Der Konvoi der Polizeifahrzeuge näherte sich langsam dem Gasthaus, in dem Silvia gefangen gewesen war. Die junge Frau fuhr mit. Aufgeregt saß sie in einem der letzten Fahrzeuge. Der Fahrer widmete seine volle Aufmerksamkeit der Straße, während der zweite Beamte Silvia weiter befragte.
„Erzählen sie bitte mal etwas genauer, was ihnen dort widerfahren ist“, begann er.
Silvia überlegte angestrengt. Wie viele Tage war sie eigentlich in diesem stinkenden Kabuff eingesperrt gewesen, ehe sie durch einen Zufall von Anja gefunden wurde. Wer weiß, was mit ihr geschehen wäre, hätte Anja sie nicht entdeckt. Sie gab sich einen Ruck und erzählte ihre Geschichte:
„Mein Arbeitgeber erteilte mir den Auftrag, das dortige Moor zu untersuchen. Eigentlich wollte ich abends wieder zurück nach Hause fahren. Ich wohne nicht sehr weit weg, so dass es sich nicht lohnen würde, hier zu übernachten. Allerdings trat ein Problem am Kühler meines Autos auf. Deshalb war ich gezwungen, doch dieses Gasthaus aufzusuchen. Der Wirt, dieser Benno Kluge, war recht zuvorkommend. Er bot mir sogar an, den Wagen in eine Werkstätte zu bringen. Die drei anderen Personen, die mir dort begegneten, waren mir von Anfang an nicht ganz geheuer. Aber das war erst einmal egal. Die Hauptsache war für mich, für die Nacht ein Dach über dem Kopf zu haben. Doch dass es in dieser Kaschemme nicht mit rechten Dingen zuging, konnte ich nicht ahnen.“
Der Polizist hörte sehr aufmerksam zu und machte sich fortwährend Notizen. Er ließ Silvia genug Zeit, ihre Gedanken zu ordnen.
Nach einiger Zeit fuhr die Frau mit ihrem Bericht fort: „Als Benno mir mein Zimmer gezeigt und sich zurückgezogen hatte, ging ich zu Bett. Mitten in der Nacht wurde ich wach, weil ich zur Toilette musste. Im Flur hörte ich, wie sich in einem der Gästezimmer zwei Personen recht laut unterhielten. Es klang so, als würden sie sich streiten. Neugierig horchte ich an der Tür. Leider trat ich auf eine knarrende Diele, deshalb wurde ich bemerkt. Inzwischen hatte ich aber schon genug gehört, dass die Frau, die sich Irmtraut nannte, die Stiefschwester des Wirtes ist. Sie wollte sich an ihm rächen, in dem sie das Gasthaus unbeliebt machen würde. Er sollte so weit gebracht werden, dass er die Wirtschaft aufgibt und ihr überschreibt. Falls das nicht der Fall sein sollte, wollte diese Irmtraut ihn entsorgen, wie sie sich ausdrückte. Und Heinrich, keine Ahnung, wer das ist, sollte ihr dabei behilflich sein.“
Silvias Stimme stockte, mit Schaudern dachte sie an jene Nacht zurück. Kreidebleich im Gesicht erzählte sie weiter: „Heinrich und Irmtraut stürzten aus dem Raum, ehe ich mein Zimmer erreicht hatte. Auf ihren Befehl hin musste er mich fesseln und durch den Keller hindurch in die Scheune bringen. Nach Mitternacht sollte er mich zum Moor bringen und mich in einem Wasserloch ertränken. Sie selber würde sich um mein Fahrzeug kümmern. Zum Glück tat Heinrich nicht das, was diese gruslige Frau wollte. Er ließ mich am Leben und versorgte mich heimlich mit Resten aus der Küche. In der letzten Nacht hatte ich endlich das Glück, durch Anja befreit zu werden. Hoffentlich ist meiner Retterin nichts zugestosssen. Bestimmt wurde sie von diesen Ganoven überwältigt.“
„Das ist alles?“, fragte der Polizist, „Denken sie in Ruhe nach. Wenn ihnen noch etwas einfällt, sagen sie es einfach. Es wird ihnen immer jemand zuhören.“
Silvia nickte daraufhin wie in Trance. Mit Grausen dachte sie an die Zeit in ihrem Kerker nach.
Der Polizist streichelte ihr beruhigend über die Hand. „Eine Frage muss ich ihnen noch stellen“, sagte er leise zu ihr. Sehr wohl war ihm bewusst, dass die junge Frau immer noch unter Schock stand. „Wissen sie, wie wir Zugang zu dieser Scheune bekommen. Jede noch so kleine Möglichkeit kann uns da helfen.“
Aufgeregt nickte Silvia mit dem Kopf. „Einen Weg weiß ich, der führt durch den Keller. Dort sind viele Nischen, in denen man sich verstecken kann. Hoffentlich haben sie Glück und erwischen die Bande.“ Die junge Frau rutschte unruhig auf ihrem Sitz herum, so als hätte sie sich in einen Ameisenhaufen gesetzt. „Ach ja“, meinte sie dann noch. „Anja und ich haben Benno in die Kühlzelle eingesperrt. Es könnte möglich sein, dass er immer noch dort ist, falls ihn noch niemand gefunden haben sollte.“
„Sehr gut“, lobte sie der Polizist, „Können sie mir beschreiben, wo sich diese Kühlzelle befindet?“
„Ja, natürlich“, meinte Silvia. „Wenn man vom Foyer aus nach unten in den Keller geht, den langen Gang ganz nach hinten. Da ist eine dicke Stahltür mit einer massiven Klinke. Gleich daneben ist die Treppe, welche nach oben in die Scheune führt.“
Zurück zum Gasthof:
Während sich die Kolonne von Polizeiautos weiter langsam auf das Dorf zubewegte, versuchte Irmtraut weiterhin, Informationen aus Anja herauszupressen. Sie musste unbedingt erfahren, wie viel Anja bereits wusste und wohin Silvia so plötzlich verschwunden war. Sie wusste, dass nur Anja ihr diese Suppe eingebrockt haben konnte. Aber wie hatte sie Silvia finden können?
