Der Weg zum Bergschlösschen zog sich für Eleonora endlos lang hin. Da sie es vermied, mit Fremden aufeinander zu treffen, war es besonders schwer, ein wenig Abwechslung und Unterhaltung zu finden. Die Konversation mit anderen Menschen fehlte ihr. Doch sie wusste keine andere Möglichkeit, unerkannt zu entkommen. Daher musste sie die Einsamkeit in Kauf nehmen, ob sie nun wollte, oder nicht. So sang sie alle Lieder, die sie kannte, rezitierte Verse oder Psalmen aus der Bibel, bis ihr keine mehr einfielen.
Vom vielen Gehen schmerzten ihre Füße. Obwohl sie im Kloster immer den ganzen Tag auf den Beinen war, fiel es ihr trotzdem schwer, so weit laufen zu müssen. Am liebsten hätte sie sich so manches Mal in ein Gewässer gesetzt und dort ihre Füße gekühlt. Aber sie befürchtete immer noch, erkannt und zum Kloster zurückgebracht zu werden. Doch das Glück war ihr hold und sie kam ohne aufgehalten zu werden, weiter. Niemand erkannte sie und stellte Fragen, die sie nicht beantworten wollte oder konnte. Sehr zu ihrem Erstaunen funktionierte ihre Verkleidung. Sie wusste auch niemanden, der sie in den letzten Jahren ohne ihren klösterliches Habit gesehen hatte und der sie deswegen hätte erkennen können.
Auch den Mönchen begegnete sie nicht mehr. Nachdem deren Schützling abhandengekommen war und sie Eleonora trotz Suche nicht fanden, hatten sie von ihrem letzten Nachtlager aus sogleich den direkten Weg zu ihrem Kloster genommen. Der Äbtissin des Stifts in Bamberg schickten sie eine Depesche, die von dem Unglück berichtete. Auch Mutter Oberin Margarethe erhielt eine Nachricht.
So konnte Eleonora ihren Weg unbehelligt fortsetzen. Sie kam gut voran und am zweiten Abend fand sie ein stilles Plätzchen in der Nähe eines Baches, der seinen Ursprung wahrscheinlich in einem nahen Wald hatte. Die Gegend kam ihr irgendwie bekannt vor. Obwohl sie sich nicht gänzlich sicher war, nahm sie an, dass sie als Kind schon hier gewesen war. Nirgendwo war ein Dorf zu entdecken. Nur der menschenleere Wald, geteilt durch das Bächlein, das lustig vor sich hinplätscherte. Dann der Weg, dessen Ende in der Dunkelheit zwischen den Bäumen verschwand und sich ihren Blicken entzog, schlängelte sich hindurch.
Als sie sich mehr umsah, fiel es ihr ein. Der Felsbrocken mit dem eingeritzten Kreuz und den Initialen A. v. D. waren ein markantes Wegzeichen, das sich in ihre Erinnerung eingebrannt hatte. Sie erinnerte sich, ihr Großvater mütterlicherseits hieß Adalbert von Dornbergen. Die Initialen im Stein könnten ein Hinweis auf dessen Besitz sein.
Genau das musste es sein. Das Witwentum ihrer Mutter war nicht mehr weit. Diesen Weg durch den Wald musste sie noch hinter sich bringen, später noch einen steilen Anstieg bewältigen, dann wäre sie am Ziel.
Sie schüttelte den Kopf. Hatte sie sich womöglich verschätzt? Länger als vermutet war sie nun schon unterwegs. Eineinhalb Tagesreisen vom Kloster entfernt rechnete sie sich aus. Doch nun war sie schon fast zwei volle Tage unterwegs und immer noch nicht angekommen. Dennoch, wenn sie nachdachte und sich an die teilweise unwegsamen Stellen erinnerte, die sie überwinden musste, war es doch gut möglich, länger für den Weg zu benötigen. Wie oft musste sie sich im Dickicht verstecken, wenn ihr Leute entgegenkamen oder überholen wollten, die ihr gefährlich vorkamen. Das war alles vergeudete Zeit, in der sie normalerweise noch mehr Entfernung zwischen sich und dem Kloster, sowie den Mönchen, bringen konnte. Aber nun, da sie fast an ihrem Bestimmungsort angekommen war, keimte neue Hoffnung in ihr auf.
