Bis es eine Gelegenheit für eine Flucht aus dem Kloster gab, dauerte es einige Zeit. Diese nutzte Eleonora für intensive Vorbereitungen. Sie brauchte Proviant, Kleidung und noch vieles mehr. Das alles trug sie heimlich zusammen und verstaute es in einem sicheren Versteck außerhalb der Klostermauern. Sie stahl mal hier ein Stück Käse und einen Schinken aus der Vorratskammer, stibitzte mal dort ein Leinen aus der Kleiderkammer, sowie einen warmen Umhang für den Winter und Wechselkleidung. Sobald ihr die Flucht gelungen war, musste sie sich umkleiden, um nicht auf den ersten Blick als Nonne erkannt zu werden.
Nur gab es ein Problem. Eleonora musste alles selbst tragen. Sich ein Pferd oder einen Esel für die Flucht zu mieten, dazu hatte sie kein Geld. Sie konnte zwar reiten, aber wenn sie kein Geld hatte, nutzte ihr das auch nicht. Außerdem gab es niemanden, dem sie außerhalb der Klostermauern trauen konnte und somit stand sie ganz allein da. Auch wenn sie nicht als Ordensfrau unterwegs sein würde, könnte sie jemand erkennen und sie an die Mutter Oberin oder ihren Bruder verraten. Daher entschied sie sich, nur das Nötigste mitzunehmen. Das hieß in ihrem Fall, so viel sie tragen konnte. Lebensmittel und warme Kleidung hielt sie für das Wichtigste. Sie wusste nicht, was sie im Bergschlösschen erwartete und auch nicht, ob dort überhaupt noch etwas Essbares zu finden war. Da das Schloss aber schon längere Zeit nicht mehr bewohnt war, war dies recht unwahrscheinlich. Und ohne Geld war es unmöglich, sich Lebensmittel zu besorgen oder etwas zu Essen zu kaufen.
Eleonora plante, zu Christi Himmelfahrt das Kloster zu verlassen. Im Mai war es tagsüber oft schon warm und trocken genug, dass sie gut zu Fuß weiterkommen konnte. Zu Pferd war das Schlösschen eine halbe Tagesreise entfernt. Wenn sie auf Schusters Rappen ging, würde sie mindestens dreimal so lange benötigen, um ihr Ziel zu erreichen. Wenn, was sie sehr hoffte, das Wetter mitspielte oder keine anderen Widrigkeiten sie zwangen, Rast einzulegen oder einen Umweg in Kauf zu nehmen.
Gerade vor Feiertagen war in einem Konvent wie diesem viel zu tun und keiner achtete so genau darauf, ob jemand fehlte oder sich anderweitig beschäftigte. Am Feiertag selbst würde es erst recht nicht auffallen, wenn sie heimlich verschwand. Meist waren Gäste aus anderen Klöstern oder Leute aus den umliegenden Dörfern anwesend, sodass sie in dem Gewusel von Fremden genügend Gelegenheit für eine Flucht hatte. Exakt überlegte sie, wann wohl der beste Zeitpunkt dafür war. Sie beobachtete die anderen Schwestern und Novizinnen. Dann entschied sie sich dafür, sich kurz nach der Laudes auf den Weg zu machen. So hatte sie den ganzen Tag vor sich und käme weit voran. Die beste Zeit wäre zwar, wenn sich alle zur Nachtruhe begeben hatten. Doch dann fiele es ihrer Mitschwester Sieglinde auf. Die würde garantiert Alarm schlagen und nach ihr suchen. Außerdem war es zu gefährlich, nachts zu reisen.
Nach dem ersten Gebet strebten viele der Nonnen nochmals zu ihren Zellen, um noch ein wenig zu schlafen oder ihre Zeit anderweitig zu verbringen. Nur Sieglinde, ihre Zellennachbarin und Mentorin, ging gleich nach der Andacht mit ihren Gehilfinnen in die Küche, um die erste Mahlzeit des Tages vorzubereiten. Daher konnte es nicht sofort auffallen, wenn Eleonora abwesend war. Erst wenn ihr Platz beim Morgenmahl leerblieb, würde es bemerkt werden. Und dann wäre sie hoffentlich schon sehr weit weg.
Während der Laudes zu Christi Himmelfahrt saß Eleonora wie auf Kohlen. Sie konnte sich nicht richtig auf die Andacht konzentrieren und fühlte sich vor Aufregung wie auf glühenden Kohlen. Zu sehr waren ihre Gedanken bei ihrer Flucht.
