Mit vor Staunen aufgerissenen Augen schaute Anja auf die junge Frau, die ängstlich und zitternd in einer Ecke dieses dunklen Kabuffs saß und geblendet in den Lichtstrahl starrte.
„Was machst du denn hier?“, ergriff Anja das Wort, nachdem sie sich von ihrem eigenen Schrecken erholt hatte.
Die junge Frau zitterte am ganzen Leib und brachte noch immer keine Silbe über ihre Lippen.
Da ging Anja auf sie zu, hockte sich vor ihr nieder. Mit sanfter Stimme redete sie auf sie ein.
Nach schier endlos langer Zeit hatte sich die Frau endlich beruhigt. „Ich bin Silvia“, sprach sie ihre ersten Worte.
„Und wie kommst du hierher?“, fragte Anja.
„Ich sollte im Auftrag der Firma, für die ich arbeite, die Begebenheiten im Moor erkunden. Die Lage dieses Gasthofes war geradezu ideal, also beschloss ich, mir hier für die Zeit meiner Erkundungen ein Zimmer zu mieten. In der Nacht belauschte ich den Streit zwischen einem Mann und einer Frau. Es ging um Erpressung und Mord. Dabei wurde ich ertappt und seither bin ich hier.“
Anja erinnerte sich an die erst kürzlich gelesene Nachricht von einer verschwundenen Frau. „Silvia?“, fragte sie noch einmal.
„Ja“, antwortete die junge, immer noch zitternde Frau.
Zärtlich strich sie Silvia die strähnigen Haare aus dem Gesicht. „Psst“, machte sie dabei, „Wir müssen hier weg, so schnell wie möglich.“
Silvia schaute Anja immer noch ängstlich an. „Keine Angst“, sprach sie mit ruhiger Stimme, „Komm, gehen wir.“ Sie half Silvia auf die Füße. Plötzlich hörten sie das Geräusch einer knarrenden Türe. „Psst“, machte Anja wieder und hielt Silvia den Mund zu, bevor sie sich mit einem unbedachten Schrei verraten konnte.
Schritte näherten sich. Die beiden Frauen blieben erstarrt stehen und wagten nicht, sich zu rühren. „Ich war mir sicher, hier etwas gehört zu haben“, murmelte Benno vor sich hin. Sie hörten ihn in der Scheune herumtappen. Der Schein seiner Taschenlampe war zum Glück nicht stark genug, um bis in das Versteck mit den beiden Frauen vorzudringen. Die offen stehende Gattertür schien er gar nicht zu bemerken.
Endlich, es kam ihnen ewig vor, konnten sie hören, wie Benno die Scheune verließ und die Tür hinter sich schloss. Erst dann atmeten Silvia und Anja erleichtert auf. „Gerade noch mal gut gegangen. „Das war Benno, der Wirt“, flüsterte Anja, „Nun komm, gehen wir. Leise.“
Silvia folgte Anja zu der Tür, durch die Benno eben verschwunden war. Anja versuchte, sie zu öffnen. Aber sie bewegte sich keinen Millimeter. „Mist“, fluchte sie leise, „Wohl versperrt.“
„Versuchen wir es zu zweit“, bot Silva an.
Mit vereinten Kräften rüttelten sie daran, bis die morsche Verriegelung der Tür endlich nachgab und den Weg in den Keller frei gab. Vorsichtig schlichen sie die Treppe hinunter. Anja spähte um die Ecke. „Alles still“, flüsterte sie wieder.
Die beiden Frauen huschten den langen Gang entlang, der zur Treppe ins Foyer führte. Gerade als sie an der letzten Tür vorbeiliefen, erschien plötzlich eine Hand aus der Dunkelheit und fasste grob nach Anjas Arm. „Na, wen haben wir denn hier. Habe ich doch richtig gehört, dass hier was im Argen ist“, frohlockte Benno mit grimmiger Stimme.
Schon kam er aus seinem Versteck hervor. Der Schein seiner Lampe blendete die beiden Frauen. „Nicht nur ein Vögelchen haben wir hier, sondern gleich zwei“, höhnte er mit hämischem Grinsen. Er packte die Frauen an den Armen und versuchte, sie in das finstere Kellerloch zu zerren. Anja und Silvia wehrten sich mit aller Kraft. Dann gelang es Anja, Benno mit voller Wucht gegen das Schienbein zu treten. Er jaulte auf und hielt sich die schmerzende Stelle. Anja trat noch einmal zu, dieses Mal etwas genauer. Benno verzog sein Gesicht zu einer dämonischen Fratze, ehe er halb ohnmächtig vor Schmerz zu Boden sank.
Anja entriss ihm die Lampe. Fies grinsend sah sie den am Boden liegenden Mann an. Der hielt sich sein schmerzendes Familienjuwel.