Da es schon fast stockfinster war, beschloss sie, den Weg nicht fortzusetzen, sondern sich am nächsten Tag an den Anstieg zum Schloss zu machen. Ehe sie sich die Beine brach oder sogar noch verlief, konnte sie auch ruhen und morgen in aller Frühe aufbrechen. Daher richtete sie sich ein kleines Lager zwischen einigen Büschen, wo sie einigermaßen sicher vor ungewolltem Entdecken war. Zum Glück hatte sie noch genügend Proviant, sodass sie nicht hungern musste.
Ermattet wickelte sich Eleonora nach dem Essen in ihren Umhang ein. Sie fror erbärmlich und zitterte wie Espenlaub. Ihr Umhang schützte heute wenig vor der Kälte, die aus dem Boden nach oben und in sie hineinkroch. Es war empfindlich kalt geworden, doch ein Feuer wollte sie trotzdem nicht entzünden. Zu groß war die Angst, dass ihr kleines Lager entdeckt und sie ausgeraubt werden würde. Wer weiß, welch finsteres Gesindel sich im Wald versteckte und nur auf eine günstige Gelegenheit wartete, jemanden zu überfallen.
So verbrachte Eleonora eine unruhige und kalte Nacht unter freiem Himmel, in der sie mehrmals vor Kälte zitternd erwachte.
Am nächsten Morgen stand Eleonora sehr zeitig auf. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, doch am Himmel wurde es langsam hell. Der neue Tag war nicht mehr fern. Sie war froh, dass sie weiterkonnte und nicht mehr in ihrem Versteck ausharren musste.
In der Nähe ihres Nachtlagers hörte sie es rascheln und grunzen. Vorsichtig spähte sie aus dem Gebüsch hervor. Eine Rotte Wildschweine hatte sich unweit ihres Lagers eine Suhle gebaut und frönte nun dort einem Schlammbad. Einige Frischlinge waren dabei, die von ihren Mütter wachsam umsorgt wurden. Die Suhle hatte die entflohene Nonne am Vorabend nicht bemerkt, sonst hätte sie das Nachtlager weiter entfernt aufgeschlagen.
„Auch das noch“, dachte sich Eleonora, die von der Gefährlichkeit dieser Tiere wusste, während sie Junge mit sich führten. So leise wie möglich packte sie ihre Sachen zusammen. Der Hunger war ihr vor Schreck vergangen. Dann zog sie sich vorsichtig zurück. Ganz langsam entfernte sie sich von der Suhle der Wildschweine, die ihren Spaß im Schlamm hatten. Ihr Grunzen und Quieken waren weithin zu hören. Die Schweine waren aber so beschäftigt, dass sie Eleonora nicht bemerkten und sie konnte entkommen, ohne Schaden zu nehmen.
Als Eleonora weit genug von der Rotte entfernt war, begab sie sich zurück auf den Weg. Sie blickte sich um, konnte aber keins der Schweine sehen. Jetzt hörte sie diese noch leise grunzen. Aufatmend lief sie weiter und brachte schnell Strecke zwischen sich und den gefährlichen Tieren. Im Unterholz hörte sie es das eine oder andere Mal knacken. Doch meist war es nur ein Hase oder anderes Kleingetier, das ihr nicht gefährlich werden konnte. Einmal lief ihr sogar ein Fuchs über den Weg, der wohl auf morgendlicher Jagd war, aber schnell das Weite suchte, sobald er ihrer ansichtig wurde.
Der Weg stieg inzwischen steiler an und wurde schmaler. Eleonora erinnerte sich nun genauer. Es war der Pfad, der zum Schloss hinaufführte.
