahen sich die beiden an. Eleonora erkannte ihn sofort. „Gunnar“, kam ihr über die Lippen. „Was machst du denn hier?“ Dann fiel sie vor Entsetzen in Ohnmacht.
Der als Gunnar betitelte griff zu, ehe Eleonora den Boden berührte. Er nahm sie in die Arme, als wäre sie leicht wie eine Feder. Dann trug er sie ins Küchenhaus. Dort sah er sich um und entdeckte den Strohsack, auf dem die Frau genächtigt hatte. Dort legte er sie vorsichtig ab.
Neugierig betrachtete er sie. Ihr Kopftuch war verrutscht. Zum Vorschein kamen die kurz geschorenen Haare. Da fiel ihm ein, dass Eleonora die letzten Jahre in einem Kloster verbracht hatte. Aber warum war sie dann hier auf dem Witwensitz ihrer Mutter? Hatte ihr Bruder eine Ahnung davon, wo sich die Schwester herumtrieb? Gunnar wusste es nicht.
„Herrin, so wacht doch auf“, sagte Gunnar besorgt und schlug Eleonora mit der Hand leicht auf die Wangen. Da sie trotz Bemühen, sie aus der Ohnmacht zu erwecken, nicht reagierte, nahm er ein Tuch, tauchte es in den Wassertopf, wrang es aus und legte es der Frau auf die Stirn. „Herrin, so hört doch“, rief er jetzt lauter. „Eleonora!“, wagte er dann zu rufen.
Wie durch eine Nebelwand hörte Eleonora ihren Namen. Immer wieder wurde nach ihr gerufen. Endlich wurde sie wach und schlug die Augen auf. Sie blickte direkt in Gunnars fragende Augen.
„Gunnar!“, stieß sie hervor. „Wie? Warum bist du hier?“ Sie setzte sich auf. Das konnte doch nicht sein. Gunnar hier im Bergschlösschen.
„Das ist eine lange Geschichte, Herrin“, gab er zu. „Aber warum seid Ihr hier? Ich nahm an, Ihr seid noch im Kloster.“
„Das sollte ich eigentlich auch“, erwiderte Eleonora. „Aber es kam ganz anders.“
„Und ich dachte, Euer Bruder…“
„Mein Bruder hat damit nicht direkt etwas zu tun“, unterbrach Eleonora Gunnar. „Aber sag, wieso bist du hier und nicht auf der Hohenburg? Ich dachte schon, mein Bruder ließ mich durch dich suchen.“ Sie überlegte kurz. „Aber nein, das kann eigentlich nicht sein. Er schickt doch keinen einfachen Schmied, um mich zu suchen. Da entsendet er lieber seine vertrauten Vasallen. Außerdem…“, sie überlegte kurz, „wie käme er auf die Idee, mich gerade hier finden zu können?“
„Ihr habt Recht, ich war nicht auf der Suche nach Euch“ entgegnete Gunnar. „Es freut mich trotzdem ungemein, Euch zu begegnen, wenn auch unter diesen sehr eigenartigen Umständen.“ Er grinste leicht.
„Nun raus mit der Sprache! Warum bist du hier?“, fragte Eleonora erneut, die unbedingt den Grund seines Hierseins wissen wollte.
„Wie ich schon sagte, das ist eine lange Geschichte“, wich der Mann aus. Es war ihm unangenehm, sein Vergehen, das eigentlich gar keines war, zuzugeben.
„Ach komm schon. Weißt du noch, als Kinder konnten wir uns alles sagen. Auch später noch.“ Eleonora errötete leicht, als sich an die Küsse dachte, die sie heimlich in der Scheune auf der Hohenburg austauschten.
„Ja, ich weiß, aber jetzt ist das was ganz anderes. Ihr seid die Herrin, ich der Knecht.“
„Das war früher auch schon so. Und da hast du dich nicht so angestellt wie eine Prinzessin“, fuhr Eleonora gereizt hoch. „Eher das Gegenteil schien der Fall zu sein“, meinte sie grinsend.
„Ja, gut, Ihr habt gewonnen“, gab Gunnar klein bei. „Ich musste von der Hohenburg fliehen.“
„Aber warum? Hast du etwas angestellt?“
„Es war nicht meine Schuld. Die Schuld lag beim Knappen Eures Bruders“, erwiderte Gunnar, immer noch ausweichend.
„Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!“, knurrte Eleonora. Sie musste unbedingt wissen, was geschehen war, dass Gunnar sogar fliehen musste.
