Wie erstarrt saß Anja auf ihrem Nachtlager und horchte gespannt hinaus. Aber es blieb weiterhin still im Haus. Zu still ihrer Meinung nach. Es war nahezu unheimlich. Sie schlüpfte aus dem Bett und schlich sich auf Zehenspitzen zur Tür. So leise wie möglich öffnete sie diese und spähte vorsichtig hinaus. Der Flur war dunkel, nur am anderen Ende des Flures, gegenüber des Treppenaufgangs, kam ein schwacher Lichtschein unter einer Tür hervor.
Anja huschte hinüber zu Bennos Tür. Aus seinem Zimmer war aber nur ein Schnarchen zu hören. Am liebsten wollte Anja bei ihm klopfen und ihn bitten, doch nachzuschauen, woher dieser Schrei kam. Aber dann dachte sie, ihn deswegen zu wecken, wäre unsinnig. Er würde sie garantiert auslachen. Wer weiß, was sie da gehört hat. Vielleicht hatte sie auch nur einen schlechten Traum. So lief sie zurück in ihr Zimmer und legte sich, nachdem sie das Licht gelöscht hatte, wieder zu Bett.
Innerlich immer noch unruhig lag sie in ihrem Bett und horchte hinaus. Ob dieser mysteriöse Schrei wieder kommen würde? Wer war das, der da um Hilfe zu schreien schien. Mit diesen Gedanken schlief sie wieder ein. Aber immer wieder schreckte sie aus ihrem unruhigen Schlaf hoch, da sie Schritte auf dem Flur vernahm, die sich leise ihrer Tür näherten. Aber jedes Mal, wenn sie hinaussah, um nachzuschauen, war niemand auf dem Flur zu sehen. Nicht mal ein Schatten war zu sehen. Inzwischen schalt sie sich schon selbst eine dumme Kuh, die wegen jeder Bewegung hochschreckt und sich vor Angst fast in die Hose macht.
Aber dann nahm sie doch ihren ganzen Mut zusammen und schlich wieder hinaus. Die unheimlichen Bewegungen und Geräusche auf dem Flur machten sie nun doch neugierig. Ihr Entdeckersinn war geweckt. Sie musste unbedingt herausfinden, was da los ist und wer ihr ihre nötige Nachtruhe raubte.
Als sie sich umschaute, bemerkte sie, dass der Lichtschein unter der Tür gegenüber der Treppe immer noch da war. So ging Anja auf leisen Sohlen dort hin und legte ihr Ohr an die Tür. Gespannt horchte sie, ob sich etwas darinnen bewegte. Aber auch dort war eine unheimliche Totenstille, obwohl sie eben noch Schritte dahinter gehört hatte. Wer wohl in diesem Zimmer wohnt? War es Martha, die Mutter Bennos oder der ihr noch unbekannte Helmut? Sie wusste es nicht.
Plötzlich war hinter der Tür ein finsteres Lachen zu hören. Kurz darauf hörte Anja eine weibliche Stimme: „Was willst du von mir? Lass mich in Ruhe!“ Die Stimme war der der alten Frau, die Benno als seine Mutter bezeichnete, sehr ähnlich.
Anja horchte gespannt weiter. „Das weißt du ganz genau, was ich will. Geld will ich! Und zwar sehr viel Geld“, hörte sie eine tiefe männliche Stimme sagen.
„Hast du nicht schon genug aus mir heraus gequetscht? Ich habe fast kein Geld mehr.“, kreischte die Frau. Ihr Tonfall überschlug sich fast, so aufgeregt sprach sie. „Du kannst den Hals nicht voll bekommen!“
Wieder kam dieses Lachen. „Dafür wirst du nie genug zahlen können. Wenn ich meinen Mund halten soll, wirst du zahlen müssen.“ Es entstand eine kurze Pause. „… oder die Polizei erfährt alles, was hier mit den späten Gästen geschieht, die immer wieder auf mysteriöse Art und Weise verschwinden.“
Erschrocken hielt sich Anja den Mund zu. Fast hätte sie sich verraten. Was meint dieser Mann mit auf mysteriöse Art und Weise verschwinden, dachte sie sich. Sie legte ihr Ohr wieder an die Tür und horchte weiter.