Die Äbtissin Margarethe, die heute die Andacht leitete, schaute des Öfteren von ihrem Buch hoch, aus dem sie vorlas. Sie hatte bemerkt, dass in der Reihe, in der Eleonora saß, ein wenig Unruhe herrschte und besonders Eleonora nicht ganz bei der Sache war. Einige der Mitschwestern tuschelten leise miteinander und blickten dabei zu Eleonora hinüber. So erkannte die Oberin, dass die aufmüpfige Schwester der Grund dessen war.
„Schwester Eleonora“, herrschte sie die Nonne mit lauter Stimme an. „Schon wieder bist du die Ursache einer Störung! Schämst du dich nicht, das heilige Gebet zu unterbrechen? Das werde ich nicht dulden! Ich erwarte dich nach der Laudes in meiner Zelle, um mit dir über dein Vergehen zu sprechen. Du scheinst die Benimmregeln immer noch nicht begriffen zu haben!“
Sofort senkte Eleonora ehrfürchtig den Blick und faltete die Hände wie zum Gebet. „Wie Ihr wünscht, Mutter Oberin“, flüsterte sie und errötete. Dass sie nun so kurz vor ihrer Flucht auch noch zur Äbtissin gerufen wurde, passte nicht in ihren Plan. Da sie aber keinen Verdacht erregen wollte, musste sie sich wohl oder übel deren Willen beugen und den Befehlen Folge leisten.
Eleonoras Banknachbarin Friedberta, mit der sie schon seit ihrer Ankunft im Konvent auf Kriegsfuß stand, feixte gehässig. „Du mal wieder“, fauchte diese ihr leise zu. „Du warst schon immer ein Störenfried.“
„Ach halt doch deinen Mund, du alte Klatschbase“, erwiderte Eleonora so ruhig wie möglich, obwohl es in ihr brodelte und sie am liebsten ihren Frust über die bösartige Frau hinausgeschrien hätte.
„Phhh“, machte Friedberta nur und wandte sich wieder dem Text zu, den die Äbtissin eben vorlas.
Die jedoch hatte natürlich das kurze Streitgespräch zwischen den beiden verfeindeten Klosterfrauen bemerkt. „Ruhe auf den hinteren Reihen, Friedberta, damit bist auch du gemeint“, herrschte sie die Frauen an.
Während Eleonora nicht reagierte und den Kopf einzog, versuchte Friedberta sich zu rechtfertigen. „Die hat aber angefangen“, rief sie aufgebracht dazwischen.
„Ich bin zwar alt, aber noch lange nicht dumm“, konterte die Äbtissin. „Diesmal bist du die Wurzel des Übels. Und wenn du nicht auch bestraft werden willst, halte dich an die Regeln und deinen Mund.“ Der Blick der alten Frau wurde hart.
Friedberta gab sich lieber geschlagen. Sie wusste, die Mutter Oberin kannte keine Gnade, wenn es um die Ahndung von Regelverstößen ging. Vor allen Dingen, wenn diese Verstöße während der Gebete, Andachten oder den gemeinsamen Mahlzeiten begangen wurden. Am Beispiel von Schwester Eleonora hatte sie dies nicht nur einmal sehen müssen. Unter allen Umständen wollte sie verhindern, selbst ins Visier der Klostervorsteherin zu geraten.
Nach der Laudes leerte sich die kleine Kapelle schnell. Während Sieglinde und einige ihrer Gehilfinnen zur Küche gingen, strebten viele der Nonnen ihren Zellen zu, um sich dort für den langen Tag vorzubereiten. Nur Eleonora folgte der Äbtissin mit bangem Herzen in deren Zelle.
„Mach die Tür zu“, wurde Eleonora aufgefordert, nachdem sie das kleine, spartanisch eingerichtete Gemach der Äbtissin betreten hatte.
Die ging zum Kamin und schürte das Feuer. Im Gegensatz zu den Zellen der anderen Nonnen, war ihre beheizbar.