„Komm, ziehen wir ihn hier rein“, drängte Anja Silvia. „Vielleicht finden wir hier auch etwas, womit wir ihn fesseln können.“
Mit vereinten Kräften wuchteten sie den Mann in den Verschlag. Anja leuchtete den Raum ab. Leider fand sie nichts, womit sie ihn hätten verschnüren könnten. Da fiel ihr die Kühlzelle ein, die sie vorhin begutachtet hatte.
„Hier geht es nicht“, sagte sie zu Silvia, „Weiter hinten im Gang habe ich einen Raum entdeckt, in den wir ihn einsperren können. Da wird er zwar ein wenig frieren, aber daran ist er selbst schuld.“
Wieder zerrten die beiden Frauen den Mann hoch und schoben ihn mit vereinten Kräften durch den Kellergang.
„Hier“, meinte Anja und öffnete die Tür zu der Kühlzelle. Benno versuchte, sich noch einmal zu wehren. Wieder streckte Anja ihn mit einem gezielten Tritt in die gewisse Körperregion zu Boden. „Du wirst doch wohl nicht kneifen?“, sagte sie hämisch zu ihm, „Wer weiß, was du mit uns anstellen wolltest. Jetzt drehen wir den Spieß einfach mal um. Hoch mit dir und rein da!“
Jetzt begann Benno zu wimmern: „Nicht hier rein, das ist die Kühlzelle. Wollt ihr mich umbringen? Vor heute Mittag wird mich da keiner finden.“
„Pech für dich“, sagte Anja und hob noch einmal warnend ihren Fuß, um gegen eventuelle Übergriffe durch Benno gewappnet zu sein. „Und nun, rein mit dir. Sei froh, dass ich tierlieb bin und das Kühlgerät ausschalte. Eigentlich sollte ich dich Schockfrosten anstatt dich zu bedauern.“ Sie gab Benno einen heftigen Stoss, dass er durch die geöffnete Tür stolperte und dahinter zu Fall kam. Schnell verriegelte und verbarrikadierte Anja die Tür hinter ihm. Sie schaltete noch das Aggregat aus und lachte lautlos über Bennos verzweifeltes Wimmern. Aus diesem Gefängnis würde er sich niemals aus eigener Kraft befreien können.
„Nun sehen wir mal zu, dass wir ganz schnell hier wegkommen“, sagte sie zu Silvia.
Die beiden Frauen eilten die glitschigen Stufen hinauf. Im Foyer war alles ruhig, kein Licht war zu sehen.
„Pass auf“, flüsterte Anja zu Silvia. „Mein Auto steht draußen im Hof. Geh du schon mal raus. Halte es startbereit. Ich schleiche mich hoch und hole meine Tasche. Achte auf das Licht hier unten, ich schalte es kurz an, als Zeichen für dich, den Wagen zu starten. Hier, der Schlüssel.“
Silvia starrte Anja erschrocken an. Ihre Lippen zitterten als würde sie gleich anfangen zu weinen. „Bitte nicht. Ich habe Angst. Lass mich mit nach oben kommen.“
„Bitte mach, keine Angst und sei leise. Ich beeile mich“, versuchte Anja die bebende Silvia zu beruhigen, „Hier, nimm meine Uhr. Falls ich in fünf Minuten nicht zurück sein sollte, fahre los und suche die nächste Polizeistation. Die werden mich hier raus holen. Wenn sie uns beide erwischen sollten, ist alles verloren. Das was ich heute Nacht belauscht habe, war erschreckend. Bei denen hier muss man mit allen rechnen. Also mache bitte, was ich sage.“
Silvia zitterte wie Espenlaub. „Gut“, willigte sie dann doch zögernd ein, „Machen wir es so. Ich warte auf dein Zeichen. Wenn du in der verabredeten Zeit nicht da sein solltest, fahre ich los.“
„Braves Mädchen“, flüsterte Anja und küsste Silvia leicht auf die Wange, „Und nun, ab mit dir.“
Sie blickte Silvia noch nach, wie sie den ungemütlichen Gasthof verließ und die Tür vorsichtig hinter sich schloss. Erleichtert atmete Anja auf. Jetzt schlich sie leise über die Treppen ins Obergeschoss. Auch hier war alles ruhig. Schnell erreichte sie ihr Zimmer, huschte hinein und knipste das Licht an.
„Hier ist ja das Vögelchen“, hörte Anja auf einmal eine dunkle Stimme hinter sich. Das letzte, was sie noch wahrnahm, war eine Art Lappen, der auf ihr Gesicht gepresst wurde. Sie bemerkte einen beißenden Geruch, dann schwanden ihr die Sinne.