Benebelt sackte Anja zu Boden. Ihr Körper fühlte sich schlaff und gefühllos an, ihr Hirn war wie in einem Alkoholrausch. Obwohl sie sich gegen diese Ohnmacht sperrte, gelang es ihr nicht, ihre Bewegungen zu kontrollieren. Zum Glück waren ihr die Sinne nicht ganz geschwunden. Mit aufgerissenen Augen blickte sie auf den Mann, der über ihr stand und sie fies grinsend anstarrte. Sie kannte ihn nicht, aber seine Stimme kam ihr bekannt vor. War er es, den sie vor nicht allzu langer Zeit hinter der Tür gegenüber des Treppenaufganges gehört hatte?
„Hier ist ja unsere Ausreißerin!“, vernahm sie die Worte des Unbekannten. Sie wollte etwas erwidern, aber ihre Kehle schien wie zugeschnürt. Als sie sich aufrappeln wollte, bemerkte sie, auch ihre Glieder reagierten nicht. Verzweifelt bemühte sie sich, aber es war unmöglich, sie war wie gelähmt.
„Versuche es gar nicht erst, das schaffst du nicht!“, ließ sie der Mann dreckig lachend wissen, „Du kannst zwar alles verstehen und erkennen, aber du kommst nicht weg.“
Der Mann beugte sich über Anja und hob sie auf, als wäre sie eine leichte Puppe und keine Frau von ein Meter siebzig und fünfundsiebzig Kilo. Er trug sie zum Bett und legte sie darauf. Dann kramte er in einem Schrank. Dabei murmelte er einige Worte, die sie nicht verstand.
Anja war keineswegs eine ängstliche Person, im Gegenteil. Sie versuchte ständig, Situationen, auch brenzlige, zu meistern und sich der Herausforderung zu stellen. Immer wieder bemühte sie sich, sich aufzurappeln, aber es gelang ihr nicht. Es war wie verhext. Dafür arbeitete ihr Kopf auf Hochtouren. Geistig war sie hellwach, auch wenn ihr Körper nicht auf die Signale ihres Gehirns reagierte.
Wieder lachte der Typ, als er Anjas erfolglose Versuche bemerkte. Er kam auf sie zu. Seine Silhouette wirkte im fahlen Licht des Mondes, das durch das Fenster ins Zimmer drang, drohend, ja beängstigend. Als sie erkannte, dass er ein Seil in seinen Händen hielt, weiteten sich ihre Pupillen. Nun war doch Angst in ihr Gesicht geschrieben. Erst stopfte er ihr einen Lappen in den Mund und drehte sie anschließend grob auf den Bauch. Hastig verschnürte er ihre Hand- und Fußgelenke. Die Fesseln saßen so stramm, dass Anja gepeinigt aufstöhnte.
Dann wurde sie aufgehoben, ins Erdgeschoss getragen und hinter der zuvor geöffneten Kellertüre auf die Stufen gesetzt. Während Anja schlaff und willenlos holpernd die steile Stiege nach unten glitt und sich dabei ihre Arme aufschürfte, wurde die Türe wieder geschlossen und verriegelt.
Unten blieb Anja vor Schmerzen wimmernd liegen. Zum Glück hatte sie sich nicht ernsthaft verletzt. Doch jeder Körperteil tat ihr weh, die wiederholten Schläge der Stufen gegen ihren Nacken hatten sie an den Rand einer Ohnmacht getrieben. Hilflos lag sie in völliger Dunkelheit auf dem kalten, glitschigen Steinboden. Verzweifelt fragte sie sich, was wohl weiter mit ihr geschehen würde. Immerhin spürte sie ein Kribbeln in ihren Armen, ein Zeichen, dass ihre Lähmung wohl langsam zurückgehen würde.
Zur gleichen Zeit im Hof des Gasthauses:
Nachdem Silvia die Haustüre geräuschlos hinter sich zugezogen hatte, huschte sie schnell zu Anjas Wagen, der, wie beschrieben, etwas abseits im Hof geparkt war. Der Schreck fuhr ihr durch alle Glieder, als die Innenbeleuchtung anging. Hastig legte sie den Schalter um und lehnte sich erleichtert zurück, als sie wieder im Dunkeln saß. Sie verriegelte die Türen und suchte fahrig nach dem Zündschloss. Probehalber drehte sie den Schlüssel und atmete beruhigt auf, als die Armaturenbeleuchtung anging.
