Der Tag Christi Himmelfahrt verging für Eleonora wie im Fluge. Die Äbtissin hatte sie von ihren Pflichten befreit, damit sie ihre Abreise in Ruhe vorbereiten konnte. Eleonora tat dies auch. Unauffällig huschte sie in einem unbeobachteten Moment aus dem Kloster, um ihre vorbereiteten Sachen für die Flucht an einer anderen, leichter zugänglichen Stelle zu deponieren. Es war wichtig, schnell zu dem Versteck gelangen zu können, denn sie hatte nicht viel Zeit, wenn sie einmal die Gesellschaft der Mönche verlassen hatte. Ehe diese bemerken konnten, dass ihr Schützling entflohen war, musste sie über alle Berge und unerreichbar sein.
Sie hatte sich den Vorgang der Flucht genau überlegt und war zu der Erkenntnis gekommen, die Kolonne erst zu verlassen, wenn diese unterwegs war. Wenn sie vor der Abreise heimlich verschwinden würde und es bemerkt wurde, wäre das Risiko gefasst und zurückgebracht zu werden, zu groß. Im Wald gab es genug Möglichkeiten, sich zu verstecken und eventuellen Verfolgern zu entkommen.
Die Delegation an Mönchen, mit denen sie am nächsten Tag den Konvent verlassen sollte, war gegen Mittag eingetroffen. Plaudernd liefen sie nach einem stärkenden Mahl über den Hof oder bevölkerten den Klostergarten. Äbtissin Margarethe riet ihr, sich mit den Männern bereits bekannt zu machen. Eleonora tat, wie ihr geheißen wurde. Doch die Brüder zeigten keinerlei Interesse an der mitreisenden Schwester. Für sie war sie nur ein störendes Anhängsel, für das sie einen Umweg machen mussten. Eleonora war dies nur recht. So war es für sie leichter, heimlich davonzuschleichen.
In der Nacht schlief Eleonora trotz Aufregung vor dem bevorstehenden Abenteuer recht gut. Ausgeschlafen sprang sie früh genug vor der Laudes von ihrer Pritsche. Ihr offizielles Gepäck lag bereits fertig parat neben ihrem Bett.
„Die Delegation bricht gleich nach dem Frühmahl auf. Halte dich bereit, damit es zu keinen Verzögerungen kommt“, erklärte ihr die Mutter Oberin, als Eleonora die Kapelle zur Laudes betrat. Die Äbtissin stand am Eingang und wartete darauf, dass alle ihre Plätze einnahmen.
„Ja, Mutter“, erwiderte Schwester Eleonora und nickte zustimmend. „Ich habe alles vorbereitet.“
„Sehr gut, mein Kind“, sagte Margarethe. Sie hielt Eleonora am Arm fest. „Ich wünsche dir alles Gute“, flüsterte sie ihr zu. „Glaube mir, die Entscheidung ist mir nicht leichtgefallen.“
„Ich glaube Euch“, antwortete Eleonora. „Es ist wahrscheinlich besser, wenn ich nicht mehr diesem Konvent angehöre. Lebt wohl. Gott schütze Euch.“
„Recht so, mein Kind“, lobte die Mutter Oberin und nickte ihr aufmunternd zu. Dann schritt sie langsam auf die kleine Empore zu, auf der sie heute ihren Platz hatte. Die Predigt während der Laudes hielt einer der Brüder, der der Delegation der Mönche angehörte.
Der Predigt hörte Eleonora nur mit halbem Ohr zu. Wie durch eine Glocke versuchte sie den Worten des Mönches zu folgen. So starrte sie eher auf ihre Schuhspitzen und versuchte, sich zu konzentrieren. Der Abschied fiel ihr nicht leicht. Vor allem, dass sie ihre beiden Freundinnen zurücklassen musste und diese wahrscheinlich nie wieder sehen würde, wurmte sie.
Das empörte Schnauben über das Ausbleiben ihrer Gebete, das Friedberta neben ihr ausstieß, überhörte sie. Sie wollte es nicht mehr hören. Die nervige Nonne war ihr einerlei. In absehbarer Zeit würde sie diese Nervensäge ein für alle Mal los sein.
