Krampfhaft starrte Anja durch die Windschutzscheibe ihres Autos. Warum musste sie auch unbedingt bei solch einem scheußlichen Wetter losfahren. Wie so oft wollte sie halt ihren Sturkopf wieder einmal durchsetzen. Nur dass Chris, ihr Freund, diesmal nicht, wie sonst, wenn sie sich stritten, nachgab, sondern auf seinem Standpunkt beharrte. Nun bereute sie es, die Haustür hinter sich laut zugeknallt und einfach losgefahren zu sein. Sie sah Chris noch am Fenster stehen und ihr nachblicken, als sie ihren Wagen startete und voller Wut davon brauste. Dummheit musste bestraft werden. Aber daran war nichts mehr zu ändern. Jetzt war sie unterwegs und wusste nicht, wohin, geschweige denn, wo sie die Nacht verbringen sollte.
Die Scheinwerfer ihres Autos gaben ihr Bestes, doch nichts half. Die dicke Schlechtwettersuppe versperrte Anja so beharrlich die Sicht, dass sie schon fast verzweifelte. Tränen liefen ihr über die Wangen, Tränen der Wut über sich selbst, aber auch der Verzweiflung. So sehr sie sich auch anstrengte, ihre feuchten Augen machten es dabei nicht besser, die Straße vor ihr konnte sie kaum erkennen. Nur langsam kam sie voran.
Dicke, so gut wie undurchsichtige Nebelschwaden zogen von den Feldern und schienen wie gruselige Gestalten die Straße zu belagern.
Anja überlegte, ob sie besser anhalten und etwas warten sollte, bis sich der Nebel ein wenig verzogen hatte. Es war nicht vorauszusehen, wie lange sie hier warten musste, bis sie eine halbwegs gute Sicht haben würde. Zudem fröstelte es sie, obwohl die Heizung des Wagens auf die höchste Stufe gestellt war. Schon alleine bei dem Gedanken daran, hier in dieser Einöde ganz alleine und ohne Schutz zu sein, liefen ihr kalte Schauer den Rücken herunter. Wer weiß, welch Gesindel sich hier herumtreibt und auf potentielle Opfer wartet. Ihre rege Fantasie spielte da in ihrem Kopf die wirrsten Szenen durch. Dann lieber doch langsam weiter fahren. Noch einmal vergewisserte sich Anja, ob auch alle Türen verriegelt waren. Sie waren es. Das beruhigte sie ein wenig.
Langsam quälte sich das Auto durch den dichten Nebel. Wenn Anja nur wüsste, wo sie sich befand. Irgendwann hatte sie die Orientierung verloren, aber wo? Weit und breit war kein Hinweisschild zu sehen. Immer mehr Verzweiflung machte sich in ihr breit. Dazu kam nach und nach auch noch Angst, die sich wie eine eiserne Kralle um ihren Hals schloss. Die Gegend hier wurde ihr immer unheimlicher.
Nach schier endlos langer Zeit bemerkte die junge Frau die Lichter mehrerer Häuser. Wie froh war sie, nun doch einen Ort erreicht zu haben. Vielleicht würde sie dort eine Pension finden, in der sie übernachten könnte. Hoffnung flackerte in ihr auf. Langsam fuhr Anja durch das kleine Dorf. Da! Endlich! Ein Gasthof. Sehr einladend sah er zwar nicht aus, aber fragen kostet ja nichts. Sie hielt an und ging hinein.
In der Gaststube war kein Mensch zu sehen. Alles war still im Haus, fast zu still. Nur aus der Küche war leises Geklapper von Geschirr zu hören. Als sich Anja umsah, entdeckte sie eine Durchreiche, die wohl zur Küche führte und durch die wohl der Koch das Essen für die Gäste reichte.
Anja nahm allen ihren Mut zusammen und betätigte die kleine Glocke, die da stand. Die Geräusche aus der Küche verstummten, dann hörte sie ein Schlurfen und die Klappe wurde geöffnet. Eine alte, grauhaarige Frau schaute heraus.
„Wer stört um diese Zeit?“, kam es von ihr mit murrender Stimme.
„Entschuldigung“, sagte Anja zu ihr. „Sind sie die Wirtin hier? Ich suche für diese Nacht eine Unterkunft.“ Ihr Herz klopfte heftig, der Schreck war ihr in die Glieder gefahren. Die Alte sah nicht gerade so aus, als würde sie besonders freundlich zu Besuchern sein.
„Moment, ich lasse meinen Sohn holen, der ist hier der Wirt“, murmelte sie und zog die Klappe wieder zu. Dahinter war wieder ein Schlurfen zu hören, dann wurde eine Tür geöffnet und nicht gerade leise wieder geschlossen. „Helmut … gehe mal hoch zu Benno“, hörte Anja sie rufen. „Sage ihm, es sei ein Gast da.“
Jetzt hörte Anja eine männliche Stimme antworten, wahrscheinlich war das dieser Helmut, der eben gerufen wurde: „Ich gehe hoch, Martha!“
Mit ihrer Selbstbeherrschung ringend stand Anja in der Gaststube. So ganz geheuer war ihr das hier nicht. Sie sah sich ein wenig um, dunkle Gemälde zierten die Wände, die von Rauch geschwärzt waren. Die Gardinen hatten auch schon bessere Zeiten gesehen. Besonders einladend war dieser Ort hier nicht, aber was wollte sie machen. Weiter fahren wollte man bei diesem Wetter und dem Nebel, der jede Sicht fast unmöglich machte, keinesfalls. Also hieß es in den sauren Apfel beißen und darauf hoffen, dass der Wirt ein freies Zimmer für sie haben würde.