Es begannen fünf ewig lang scheinende Minuten des Wartens. Silvia hoffte und betete, dass Anja endlich heraneilen würde. Bangend blickte Silvia auf die Eingangstüre des Gasthauses und behielt auch die Umgebung im Auge. Je mehr sie in die neblige Einöde starrte, umso mehr stieg eine erbärmliche Angst in ihr hoch. Jeder Baum, jeder Busch schien sich zu bewegen, überall sah sie schemenhafte Gestalten, welche ihr böse gesinnt schienen. Sie wartete und wartete, quälend langsam vertickten die Sekunden. Doch das vereinbarte Zeichen kam nicht. Dafür wurde das Licht plötzlich angeschaltet und nicht, wie ausgemacht, schnell wieder gelöscht.
Nun war es um Silvias Nerven endgültig geschehen! Zitternd griff sie nach dem Zündschlüssel. Doch trotz ihrer lähmenden Angst, entdeckt und wieder eingesperrt zu werden, konnte sie sich nicht entschließen, ihre Retterin ihrem Schicksal zu überlassen. Was war im Inneren des Hauses geschehen? Obwohl die vereinbarten Minuten bereits längst verstrichen waren, entschloss sie sich, noch etwas länger zu warten. Aber nichts geschah. Ihre neue Freundin kam nicht. So entschied sich Silvia schweren Herzens, doch alleine loszufahren. Der Mond spendete trotz Nebel genügend Helligkeit, dass sie die verlassene Straße auch ohne Licht erkennen konnte. Erst nach einigen hundert Metern schaltete sie die Scheinwerfer ein und raste los, als wäre der Teufel hinter ihr her.
Zurück zu Anja:
Inzwischen hatte Anja ihre Lähmung beinahe überwunden, auch ihre Kopfschmerzen hatten nachgelassen. Verzweifelt, aber erfolglos versuchte sie, den Knebel aus ihrem Mund zu drücken. Weiter nutzte sie die Zeit, ihre Lage zu überdenken und sich Pläne für ihr weiteres Vorgehen zu machen. Zwar tat ihr alles weh, aber sie zwang sich dazu, die Nerven zu behalten und nicht in Panik auszubrechen.
Ihre Gedanken flogen zu Silvia, die im Hof des Gasthauses auf sie warten sollte. Sie hoffte inbrünstig, Silvia hatte ihre Anweisungen befolgt und war zur nächsten Polizeidienststelle unterwegs. Die abgesprochenen fünf Minuten waren längst verstrichen. Im Haus war alles ruhig geblieben, kein Ton war zu hören, die Stille war fast unheimlich. War das ein gutes Zeichen? War ihre Kollegin unentdeckt geblieben und wirklich losgefahren? Oder wurde sie auch betäubt und lautlos ins Haus zurückgebracht? Dann allerdings sähe es schlecht aus.
Doch diese Gedanken waren müßig, Anja musste etwas unternehmen. Trotz ihrer Schmerzen riss und zerrte sie an ihrer Fesselung. Tief schnitt das Seil in ihre aufgeschürfte Haut. Verbissen ignorierte sie den Schmerz. Sie jubelte innerlich auf, als sich der Knoten endlich lockerte und sie eine Hand freibekam. Trotz ihrer klammen und geschundenen Finger hatte sie sich daraufhin rasch von ihrem Knebel und den Fußfesseln befreit.
Als Erstes musste sie sich eine Waffe besorgen, mit der sie sich wenigstens notdürftig zur Wehr setzen konnte. Zum Glück war sie erst kürzlich hier unten gewesen, so dass sie sich trotz absoluter Dunkelheit einigermaßen zurechtfand. Auf noch immer schwachen Beinen tastete sie sich der Wand entlang, bis sie die offene Türöffnung zu einem der Vorratsräume erreichte.
Sie fand einen Lichtschalter und gleich darauf wurde sie vom trüben Licht einer total verdreckten Lampe geblendet. Die Kartoffeln aus einem Regal waren als Waffe wohl wenig geeignet, die Konservendosen würden sich wenigstens als Wurfgeschosse verwenden lassen. Doch zu ihrer Überraschung entdeckte sie eine große, auf dem Boden liegende Taschenlampe. Fast wäre sie darüber gestolpert.
Schlagartig fiel ihr Benno ein, bestimmt hatte er diese hier deponiert, als er auf Silvia und sie gewartet hatte. Blitzschnell griff sie nach der schweren Stablampe, damit standen Anja Licht und gleichzeitig noch eine ordentliche Keule zur Verfügung.