„Willst du nicht beten? Oder denkst du, du bist etwas Besseres?“, fauchte ihr Friedberta, die es nicht lassen konnte, Eleonora zu striezen, leise zu.
Doch Eleonora reagierte nicht. Zu sehr war sie in ihren Gedanken versunken. Plötzlich traf sie ein heftiger Stoß in die Rippen. Erschrocken blickte sie auf, direkt in Schwester Friedbertas bösartig schauenden Augen. „Lass es einfach sein“, sagte Eleonora leise.
Friedberta knurrte nur, wandte sich dann aber wieder ihrem Gebet zu, nachdem die Schwester neben ihr sie erbost dazu aufforderte, Eleonora endlich in Ruhe zu lassen, sie hätte nun doch erreicht, was sie wollte. Trotzdem setzte sie noch ein gehässiges „wie immer eine Extrawurst“ hintenan.
Endlich war das Frühmahl beendet. Eleonora hatte sich währenddessen noch von ihren Mitschwestern verabschiedet, auch von Friedberta. Während ihre beiden einzigen Freundinnen über ihre Abreise traurig waren und sogar ein paar Abschiedstränen vergossen, stand Friedberta daneben und starrte ihre Konkurrentin arglistig an. Alle anderen beobachteten die Szene eher teilnahmslos und gafften die Scheidende grimmig an. Die Freude über Eleonoras Abreise stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Friedberta hatte ganze Arbeit geleistet mit ihren gehässigen Gerede gegen Eleonora und ihr damit mehr Feinde als Freunde geschaffen.
„Wird Zeit, dass du verschwindest. Dann ist hier Ruhe“, sagte sie gehässig, als sich Eleonora Friedberta zuwandte. „Deinen Abschiedsgruß brauche ich nicht. Geh einfach und vergiss uns. Wir werden dich garantiert nicht vermissen.“
„Ich frage mich die ganze Zeit, was du gegen mich hast“, sagte Eleonora. „Jetzt, wo ich weggehe, kannst du es mir doch sagen.“
„Ist halt so. Ein Opfer gibt es immer“, meinte Friedberta spöttisch.
Sieglinde, die eben einen der Tische abwischte, fuhr hoch. „Versündige dich nicht“, fauchte sie Friedberta an. „Es ist schon schlimm genug, dass Eleonora uns verlassen muss. Da musst du nicht noch nachtreten.“
„Phhh“, machte Friedberta nur, drehte sich um und verließ ohne ein Wort den Speisesaal.
„Meine Kleine“, sagte Eleonoras Mentorin Sieglinde zu ihr. „Ich werde dich vermissen. Vielleicht denkst du ab und zu mal an mich.“
„Ach, Schwester Sieglinde. Seid nicht traurig. Irgendwann sehen wir uns wieder. Glaubt nur fest daran. Ich danke Euch für alles, was Ihr für mich getan habt.“ Sie nahm Sieglinde in die Arme und drückte sie fest. Da erscholl von draußen schon das Signal zum Aufbruch. „Ich muss los“, sagte Eleonore und ließ Sieglinde los. „Lebt wohl. Gott schütze Euch“, sprach sie noch und schnell nach draußen. Dabei wischte sie sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln.
„Da bist du ja endlich!“, wurde Eleonora von einem der Mönche unwirsch empfangen. Die Reihe an Wagen stand schon bereit. Die Pferde, die sie zogen, scharrten nervös mit den Hufen. Die Tiere spürten, dass es endlich losging und waren unruhig. Die Kutscher hatten alle Hände voll zu tun, um sie zu bändigen.
Eleonora musste auf dem letzten Wagen Platz nehmen, während sich die Mönche auf den anderen Wagen verteilten. Die Nonne saß eingequetscht zwischen Kisten und Truhen. Sie versuchte, es sich so bequem wie möglich zu machen. Ihr Kleiderbündel hatte sie so drapiert, sodass sie nicht direkt auf dem harten Wagenboden sitzen musste. Lange brauchte sie nicht in dieser Stellung ausharren, denn bald würden sie die Stelle erreichen, an der sie heimlich vom Wagen springen und verschwinden würde.
