„Still!“, zischte Anja erschrocken, als plötzlich ein lautes Knacken zu hören war, „sind wir hier auch wirklich sicher?“ Zitternd vor Angst drängte sie sich in die hinterste Ecke.
„Natürlich“, flüsterte Benno, „das Versteck hier kennt niemand und keiner ahnt, dass hinter dieser Wand noch ein Hohlraum ist.“ Dabei grinste er schelmisch wie ein kleiner Bub, der jemandem einen Streich spielen will.
Der Mond sandte einen schmalen Lichtstreifen durch eine Lücke in der morschen Seitenwand. Es war gerade hell genug, dass Anja einige Umrisse und Bennos freundlich lächelndes Gesicht erkennen konnte.
Nur langsam beruhigten sich ihre Nerven, als sie erkannte, dass wohl doch niemand in der Nähe war.
Bennos Vorschlag, doch die Taschenlampe anzumachen, lehnte sie trotzdem ab. „Nein, besser nicht, wir könnten entdeckt werden“, flüsterte sie, dabei angestrengt nach draußen horchend. Ganz geheuer war ihr die Sache hier nicht. Es hätte ihnen doch jemand folgen können, ohne dass sie etwas davon bemerkt hätten.
„Wieso bist du eigentlich hier? Warum schlichst du durch die Nacht? Was führst du im Schilde?“, suchte Benno das Gespräch wieder aufzunehmen.
„Das ist eine lange Geschichte, aber ich mache es kurz“, begann Anja. „Gestern Abend stritt ich mich mit meinem Freund und fuhr voller Wut mit meinem Auto davon. Leider war sehr dichter Nebel, dass ich mich entschloss, irgendwo zu übernachten. So kam ich hierher“, gab sie Benno weiter Auskunft, „du gabst mir ein Zimmer, das weißt du ja.“
„Natürlich“, meinte Benno, „erzähle einfach weiter.“
„Nachdem du mich in mein Zimmer geleitet hattest, ging ich zu Bett. Etwas später wurde ich durch einen Schrei im Haus geweckt. Danach war es totenstill. Mir war ganz gruselig zumute, aber meine Neugier trieb mich trotzdem nach draußen. So belauschte ich ein Gespräch, das wohl nicht für meine Ohren bestimmt war. Mich graust es immer noch, wenn ich daran denke.“ Anja schüttelte sich als würde sie frieren oder sich vor etwas ekeln.
„Was hast du gehört und wo?“, fragte Benno, deutlich war ihm seine Spannung anzusehen.
„Aus dem Zimmer gegenüber dem Treppenaufgang. Ich bemerkte Licht unter der Türe. So schlich ich mich hin und horchte. Drinnen unterhielten sich eine Frau und ein Mann. Die Stimme des Mannes kannte ich, die hatte ich bei meiner Ankunft hier schon gehört, als deine Mutter nach einem Heinrich rief und der ihr antwortete. Die Frauenstimme kannte ich nicht. Es muss aber eine jüngere Frau gewesen sein.“
Benno nickte: „Diese Frau kam vor ein paar Wochen einfach so ins Gasthaus. Sie war etwas älter als ich und erkundigte sich nach Heinrich und meiner Mutter. Daraufhin verzogen sich die drei nach oben in die Wohnung, während ich in der Gaststube bleiben musste. Ich habe keine Ahnung, was da ausgeheckt wurde, aber seitdem wohnt sie in unserem besten Zimmer. Sie meckert nur rum und lässt sich bedienen. Sie führt sich auf, wie wenn sie hier die Wirtin wäre. Fast glaube ich, dass sich meine Mutter und Heinrich vor ihr fürchten.