Doch ihre Gedanken richteten sich nun auf ihren Gefangenen. Wie mochte es ihm wohl ergehen? Oder war er längst befreit worden? Egal, sie musste es wissen! Klar, er war ihr Widersacher, aber sie hätte es sich niemals verzeihen können, wenn er durch ihr Handeln zu Schaden kommen würde.
Also löschte sie das Licht und schlich sich nur im Schein ihrer erbeuteten Taschenlampe zur Türe der Kühlkammer. Lautlos zog sie den Riegel zurück, öffnete die Türe und richtete das Licht durch den schmalen Spalt in den frostigen Raum.
Erschrocken prallte sie zurück, als der Schein auf die zusammengekauerte Gestalt traf. Bennos kalkweißes Gesicht mit den geschlossenen Augen jagten ihr einen gehörigen Schrecken ein.
„Lass mich raus!“, krächzte er mit rasselnder Stimme, öffnete seine Augen und rappelte sich mühsam im Zeitlupentempo auf.
Anja war erleichtert und fürchtete sich gleichzeitig. Benno konnte bestimmt nicht erkennen, wer da an der Türe stand. Deshalb rief sie ihm zu:
„Ja, ich lasse dich raus, aber erst wenn du mir versprichst, mir nichts zu tun! Euer Spiel ist aus! Silvia, die andere Frau ist weg und wird mit der Polizei zurückkommen! Du kannst nur noch gewinnen, wenn du mir jetzt hilfst!“
Bei ihren Worten war Benno deutlich zusammengezuckt. Zweifelsohne hatte er die Stimme erkannt. Heftig nickte er mit dem Kopf und stammelte: „Bitte, lass mich raus, ich erfriere sonst.“
Er war zwar nicht gerade der Hellste, aber Anja hoffte doch, dass er ihren Hinweis auf die Polizei verstanden hatte und retten wollte, was noch zu retten war. Entschlossen zog Anja die Türe auf und trat zwei Schritte zurück. Krampfhaft umklammerte sie die Lampe, bereit, beim kleinsten Angriffsversuch hemmungslos zuzuschlagen.
Doch Benno dachte gar nicht daran, sich ihr zu nähern. Fast steif gefroren, wie er vor ihr stand, wäre er auch gar nicht in der Lage dazu gewesen. Natürlich nützte sie seinen erbärmlichen Zustand sofort aus und fragte, wie sie hier herauskommen könnten.
Stumm deutete er auf die Treppe nach oben. Aber diese war ja zugesperrt. Als Anja ihm das erklärt hatte, schüttelte er nur den Kopf. Daraufhin erzählte er von einem Versteck, das nur er kenne und sie sich somit in Sicherheit bringen könnten.
„Also nichts wie los!“, forderte sie ihn auf, denn jeden Moment konnte der Fremde wieder auftauchen und ihre Pläne vereiteln. Steifbeinig setzte sich Benno in Bewegung, Anja folgte ihm in gehörigem Sicherheitsabstand.
Bald wusste sie, dass er den Weg zur Scheune einschlug. Ihre Befürchtung, er würde ihr Silvias Verschlag anbieten, traf nicht zu. Stattdessen zwängte er sich zwischen der Wand und einem kaputten Wagen hindurch.
Im Vorbeigehen griff Anja nach einem herumstehenden Gartenwerkzeug, einer Gabel mit drei scharfen Spitzen. Das war nun eine wirkliche Waffe, mit welcher sie sich gleich viel wohler fühlte.
Benno hatte inzwischen einen kaum sichtbaren Durchschlupf zu einer kleinen Nische erreicht. Tatsächlich, wer diese nicht kannte, würde sie kaum entdecken können. Schon gar nicht in der Nacht. Nun hoffte Anja, würde ihre Rettung noch vor Tagesanbruch erfolgen.
Nur eines bereitete ihr Sorge. Bennos Zähne klapperten derart lautstark, dass das beste Versteck nichts nutzte. Wenn wirklich jemand käme, würde er es sofort finden. Doch nach einiger Zeit besserte sich sein Zustand. Das beruhigte Anja ungemein, dies nicht zuletzt, weil er noch immer keinerlei Anstalten machte, sie zu belästigen.
„So, nun erzähle mal, was hier eigentlich gespielt wird“, forderte Anja ihn auf, als sie ihre Neugier nicht mehr bezähmen konnte, „Wieso wurde Silvia eingesperrt und was sollte mit mir geschehen?“
Benno blickte Anja mit ausdruckslosen Augen an, schüttelte den Kopf, räusperte sich und begann zu reden: „Ich weiß nichts genaues, aber seit diese Frau...