„Wer soll mir was beweisen?“, kreischte die Frau wieder. „Niemand kann mir was beweisen, auch du nicht. Alles, was auf die verschwundenen Gäste hinweisen könnte, ist auf Nimmerwiedersehen im Moor verschwunden. Das weißt du genau so gut wie ich.“
„Das denkst du“, gab der Mann lachend zu. „Ich habe noch Beweise und die reichen aus, auch dich auf Nimmerwiedersehen in Knast verschwinden zu lassen. Ich würde mir da zwar auch einen Strick drehen, weil ich dir geholfen habe. Aber das wäre mir es wert, dir ins Handwerk zu pfuschen. Nur um an Bennos Erbe zu kommen, tust du alles. Sogar über Leichen gehst du. Davon sind inzwischen ja genug da.“
Diesmal war es an der Frau, einen erstaunten Ruf auszustoßen. „Du hast was?“, stotterte sie. „Welche Beweise?“
„Denk mal an die junge Frau letztens. Erinnerst du dich? Die mit dem roten Auto.“
„Von der ist alles weg“, sagte die Frau.
„Nein, ist es nicht. Ich habe ihren Pass und die Autopapiere“, meinte der Unbekannte hinter der Tür. „Die Frau ist auch noch am Leben“, bekannte er weiter.
„Aber wieso noch am Leben?“, hörte Anja einen entsetzten Schrei, den die Frau ausstieß. „Du solltest doch...“
Das Kreischen der Frau wurde wieder von einem hämischen Lachen des Mannes unterbrochen: „Nein, habe ich nicht. Sie lebt noch.“
„Wo ist sie dann?“, fragte die weibliche Stimme, jetzt fast ängstlich.
Ein Kichern war zu hören. „Ich habe sie versteckt. Wer weiß, wofür wir sie noch gebrauchen können. Ein Mord war mir doch etwas zu viel.“
Anja stand wie auf Kohlen. Sie wagte es fast nicht, sich zu bewegen. Ihr kam dieses Haus hier vom ersten Moment an unheimlich vor, so als würde es ein gruseliges Geheimnis beherbergen. So war es auch, wie sie eben feststellen musste. Leise schlich sie sich in ihr Zimmer zurück und schloss sorgfältig die Tür hinter sich ab. An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken.
***
Nachdenklich setzte sie sich auf ihr Bett. Dann kam sie auf eine Idee. Zum Glück hatte sie immer ihr Netbook dabei und ihren UMTS-Stick. Sie holte den Computer aus ihrer Tasche und startete ihn. Als die Internetverbindung stand, machte sich Anja auf die Suche.
Sie gab ein: mysteriöses Verschwinden einer jungen Frau und rotes Auto.
Nach einiger Zeit des Suchens wurde sie fündig. Sie las die Schlagzeilen einer Zeitung von vor ein paar Tagen: Junge Frau auf mysteriöse Weise verschwunden. Silvia B., Mitarbeiterin einer Firma, die sich auf Trockenlegung von Mooren spezialisiert hatte, mietete sich nach Auskunft ihres Arbeitgebers im Gasthaus in A. ein, um von dort aus ihre Erkundungen im Moor zu machen. Sie verschwand in der ersten Nacht ihres Aufenthaltes. Der Wirt des Gasthauses Benno K. konnte keine Angaben über das Verschwinden der Frau machen. Die Polizei ermittelt weiterhin in dem Fall. Sachdienliche Hinweise bitte an die Polizeidienststelle in F …
Anja überlegte angestrengt. Der Zielort der verschwundenen Frau liegt doch hier auf der Strecke. Sie hat also hier angehalten und hier wurde sie auch ein letztes Mal gesehen. Es muss also einen Zusammenhang mit dem Verschwinden dieser Silvia und diesem Gasthaus hier geben. Zwischen hier und A. ist ein großes Moor, wo man ohne Probleme etwas verschwinden lassen könnte. Garantiert auch Menschen oder Autos. Aber wenn Silvia noch am Leben sein sollte, wie Anja eben gehört hatte, musste sie irgendwo versteckt sein. Vielleicht auch hier im Haus oder auf dem Grundstück.
Sie nahm sich vor, der Sache hier auf den Grund zu gehen. Aber erst musste sie ein wenig schlafen. Ausgeruht und mit wachem Verstand sucht es sich besser als müde. Anja vergewisserte sich nochmals, ob die Tür und das Fenster auch richtig abgeschlossen waren und es auch sonst keinen anderen Zugang zu diesem Zimmer gab. Dann fuhr sie das Netbook herunter, verstaute es wieder sicher in ihrer Tasche und legte sich zu Bett. Mit Gedanken an die unbekannte verschwundene Frau fiel sie in einen unruhigen Schlaf…