„Ich sollte das Pferd des Herrn beschlagen“, begann Gunnar. „Es war an diesem Tage sehr aufgeregt und ich konnte es nicht bändigen. Es spürte wohl, dass es bald ein Gewitter geben sollte. Ich wollte warten, bis sich das Unwetter verzogen hatte, aber Euer Bruder bestand darauf, es gleich zu tun, da er später am Tag noch ausreiten wollte. Er befahl seinem Knappen, mir behilflich zu sein. Na ja… und dann geschah ein Unglück.“ Er machte eine Sprechpause, wohl um sich das Geschehen nochmals in Erinnerung zu rufen. „Das Gewitter kam schneller näher als angenommen. Es stand genau über der Burg, als ich mit dem Beschlagen beginnen wollte. Der Knappe hielt das Pferd am Halfter, als es ein Blitz und der sogleich darauffolgende Donner erschreckten. Es stieg, der Knappe konnte es nicht halten. Das Tier traf ihn mit einem Vorderhuf an der Schulter. Daraufhin stürzte er zu Boden und das Pferd stürmte wie von allen Teufeln gehetzt davon. Es rannte, in Panik geraten, durch das Burgtor nach draußen und in den Wald. Dort fiel es in eine Grube, die als Falle für die Sauen gegraben wurde und brach sich den Hals.“ Gunnar schniefte.
„Aber da kannst du doch nichts dafür“, fuhr Eleonora hoch. Sie ergriff Gunnars Hand und drückte sie.
„Der Knappe behauptete, es wäre meine Schuld gewesen, dass das Pferd stieg, ihn verletzte und es dann zu Tode kam.“
„Aber wie konnte mein Bruder das nur glauben? Er weiß doch, wie umsichtig du mit seinen Tieren umgehst.“
„Ich hätte das Pferd mit dem Hammer gegen das Knie geschlagen, weil ich es angeblich nicht beschlagen wollte, sagte der Knappe bei seiner Befragung aus. Der Kerl war mir schon immer suspekt und hatte ständig irgendwelchen Unsinn im Kopf. Mich striezte er oft und wenn ich mich dagegen wehrte, verpetzte er mich an den Herrn. Der ließ mich deswegen nicht nur einmal die Peitsche spüren.“
Eleonora schüttelte mit dem Kopf. „So ein Depp!“, brauste sie auf. „Was tat mein Elmar daraufhin?“
„Euer Bruder wollte mich einsperren. Doch ich ahnte, was er vorhatte und bin geflohen. Er versuchte noch, mich durch seine Häscher einzufangen, aber ich war schneller.“ Gunnar grinste. „Ich bin gelaufen wie ein Hase und Euer Bruder hatte das Nachsehen. Ich wusste nicht wohin. Da fiel mir das Schlösschen hier ein. Seitdem bin ich hier.“
„Ach Gunnar…“, seufzte Eleonora.
„Und Ihr? Wieso seid Ihr nicht im Kloster“, fragte nun Gunnar neugierig.
„Da gab es eine Menge Probleme“, berichtete die Frau und erzählte ihrer Jugendliebe alles Vorgefallene.
„Das haut ja dem Fass den Boden aus“, echauffierte sich Gunnar über Friedbertas hinterlistige Machenschaften. Auch an Elmar von Hohenburg ließ er kein gutes Haar.
„Lass uns das Ganze vergessen“, bat Eleonora. „Wir sollten lieber überlegen, was wir tun.“ Sie blickte den Schmied an. „Sollten wir hierbleiben, oder doch lieber weiterziehen? Hier gibt es viel zu tun, aber wir haben erst einmal ein Dach über dem Kopf. Außerdem könnten wir, wenn auch nur durch einen dummen Zufall, entdeckt werden.“ Sie hielt inne, als würde sie sich an etwas erinnern. „Weißt du noch, als wir Kinder waren?“, fragte sie plötzlich.
„Was meint Ihr?“, wollte Gunnar wissen.
„In der Scheune, als uns mein Vater erwischte, wie wir Küsse tauschten“, Eleonora lachte hell auf.
„Vor allem die Schläge danach, die er mir durch meinen Vater verabreichen ließ, prägten sich nachhaltig bei mir ein. Mir tut jetzt noch der Hosenboden weh, wenn ich nur dran denke“, erwiderte Gunnar grinsend. „Mein Vater war sehr gut im Umgang mit der Rute, vor allem, wenn sie mich treffen sollte.“
„Die Schläge bekam ich auch, von meinem Vater höchstpersönlich mit seinem Leibriemen. Und strengen Arrest. Ich durfte mein Gemach nicht verlassen, nicht mal zu den Mahlzeiten“, meinte Eleonora lachend. „Seitdem habe ich nie wieder einen Jungen geküsst“, gab sie errötend zu.
„Und ich küsste nie eine andere Frau“, bekannte Gunnar. Ganz plötzlich machte sein Herz wilde Sprünge.
Eleonora ergriff seine Hand… „Willst du mich nochmal küssen?“
„Aber, Herrin“, wehrte Gunnar ab.
„Jetzt lass endlich dieses verflixte Herrin. Ich bin Eleonora“, schimpfte die Frau. „Und nun küss mich endlich.“ Gunnar ließ sich das nicht noch einmal sagen.