Seit diesem Tag geschehen hier recht mysteriöse Dinge. Niemand spricht darüber, aber es liegt zweifellos etwas in der Luft. Diese Silvia, von der du vorhin sprachst, verschwand einfach mitten in der Nacht. Ich wusste, dass sie länger bleiben und irgendetwas im Moor erforschen wollte. Als ich das Frühstück zubereitete, war sie weg, mitsamt all ihrem Gepäck und ihrem Auto einfach spurlos verschwunden. Wohin, weiß ich nicht. Niemand verlor ein Wort über sie, obwohl sie ihre Rechnung bestimmt nicht bezahlt hatte. Sogar auf meine Fragen bekam ich keine Antwort. Erst vorhin, als ich euch im Keller überraschte und sie erkannte, war ich derart erstaunt, dass ihr es geschafft hattet, mich zu überwältigen. Nun frage ich mich, was hier vor sich geht.“
„Ich weiß es“, bekannte Anja.
Erstaunt riss Benno seine Augen auf: „Was? Woher? Warum? Komm rede!“
„Aus dem Gespräch, das ich belauscht habe. Die Frau sprach davon, das Auto im Moor versenkt zu haben, nachdem sie Silvia verschleppt hatten. So wie ich heraus gehört habe, sollte Heinrich sie umbringen, was er dann doch nicht über sein Herz brachte.“
„Was haben die nur vor? So ganz geheuer war mir die Sache noch nie. Da stinkt etwas gewaltig zum Himmel“, gab Benno zu.
„Das werden wir hoffentlich herausbekommen“, meinte Anja nachdenklich. „Aber zuerst sollten wir besprechen, wie wir weiter vorgehen, ohne uns in Gefahr zu bringen.“
„Mal eine Frage“, riss Benno Anja aus ihren Gedanken.
Anja schreckte auf. „Ja, frag einfach“, sagte sie zu ihm.
„Wo ist eigentlich diese Silvia“, wollte er wissen.
Anja lächelte, als sie an ihr Fundstück dachte. „Sie ist auf dem Weg zur nächsten Polizeidienststelle“, antwortete sie wahrheitsgetreu.
Erstaunt schrie Benno auf, sich aber fast gleichzeitig den Mund zuhaltend, es hätte jemand hören können. „Wo hast du sie gefunden?“, fragte er weiter.
Wieder grinste Anja schelmisch. „So also kennst du dein Anwesen. Als ich nach dem belauschten Gespräch nicht wieder einschlafen konnte, bin ich durchs Haus geschlichen und habe auch den Gang im Keller und die Stiege hierher in die Scheune entdeckt. Dabei fand ich durch einen Zufall ein kleines Kabuff, in dem Silvia eingesperrt war. Du kamst uns unglücklicherweise dazwischen, als wir hinaus wollten. Was weiter geschah, weißt du ja.“
„Was? Hier drin war sie eingesperrt? Und ich habe sie nicht gefunden?“, wunderte sich Benno, sichtlich erstaunt. „Es war aber auch gemein von euch, mich in die Kühlzelle zu sperren“, fuhr Benno mit grimmig knurrender Stimme fort.
„Silvia und ich trennten uns im Foyer. Ich ging nach oben in mein Zimmer und wollte rasch meine Sachen holen. Silvia wartete in meinem Wagen. Sie sollte losfahren, wenn ich nach einiger Zeit nicht zurückkommen sollte. Allerdings wurde ich in meinem Zimmer bereits von einem Mann, vermutlich Heinrich, erwartet, überwältigt und in den Keller verfrachtet. Bestimmt hatten mir diese Leute dasselbe Schicksal zugedacht wie Silvia. Zum Glück waren meine Fesseln nicht zu fest, dass ich mich befreien konnte. Alles Weitere weißt du ja.“
Anja und Benno saßen einige Zeit schweigend nebeneinander und dachten nach. Bis Benno plötzlich fragte: „Wie sollen wir jetzt weiter machen? Hast du eine Idee?“
Schlagartig wurde Anja die Gefahr bewusst, ich der sie schwebten! Die Türe zum Haus war verriegelt. Dieser Weg war versperrt und hier kamen sie nicht weg! Bestimmt wurden sie bereits vermisst!