Ein Räuspern hinter ihr ließ sie zusammen zucken. „Guten Abend“, hörte Anja eine Stimme hinter mir sagen. Erschrocken drehte sie sich um. Sie hatte gar nicht gehört, dass jemand herein gekommen war. Vor ihr stand ein nicht mehr ganz junger Mann in abgewetzten Hosen und einem schmierig aussehenden Hemd. „Sie suchen ein Zimmer für eine Nacht?“, wurde sie gefragt.
„Ja, ich kann unmöglich weiter fahren bei diesem Nebel. Das ist ja lebensgefährlich“, antwortete Anja so ruhig wie möglich. „Hätten sie ein Zimmer für mich?“ Sie versuchte, ihren Schreck vor diesem schmierig aussehenden Typen so gut wie möglich zu verbergen. Er sah, genau wie die Gaststube hier, nicht gerade einladend aus. Allerdings schien er doch etwas freundlicher als die Alte, die da vorhin aus der Küchenluke herausschaute.
„Sie haben Glück. Ein Zimmer ist noch frei“, gab der Mann emotionslos Auskunft. „Das können sie für diese Nacht haben.“
„Sie sind der Wirt hier?“, wollte Anja nun doch noch wissen.
„Ich bin der Wirt und die alte Frau, der sie vorhin begegnet sind, ist meine Mutter. Mein Name ist Benno Kluge“, stellte er sich noch vor. „Stören sie sich nicht am Auftreten meiner Mutter, sie ist immer so zu Fremden.“
„Angenehm. Mein Name ist Anja Schütz“, teilte Anja ihm ihren Namen mit. „Darf ich jetzt das Zimmer sehen? Ich bin sehr müde und möchte mich gerne hinlegen“, fragte sie. „Ich will mich nicht mit ihrer Mutter abgeben, sondern hier nur schlafen“, setzte sie noch hinten dran.
„Natürlich, kommen sie. Ich zeige ihnen ihr Zimmer“, meinte Benno, auf einmal ganz freundlich tuend. Er witterte wohl die Einnahme, die ihm ihre Übernachtung hier einbringen würde.
Benno ging vor Anja her. Er hielt ihr sogar die Tür auf und wies dann die Treppe hinauf. „Ihr Zimmer ist in der oberen Etage. Nicht sehr komfortabel eingerichtet, aber ich denke, für eine Nacht müsste es ausreichend sein. Nur Bad und Toilette sind allerdings auf dem Flur. Wir haben hier ganz selten Gäste, die sich hier in diese abgelegene Gegend verirren“, versuchte er das Manko des Hauses zu erklären.
Anja stieg vor Benno die Treppe hinauf. Sie bemerkte seine Blicke, mit denen er sie immer noch musterte und die sich in ihren Rücken zu bohren schienen.
„Bitte hier entlang“, wies er Anja, als sie oben angekommen waren, den Weg.
Am Ende des langen Flures, der nur spärlich beleuchtet war, wies er auf die letzte Tür. „Hier ist ihr Zimmer“, sagte er und ließ sie eintreten.
Na ja, sehr bequem sieht diese dunkle Bude nicht gerade aus, aber zum Schlafen reicht es, dachte sie sich.
„Danke“, sagte Anja, während sie sich im Raum umblickte.
„Rufen sie einfach, wenn sie noch etwas brauchen“, verabschiedete sich Benno, ehe er sie allein ließ. „Mein Zimmer ist gleich gegenüber.“
Als er endlich gegangen war, atmete Anja erleichtert auf. Ihre Gedanken schlugen Purzelbäume. Auf was habe ich mich hier nur eingelassen? Sie sah sich um, das Zimmer war genau so gruselig wie die Gaststube. Was soll´s, dachte sie sich. Hauptsache schlafen und ein Dach über dem Kopf als in der Dunkelheit durch den Nebel fahren zu müssen und nicht zu wissen, wohin.
Sofort, nachdem sich Anja hingelegt hatte, schlief sie ein. Die Fahrt durch den Nebel und der Streit mit ihrem Freund hatten sie wohl mehr mitgenommen, als sie es sich eingestehen wollte.
Mitten in der Nacht schreckte sie aus dem Schlaf auf. Was war das? Ein Schrei? Hat da jemand um Hilfe gerufen? Sie setzte sich im Bett auf und lauschte. Wieder ein Schrei, diesmal leiser, wie ersterbend. Dann war wieder alles still im Haus. Totenstill…