Anja und Benno starrten erschrocken auf Martha, die plötzlich wie aus dem Boden geschossen hinter ihnen stand.
„Mutter, was machst du denn hier?“, fragte Benno, als er seine Stimme wiederfand, „wie hast du uns gefunden?“
„Da war so ein Krach im Haus“, erwiderte sie, „da wollte ich nachsehen. Auf dem Flur entdeckte ich diese seltsamen Fußspuren, wie wenn jemand mit schmutzigen Schuhen durch die Wand gekommen wäre. Da entdeckte ich diese Geheimtür.“
Anja brannte die Zeit auf den Nägeln, sie mussten doch schleunigst weg! Aber Benno erkannte die Gefahr offenbar nicht und vertrödelte wertvolle Zeit mit seinen albernen Fragen. Wohl unbewusst hielt er Anja fest. Verzweifelt versuchte sie, sich losreißen. Aber gegen den kräftigen Mann konnte sie nichts ausrichten.
Als sich hastige Schritte näherten, wusste Anja, dass es kein Entrinnen mehr gab. Sie schalt sich eine Närrin, nach ihrem Ausbruch aus der Scheune nicht gleich weggelaufen zu sein. Die zuvor belauschte Szene, in der die heraneilende Frau ohne jegliche Gefühlsregung bereit war, Silvia umzubringen, raubte Anja jegliche Kraft.
„Irmtraut“, fragte Bennos Mutter erstaunt, als auch Heinrich um die Ecke bog, „was geht hier vor? Warum seid ihr alle hier draußen?“
Inzwischen hatte Irmtraut die völlig gelähmte Anja erreicht und riss ihr die Gabel aus der Hand. Sie warf Heinrich das Stück Seil zu, das sie wohl noch zufällig in den Händen gehalten hatte.
„Los fessle sie!“, befahl sie barsch, „aber richtig! Nicht dass sie uns noch einmal abhaut!“
Anja hörte wohl die Worte, aber sie begriff sie nicht. Erst als Heinrich ihre Hände auf ihrem Rücken verschnürte, löste sich ihre Erstarrung. Benno stand nun neben seiner Mutter, stumm und fassungslos schauten sie auf das Geschehen.
„Los, vorwärts, ins Haus!“, befahl Irmtraut, als Anja sich vor Schreck nicht mehr rühren konnte. Martha und Benno setzten sich widerspruchslos in Bewegung, Heinrich lud sich die zierliche Anja auf seine Schultern. Irmtraut hatte wirklich alle in ihren Bann gezogen, keiner traute sich, ihrem Befehl zu widersprechen.
Im Haus ging es wieder über die steile Treppe hinunter in den Keller. „Aber bitte nicht wieder in den Kühlraum“, bettelte Benno. Ein diabolisches Grinsen stahl sich in Irmtrauts Augen, als sie diese Worte hörte. Sie zerrte ihren Halbbruder dorthin.
„Kühlraum? Das ist eine gute Idee“, rief sie erfreut, „los hinein mit dir!“ Dabei versetzte sie Benno einen derben Stoß in den Rücken. Benno taumelte gegen die Tür, drehte sich um und hob seine Fäuste.
Doch Irmtraut lachte nur und verabreichte ihm eine schallende Ohrfeige.
„Warum schlägst du mich? Denkst du, du kannst dir alles erlauben? Es reicht schon, dass du uns hier alle tyrannisierst!“, schrie Benno mit vor Wut verzerrtem Gesicht die Frau an. „Ich weiß, wer du bist und was du vorhast!“
Wieder kam schallendes Gelächter. Die Frau fühlte sich wohl zu sicher. „Was weißt du schon? Nichts! Gar nichts!“
„Ich habe genug gehört, um zu wissen, mit wem ich es hier zu tun habe! Du bist darauf aus, mir mein Gasthaus wegzunehmen. Angeblich bist du meine Schwester. Ich weiß nichts davon und Mutter hat auch nie etwas erzählt, dass ich noch eine Schwester habe.“ Er drehte sich zu Martha um: „Mutter, das stimmt doch. Ich habe keine Schwester.“ Fast bettelnd kam diese Frage über Bennos Lippen.