„Mein Kind“, begann sie, nachdem sie mit dem Kamin fertig war und ein lustiges Feuerchen darin prasselte. Das trockene Holz knackte und der Geruch von verbranntem Harz verbreitete sich im Raum. „Ich weiß wirklich nicht, was ich noch mit dir machen soll.“ Sie blickte Eleonora streng an. „Ich merke, dass du dir die größte Mühe gibst. Aber trotzdem bist du nicht mit deinem ganzen Herzen dabei.“
Eleonora senkte den Blick. Sie wusste, wie Recht die Mutter Oberin mit ihrer Aussage hatte. „Es tut mir leid“, flüsterte sie. „Ich gebe mir wirklich sehr viel Mühe. Nur leider gelingt mir das nicht immer, alles zu Eurem Gefallen zu tun.“ Nur ungern gab sie laut zu, wie unwohl sie sich im Konvent fühlte. Bisher hatte sie ihre Gefühle nur ihren beiden Freundinnen gegenüber offenbart. Die Mutter Oberin wusste davon nichts, sie durfte auch nie von ihren Zweifeln erfahren.
„Ich weiß, mein Kind. Aber trotzdem. Ich erwarte sehr viel mehr von dir als das, was du mir bisher geboten hast.“ Sie holte kurz Luft. Dann sprach sie weiter. „Du magst ein liebes Mädchen sein. Ich glaube aber, dein Weg als Braut Gottes ist nicht der Richtige.“
Eleonora schaute erschrocken hoch. „Aber Mutter Oberin“, rief sie. „Ich habe meinen Weg mit Bedacht gewählt. Mein Bruder, der Graf von Hohenburg, meinte auch, es wäre das Beste für mich.“
„Ich glaube eher, er wollte sich damit die Mitgift für dich sparen, falls sich ein Bräutigam für dich finden sollte. Die Mitgift für den Eintritt in den Konvent ist bei Weitem geringer als die für eine Verheiratung.“ Margarethe schaute Eleonora an. Sie wollte deren Reaktion auf diese plötzliche Erkenntnis sehen.
„Ihr meint, er wollte mich nur loswerden, um den Inhalt seiner Goldschatulle zu schonen?“, Eleonora blickte sie erschrocken an. Ihr blieben die Worte im Halse stecken. Wie konnte es sein, dass ihr Bruder Elmar so hinterhältig war, sie dazu zu überreden, ins Kloster zu gehen? Sie verstand die Welt nicht mehr. Elmar war ihr doch bisher immer mehr ein Freund und Gefährte gewesen, dem sie alles anvertrauen konnte. Sogar von ihrer ersten heimlichen Liebe zum Sohn des Schmiedes wusste er. Eleonora überlegte angestrengt. War die Äbtissin womöglich auf ihrer Seite und sie hatte es bisher nicht bemerkt. Sie konnte es nicht glauben. Was sollte nun geschehen? Wollte die Mutter Oberin sie zurück nach Hause schicken? Oder wohl doch lieber im Kloster belassen, was ihr als letzter Ausweg erschien. Aber gerade diese Möglichkeit wäre allerdings nicht in ihrem Sinn. Sie wollte hier weg, und zwar schnellstmöglich.
„Zurückschicken zu deiner Familie kann ich dich nicht, auch wenn es für mich am besten scheint. Du hast dein Gelübde bereits abgelegt und somit bist du offiziell eine Braut Gottes. Es sei denn, dein Bruder bestimmt, dass du einen Mann deines Standes ehelichst. Doch das ist wohl bis jetzt nicht der Fall. Oder hatte dein Vater vor seinem Tod bereits einen Bräutigam für dich auserkoren?“ Auf die letzte Frage schüttelte Eleonora nur verneinend den Kopf.
Die alte Frau überlegte kurz. „Was hältst du davon, in einen anderen Konvent zu gehen?“, fragte sie dann. „Ich habe diese Möglichkeit als letzten Ausweg vorgesehen und wollte dies eigentlich vermeiden. Doch ich musste heute erneut erkennen, dass eine Einigung zwischen dir und den anderen Mitschwestern, vor allem mit Schwester Friedberta, beinahe unmöglich ist. Daher ist es wohl besser, du verlässt uns so bald wie möglich. Ich wünsche mir Ruhe in meinem Kloster.“
„Aber Mutter Oberin“, Eleonora war den Tränen nahe. Obwohl sie sofort wegrennen wollte, war es ein Schock für sie, die Pläne der Äbtissin zu erfahren. „Ich gebe mir doch die größte Mühe, mich einzufügen. Und meine Buße, die Ihr mir letztens auferlegt habt, hat mich gelehrt, dass ich ehrfürchtig und gehorsam sein muss.“ Eleonora rang die Hände. „Bitte schickt mich nicht weg“, bettelte sie herzerweichend. In ihrem Inneren jedoch jubelte sie.