Es wurde noch unwegsamer, dass Eleonora außer Atem kam. Davon ließ sie sich jedoch nicht beirren, sondern lief schnurstracks weiter. Links und rechts säumten große Felsen ihre Marschroute. Einige lagen zerbrochen umher, dass Eleonora darübersteigen oder sich dazwischen hindurchquetschen musste. Streckenweise wurde es noch unzugänglicher. Sie wusste, zum Bergschloss waren sie immer nur zu Pferd unterwegs und führten Packpferde mit sich. Kutschen oder andere Wagen kamen hier nicht durch. Nur die zerbrochenen Felsbrocken gab es damals noch nicht. Hier hatte wohl das Wetter seine Hand im Spiel.
Nachdem Eleonora noch eine enge Schlucht durchquert hatte und über unzählige Geröllblöcke gestiegen war, konnte sie es sehen: Das kleine Bergschlösschen, das hoch oben auf einem Felsen thronte wie der Hut eines Magisters auf dessen Kopf. Zwei Türmchen ragten in die Höhe und eine kleine wehrhafte Mauer umgab es. Schon von Weitem waren die Zinnen an Türmen und die Ausgucke der Wächter zu erkennen.
Außerdem konnte Eleonora den Verfall erkennen. Der Zahn der Zeit nagte am Gemäuer. Mit wehem Herzen dachte sie daran, wie oft sie mit ihrer Mutter hier war. Damals erstrahlte das Schloss noch in vollem Glanz. Dutzende Bedienstete bevölkerten es. Wenn die Herrschaft im Schloss weilte, war der Trubel sogar noch größer. Ihre Mutter gab oft kleine Bälle, die trotz Abgeschiedenheit gut besucht waren. Doch das war längst vorbei und vergessen.
Nach einem letzten steilen Aufstieg stand Eleonora endlich vor dem riesigen, trotzigen Tor, das sonst durch ein eisernes Fallgitter gesichert war. Es stand sperrangelweit offen. Vom eisernen Gitter waren nur noch Reste zu sehen. Es war verrostet und zerfiel langsam, aber sicher in seine Einzelteile. Das große zweiflügelige Holztor hing schief in den Angeln. Einer der Flügel war sogar ganz herausgefallen und versperrte fast den ganzen Eingang. Die Mauer bröckelte, Steine waren herausgefallen. Ein trauriger Anblick. Eleonora quetschte sich an den Torsegmenten vorbei und stand gleich darauf in einem kleinen Schlosshof.
Alles lag verlassen da. Keine Menschenseele war zu sehen oder zu hören. Es wirkte verkommen und dreckig, aber auch gruslig. Die Fenster im Gemäuer schienen sie anzustarren wie einen unwillkommenen Eindringling. Der Boden war überwuchert mit Unkraut, kleine Büsche standen hier und da herum. Teile des Hofes waren aufgeworfen, Pflastersteine lagen herum, als wären sie einfach liegengelassen worden.
An die Eiche neben dem Brunnen erinnerte sich Eleonora. Als sie vor Jahren das letzte Mal hier weilte, war diese noch sehr viel kleiner. Dort hatten sich Vögel eingenistet, die nun mit empörten Geschrei über den Störenfried davonflogen. Doch als sie bemerkten, von der Frau ging keine Gefahr aus, kamen sie zurück und ließen sich in den Ästen des Baumes nieder. Neugierig sahen zu der Person herunter, die verlassen am Fuß der Eiche stand und nicht wusste, wie es weitergehen sollte.
Eleonora hatte ihr Bündel fallen lassen und sich auf die wackelige Bank am Brunnen gesetzt. Die gab beinahe unter ihrem Gewicht nach. Vom trostlosen Anblick des Schlosses war sie mutlos geworden. Es graute sie davor, hierbleiben zu müssen. So allein, ohne jedwede Hilfe inmitten dieser Einöde. Die Frau dachte nach, was nun weiter zu tun wäre. Sie war zum ersten Mal gänzlich auf sich allein gestellt. Doch tief in ihrem Inneren wusste, sie würde es trotzdem schaffen, sie musste es nur wollen.