„Wir müssen hier raus!“, keuchte Anja, „hier sitzen wir in der Falle!“
Doch Benno schüttelte nur seinen Kopf: „Der einzige Ausgang ist das Tor, aber das ist mit einer Kette abgesperrt. Aber ich sagte doch, dass wir hier sicher sind.“
„Eben nicht“, stöhnte Anja und bohrte die Spitzen ihrer Gabel in den Spalt zwischen zwei Brettern der morschen Außenwand. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, einen schmalen Durchschlupf zu schaffen und ins Freie zu kriechen.
„Gibt es eine Möglichkeit, unbemerkt ins Haus zu gelangen?“, fragte Anja, bereits wieder voller Tatendrang, „wir müssen herausbekommen, was die vorhaben. Dann können wir entscheiden, wie wir weiter machen, falls die Polizei nicht kommen sollte. Diese Frau ist gefährlich, der traue ich alles zu. Wer weiß, wie sie reagiert, wenn sie bemerkt, dass wir weg sind.“
Benno überlegte etwas. Dann sagte er: „So wie ich mich erinnere, habe ich als Kind einen alten Aufgang entdeckt. Die Tür dazu führt zu einer engen Treppe, die im oberen Stockwerk endet. Der Ausgang ist kaum zu entdecken. Ich nehme an, das war früher der Dienstbotenaufgang. Den könnten wir benutzen, ohne dass wir bemerkt werden. Ich hoffe, die Türen lassen sich noch öffnen.“
„Mal noch eine Frage“, wandte sich Anja, nachdem sie ihre Gedanken schweifen ließ, wieder an Benno, „denkst du, die geheimnisvolle Frau, deine Mutter und Heinrich haben etwas gemeinsam?“
Wieder überlegte Benno angestrengt. Man konnte regelrecht sehen, wie seine Gedanken rotierten. „Ich denke schon, ja bestimmt,“, sagte er nach einigen Minuten, „seit diese Frau hier wohnt, ist nichts mehr wie vorher. Irgendetwas ist da faul, aber sehr faul. Aber wer diese Frau ist und was da im Hintergrund läuft, von dem ich nichts wissen darf, ist mir ein Rätsel.“
„Dann müssen wir das Rätsel lösen“, antwortete Anja, „komm, hoch mit dir.“
Die junge Frau sprühte fast vor Entdeckungsdrang, als sie Benno mit sich riss. Die beiden schlichen über den gespenstisch dunklen Hof des Gasthauses. Kein Fenster war erleuchtet, kaum ein Laut war zu hören..
„Hier entlang“, flüsterte Benno,. „der alte Dienstbotenaufgang ist gleich hier um die Ecke.“
Leise tasteten sich die beiden der Hausmauer entlang. Ein schauerliches Kreischen erklang, als Benno die schmale Türe aufzog. Vorsichtig huschten sie die steile Treppe hinauf. Sie schien schon lange Zeit nicht mehr benutzt worden zu sein. Spinnweben hingen in langen Fetzen von der Decke herab. Ab und an war eine Maus zu hören, die vor den Eindringlingen floh. Benno leuchtete mit der Stablampe, während Anja krampfhaft ihre Gabel umklammerte.
Oben angekommen, lauschten sie hinaus in den Flur. Dort war auch alles still. Lautlos zog Benno den Riegel zurück. Dann ein kurzes Rütteln und die Tür gab nach.
Wie erwartet, lag der lange Gang in völliger Dunkelheit vor ihnen. Nur unter der geheimnisvollen Türe, zeigte sich ein schmaler Lichtstreifen.
„Da ist jemand wach“, flüsterte Benno. „Schleichen wir uns hin und horchen mal, was sich da tut.“
Auf Zehenspitzen huschten Benno und Anja auf den Lichtschein zu. Gespannt lauschten sie dort.
Plötzlich war wieder die erregt keifende Stimme der Frau zu hören…