„Nein, mein Kind, mein letztes Wort ist gesprochen. Ich habe bereits alles Nötige vorbereitet. Heute im Laufe des Tages wird eine Delegation des Klosters Lech hier ankommen und Morgen in aller Frühe weiterreisen. Du wirst dich ihr anschließen. Die Mönche werden dich im Konvent der ehrfürchtigen Damen in Bamberg abliefern. Der dortigen Äbtissin habe ich vor Kurzem eine Botschaft geschickt und sie über deine Ankunft informiert. Sie hat mir versprochen, sich um dich kümmern, damit du dich dort gut einleben kannst und nicht wieder solche Probleme auftreten wie hier. Ich hoffe, du findest dort deinen Frieden.“ Sie ging auf die junge Nonne zu und griff nach deren Händen, die sie immer noch knetete wie einen Brotteig. „Meine Liebe, es ist das Beste für dich. Wirklich! Es tut mir leid, dass es so kommen musste. Ich werde deinen Bruder noch benachrichtigen, damit er erfährt, wo du dich aufhältst.“
„Wie Ihr meint“, gab Eleonora scheinbar geknickt klein bei.
„Geh nun und packe deine Sachen, damit morgen früh alles bereit ist. Für heute bist du von deinen Pflichten befreit“, sagte die Äbtissin und entließ die scheinbar totunglückliche Schwester Eleonora.
„Ich danke Euch“, flüsterte die kaum hörbar und verließ die Zelle.
Vor der Tür traf Eleonora ausgerechnet auf Friedberta, die wie gehetzt aufschrie, als Eleonora plötzlich aus der Zelle der Mutter Oberin auf den Gang hinaustrat.
„Du hast wohl gehorcht?“, fragte Eleonora scheinheilig lächelnd.
„Und du hast wohl deinen wohlverdienten Anschiss abgeholt“, fauchte die Schwester garstig und grinste. „Geschieht dir recht, du Störenfried.“
„Ach halt doch den Mund. Der größte Störenfried bist doch du“, erwiderte Eleonora ganz ruhig. Sie wusste, die längste Zeit hatte es gedauert, dass sie diese niederträchtige Friedberta ertragen musste. Schon morgen, noch während es Trubel um die Abreise der Delegation gab oder kurz danach, würde sie auf Nimmerwiedersehen verschwunden sein und der garstigen Mitschwester hoffentlich nie wieder über den Weg laufen. Diesen einen Tag würde sie nun auch noch aushalten.
Während sie sich ohne ein weiteres Wort von Friedberta entfernte, schrie diese ihr Schmähworte nach, was die Äbtissin auf den Plan rief. Aufgebracht über den Lärm in ihren heiligen Hallen riss diese ihre Tür auf und trat auf die Schwester zu. Sie riss sie am Arm zu sich herum und blickte in das zu einer wütenden Fratze verzogene Gesicht der Klosterfrau.
„Schwester Friedberta, hast du nichts anderes zu tun als deine Mitschwester zu piesacken? Eleonora wird uns morgen verlassen und bis dahin will ich von dir kein Gekeife mehr hören. Gehe gefälligst an deine Arbeit, wenn es dir nicht lieber ist, den ganzen Tag auf Knien im Gebet in der Kapelle zu verbringen und Buße zu tun! Ich glaube, das täte dir garantiert gut, um endlich zur Besinnung zu kommen“, hörte Eleonora die Stimme der Mutter Oberin.
Hinter einem Pfeiler blieb Eleonora stehen und lauschte.
„Aber die hat diesmal wirklich angefangen“, wehrte sich Friedberta vehement gegen die Anfeindungen. Die Lüge sprudelte ihr wie ein Quell aus dem Mund.
„Da hätte ich aber wirklich sehr schlechte Ohren. Deine Worte kamen laut genug über deine Lippen, dass ich alles mitanhören konnte. Also höre gefälligst mit deinen allgegenwärtigen Lügen auf“, wurde sie von der Äbtissin angefahren. „Ich beobachte dich schon eine Weile. Oft genug gingen die Anfeindungen von dir aus. Du warst diesmal der Übeltäter. Ich sollte mir wohl überlegen, lieber dich wegzuschicken anstelle von Schwester Eleonora. Und nun geh gefälligst an deine Arbeit, ehe ich es mir noch anders überlege!“
Friedberta wusste, Widerspruch war zwecklos. Daher schlich sie wie ein geschlagener Hund in die Küche, wo sie heute zum Dienst eingeteilt war. Eleonora sah ihr grinsend nach und dachte sich: „Morgen ist die Zeit des Abschieds gekommen und ich sehe dich Klatschbase nie wieder.“