Gemächlich zuckelte die Kolonne los. Die Peitschen der Kutscher knallten über den Köpfen der Pferde, die sich langsam in Bewegung versetzen. Eleonora auf dem letzten Wagen sah den breiten Rücken des Fuhrmanns vor sich. Aufmerksam beobachtete sie ihn, erhaschte jede noch so kleine seiner Reaktionen. Sie hatte angenommen, dass er versuchen würde, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Doch der Mann interessierte sich gar nicht für sie. Wahrscheinlich war es ihm verboten worden, mit ihr zu sprechen.
Eleonora war dies nur recht. So konnte sie in einem geeigneten Moment besser vom Wagen verschwinden, ohne dass er es bemerken konnte.
Endlich erreichten sie die Stelle, wo die Nonne die Kolonne verlassen wollte. Ihr Bündel ließ sie liegen, sie brauchte es nicht mehr. Alles, was sie benötigte, lag sicher verwahrt in dem Versteck, etwas abseits des Weges, den sie jetzt passierten.
So leise wie möglich erhob sie sich. Vorsichtig spähte sie nach vorne, auch zu den anderen Wagen. Doch keiner interessierte sich für die ungewollte Passagierin. Eleonora kroch zur Planke und stieg vorsichtig darüber hinweg. Dann ließ sie sich fallen und rollte sich zum Wegesrand, wo sie sich flugs zwischen den Büschen verbarg. Sie machte sich so klein wie möglich, um nicht noch im letzten Moment entdeckt zu werden.
Während Eleonora in ihrem Versteck hockte, entfernte sich die Wagenkolonne immer weiter. Vorsichtig lugte sie zwischen den Zweigen hervor. Noch hatte niemand ihr Fehlen bemerkt. „Gut so“, dachte sie sich. Sie kroch weiter in die Büsche und dann in den Wald hinein. Erst als sie sich sicher war, dass man sie vom Weg aus nicht mehr entdecken konnte, erhob sie sich.
Als erstes riss sie sich ihre Haube vom Kopf. Sie schüttelte ihr kurzes Haar. Dann lief sie, so schnell sie die Füße trugen, zu ihrem Versteck.
Die kleine Höhle lag einige hundert Meter tief im Wald und war so einfach nicht zu entdecken. Nur geübte Augen wussten von deren Eingang, der von dichten Büschen verdeckt war. Doch Eleonora fand ihn sofort. Freudig aufatmend kroch sie hindurch und in die Höhle. Ihr zurückgelassenes Hab und Gut fand sie unberührt vor, was sie sehr freute. Nichts wäre schlimmer, als ohne Proviant losziehen zu müssen.
Als erstes entledigte sie sich ihres Habits und zog normale Kleidung an. Doch das kurze Haar, das sie als Nonne tragen musste, machte sie auffällig. Daher nahm sie ein Tuch und verhüllte es sorgfältig. Vorsicht war angesagt, das war ihr klar. Nichts wäre für sie schlimmer, als so kurz vor dem Erreichen ihres Ziels entdeckt und zurückgebracht zu werden. Dann vergrub sie noch ihre Nonnenkleidung und breitete über der frisch aufgeworfenen Erde Blätter aus. Nichts wies danach noch darauf hin, dass an dieser Stelle etwas versteckt war, was gar nicht hierher gehörte.
Nachdem Eleonora alles erledigt hatte und sie mit ihrer Verkleidung zufrieden war, packte sie ihre wenigen Habseligkeiten zusammen. Dann machte sie sich auf den Weg zum Bergschlösschen, das etwa eineinhalb Tagesmärsche entfernt lag.
„Endlich“, sprach sie zu sich selbst und hätte am liebsten vor Freude laut gelacht, „endlich frei…“ Dann ging sie mit großen Schritten los. Je schneller sie aus der Gegend des Klosters verschwand, desto besser.