Martha trat von einem Bein aufs andere. „Doch“, sagte sie dann leise zu ihm. „Du hast eine Schwester, Irmtraut ist es“, dabei zeigte sie auf die Frau, von der sie mit einem hasserfüllten Blick angesehen wurde. „Heinrich ist der Vater“, gab Martha noch zu.
Benno wurde bleich. „Warum hast du nie etwas gesagt?“
„Ich konnte es nicht. Sie war unehelich. Damals, als sie geboren wurde, war das verpönt. Da wurde man schnell als leichtes Mädchen abgestempelt. Dabei war sie ein Kind der Liebe. So musste ich meine kleine Tochter auf Drängen meiner Eltern schweren Herzens abgeben. Es war ein Fehler, ich weiß. Dabei hätte mich dein Vater auch mit Kind genommen.“ Marthas Stimme klang jetzt weinerlich. Ein Schluchzen schüttelte den alten, von der Arbeit ausgemergelten Körper. „Wenn ich gewusst hätte, was einmal aus ihr werden würde, dann …“ Martha schüttelte nur den Kopf über ihre missratene und herrschsüchtige Tochter.
„Schluss mit dem sentimentalen Gelaber!“, schrie Bennos Schwester. Sie stürzte sich auf ihn und schlug ihn nochmals mit voller Wucht ins Gesicht, dass er fast zu Boden ging.
„So, wird’s bald!“, brüllte diese keifende und vor Wut schäumende Person und griff nach der Türklinke. Mit einem gemeinen Fußtritt beförderte sie ihren Bruder vollends in die Kühlkammer.
„Und du auch gleich!“, Irmtrauts Stimme überschlug sich dabei fast, dabei gab sie der erschreckt aufschreienden Martha ebenfalls einen Stoß. Aus ihren Augen stach der Hass auf ihre Mutter und den Stiefbruder wie ein vergifteter Pfeil in die Haut des Opfers. Die verzweifelten Schreie ihrer Opfer ließen sie kalt, völlig ungerührt verriegelte sie die Tür.
„Los, bringe das Mädchen in die Scheune!“, befahl sie Heinrich, der im Kellergang stand. Dort musste sich auf Anja einen alten, wackligen Stuhl stellen.
„So, und nun erzähle, wieso du hier bist! Wer hat dich geschickt? Bist du von der Polizei? Was wolltest du hier wirklich? Das Märchen von deinem Freund nehme ich dir nicht ab!“, prasselten die Fragen auf die vor Todesangst schlotternde Anja ein.
„Doch, es stimmt. Ich habe nicht gelogen“, verteidigte sich Anja.
„Lüg mich nicht an“, schrie Irmtraut wieder, außer sich vor Wut. „Ich werde dich schon zum Singen bringen, warte nur ab! Du weißt, was dich erwartet, wenn du nichts sagst“, drohte sie weiter. Dabei fuchtelte sie mit dem Seil vor Anjas Nase herum.
Anja nickte nur mit dem Kopf. Trotzig erwiderte sie: „Ich werde nichts verraten, egal, was du mit mir tun wirst. Die Polizei wird bald hier sein und dann ist alles aus mit dir.“
„Die Polizei?“, Irmtraut wurde nun doch ein wenig bleich um die Nase. „Woher soll die Polizei wissen, was hier geschehen ist. Die haben keinen Verdacht.“
Nun war es an Anja, hämisch zu lachen. „Silvia“, sagte sie nur.
„Silvia? Also doch! Du hast die Hände im Spiel, dass sie auf einmal verschwunden ist.“ Irmtraut rückte sich einen anderen Stuhl näher an Anja heran, stieg auf diesen hinauf und warf das Seil über den Balken. Sie angelte nach der Schlinge, die sie ihrer Gefangenen um den Hals legte.