An einen erholsamen Schlaf war allerdings nicht zu denken. Immer wieder schreckte Anja hoch. Stets vermeinte sie, Schritte im Flur zu hören. Ihr schien, diese würden sich ihrer Tür nähern und davor stehen bleiben. Sie schalt sich schon bald als dumme Trine, die sich vor Angst fast in die Hose machte.
Sie versuchte zwar, das Gehörte vorerst zu verdrängen und erst am Morgen nach Spuren zu suchen. Trotzdem ließ sie der Gedanke nicht los, dass sie die Nächste sein könnte, die auf Nimmerwiedersehen im Moor verschwindet. Schweißgebadet saß sie im Bett und überlegte krampfhaft, wie sie weiter verfahren sollte. Sie wusste, beziehungsweise ahnte, sie war in Gefahr und sollte hier so bald wie möglich verschwinden. Ihre Gedanken schlugen Purzelbäume. Aber je mehr sie nachdachte, desto weniger kam sie der Lösung näher. Im Gegenteil, das Gehörte wurde immer unverständlicher.
Anja knipste die kleine Nachtlampe an, die auf der Kommode neben dem Bett stand. Angestrengt dachte sie nach. Dann entschloss sie sich, der Sache gleich jetzt nachzugehen.
Sie stand auf und zog sich wieder an. Lautlos öffnete sie ihre Zimmertür. Vorsichtig spähte sie hinaus. Das Licht am Ende des Flures war erloschen. Im Haus war es still, nur Bennos Schnarchen klang leise aus dessen Zimmer.
Anja schlich zu der Tür, an der sie vorhin gelauscht hatte. Die geheimnisvollen Stimmen waren verstummt, kein Laut war zu hören. So beschloss sie, einen Rundgang durch das Haus zu machen. Sie huschte zurück in ihr Zimmer und holte die kleine Taschenlampe, die sie neben ihrem Netbook immer in ihrer Tasche bei sich trug. Jetzt würde ihr die Lampe große Dienste leisten, denn volle Festbeleuchtung durfte sie sich keinesfalls erlauben.
Sie ging wieder hinaus und zur Treppe. Nachdenklich stand sie am Absatz und überlegte, ob sie auf dem Dachboden mit ihrer Suche beginnen sollte oder doch lieber im Keller. Aber dann entschloss sie sich, ganz unten anzufangen. Die Schlafräume lagen alle hier oben, deshalb war die Gefahr, bei ihrer Schnüffelei entdeckt zu werden, im Untergeschoss bestimmt am geringsten. Diese Örtlichkeit war ihrer Meinung nach auch ein gutes Versteck für Dinge, die nicht gleich ans Tageslicht kommen sollten.
So huschte sie die steile Treppe hinab ins Erdgeschoss. Die Türe zur Küche kannte sie, diese interessierte sie weniger. Doch sie wollte systematisch vorgehen und keinen Raum auslassen. Sie entdeckte allerdings nichts, was ihr Interesse weckte. Eine weitere Tür führte sie zur Gästetoilette. Dort erwartete sie kaum einen Zugang zum Keller. Anja schaute sich trotzdem um, man weiß ja nie.
Als sie dort ebenfalls nichts Verdächtiges entdecken konnte, öffnete sie nacheinander sämtliche Türen, welche sie im Foyer entdecken konnte. Dann endlich! An der muffigen Luft und der steil nach unten führende steinernen Treppe erkannte sie, dass sie ihr erstes Teilziel erreicht hatte. Anja leuchtete die Stiege so gut wie möglich mit ihrer Lampe aus. Auf keinen Fall durfte sie auf den glitschigen Stufen ausgleiten. Wer weiß, wie viele Stufen die Treppe aufwies und wo sie landen würde.
Der Keller war sehr dunkel. Anscheinend gab es hier keine Fenster. Beidseits des Ganges gingen Türen ab, die meisten waren nicht verschlossen oder hatten gar kein Türblatt. In einigen Räumen befanden sich Regale mit Lebensmitteln, welche wohl für die Gaststätte gebraucht wurden. Eine Kühlzelle erregte Anjas besonderes Interesse. Leider fand sie auch da nichts, was nur ein winziger Hinweis auf die verschollene Frau sein könnte.
Als Anja die letzte Tür am Ende des Ganges erreicht hatte und diese erwartungsvoll öffnete, stieß sie vor Erstaunen fast einen Schrei aus. Hier verbarg sich eine weitere Treppe, die wieder nach oben führte. Im schwachen Schein ihrer Taschenlampe stieg Anja vorsichtig hinauf. Die Tür am Ende der Treppe war leider verschlossen. Doch mit etwas Mühe ließ sich der Riegel unter schauerlichem Quietschen zurückziehen. Anja musste all ihre Kraft aufwenden, ehe sie endlich die Tür aufstoßen konnte.
Staunend stand sie in einer Art Scheune oder Stall. Es war still hier, nur das Rauschen des Windes, der ums Haus wehte, war zu hören. Plötzlich! Ein leises Wimmern.
Anja horchte auf. Wieder ein leises Wimmern. Woher kam das?
„Hallo, ist da jemand?“, rief sie in den Raum.
Stille. Wieder rief Anja: „Hallo, wer ist da? Zeige dich bitte.“
Sie leuchtete mit ihrer Lampe in jede Ecke. Vorsichtig bewegte sich Anja durch die Scheune. Ab und an hörte sie dieses Wimmern, nach dem sie sich orientierte. Endlich bemerkte sie eine Gattertür, die hinter den davor aufgereihten Harken und anderen Gartenwerkzeugen kaum zu erkennen war.
„Hallo, ist da jemand?“, fragte Anja wieder, diesmal etwas lauter.
„Hier“, hörte sie endlich eine piepsige Stimme ganz nah. „Ja, hier, ich sehe ihr Licht.“
Hastig räumte Anja den Weg frei und riss mit aller Kraft an der Türe. Auf alles gefasst, ließ sie den Lichtstrahl ihrer Lampe durch den offensichtlich sorgfältig verborgenen Raum wandern. Trotzdem traute sie ihren Augen kaum, zu unfassbar war das, was sie da erkennen musste...