„Heinrich ist so was von doof“, schimpfte Irmtraut vor sich hin. „Wenn er nicht so blöd gewesen wäre, hätte ich dieses Problem jetzt nicht und du hättest keine Beweise finden können“, grummelte sie in Anjas Richtung weiter vor sich hin. Sie wusste, ihren Plan, nach dem sie gegen Benno vorgehen wollte, konnte sie vergessen. Aber für sie war es noch nicht zu Ende, sie wollte Rache, um jeden Preis. Rache an ihrer Mutter und an Benno, der eigentlich gar nichts dafür konnte. Die beiden sollten dafür büßen, dass sie bisher im Dreck leben musste. Dafür war ihr jedes Mittel recht.
Anja stand immer noch zitternd auf ihrem Stuhl und hoffte innigst, er würde nicht zusammen brechen. Die straff gespannte Schlinge um ihren Hals verursachte ihr jetzt schon Atemnot.
„Willst du mir nicht endlich sagen, was du weißt? Du hast doch garantiert etwas mit ihrem Verschwinden zu tun“, fragte Irmtraut dämonisch grinsend und wackelte am Stuhl.
„Warum sollte ich dir etwas erzählen?“, erwiderte Anja. „Ich weiß, was du im Schilde führt und auf welch widerliche Art und Weise du dein Ziel erreichen wolltest.“
„Also hast du doch gehorcht!“, schrie Irmtraut auf.
„Natürlich habe ich das“, Anja lachte fast, als sie das sagte. „Benno weiß auch, was du vorhast und wir werden dir ins Handwerk pfuschen. Egal wie, aber wir werden es schaffen.“
Das irre Lachen aus Irmtrauts Kehle machte Anja auf einen Schlag klar, dass ihre Stunden wohl gezählt waren, wenn nicht bald Hilfe kam. „Ha, das sagst du so einfach! Bedenke deine Lage. Du wirst mich nicht stoppen und Benno genau so wenig. Der ist ein Depp und so dumm, dass ihn sogar die Hunde beißen. Aber bleiben wir bei dir. Du weißt, was passiert, wenn du nicht singst wie ein Vögelchen“, verkündete Irmtraut Anja, weiterhin hämisch grinsend. Dass Rettung für Anja im Anmarsch sein könnte, bedachte sie in ihrem irren Rausch nicht.
Wieder zu Silvia und den Rettern:
Die Streifenwagen hatten ihr Ziel inzwischen erreicht. Um sich nicht durch den Motorenlärm zu verraten, hatten sie ein ganzes Stück vor dem Gasthaus angehalten. Die Polizisten verteilten sich lautlos um den Gasthof. Durch die Ritzen der Scheune schimmerte Licht, was die Vermutung zuließ, dass sich dort jemand aufhielt. Aber wer?
Leise Befehle wurden erteilt, jeder wusste, was er zu tun hatte. Einer der Beamten horchte am großen Tor, das in die Scheune führte. Er hörte, dass sich darin zwei Personen unterhielten, wobei eine davon der anderen drohte.
„Willst du nun endlich reden?“, fragte eine Frau mit unbeherrschter Stimme.
Daraufhin sprach eine andere Frau. „Niemals!“, verkündete sie mit sichtlich verzweifelter Stimme.
„Tja, dann eben nicht. Du weisst, was das bedeutet? Benno und meine Mutter werden in der Kühlzelle schön langsam erfrieren, in der du die beiden eingesperrt hast. Heinrich und ich werden verschwinden. Kein Verdacht wird auf uns fallen. Es glaubt doch niemand, dass ich meine eigene Mutter umgebracht haben könnte“, keifte Irmtraut, nun völlig von Sinnen, „Du wirst jedenfalls nicht mehr reden! Man wird dich hier finden. Es wird nach Selbstmord aussehen. Du hast dich erhängt, weil du mit den zwei Morden nicht mehr leben konntest.“
Der Polizist am Scheunentor versuchte verzweifelt, einen Blick durch einen Spalt zwischen den Brettern auf die drohende Tragödie zu werfen. Er winkte noch einen seiner Kollegen heran. Als sie endlich etwas erkennen konnten, gefror ihnen fast das Blut in den Adern.
Sie erkannten Anja, wie sie vor Todesangst zitternd auf ihrem Stuhl stand. Irmtraut stemmte ihren Fuss gegen den wackligen Stuhl und weidete sich sichtlich am verzweifelten Gesichtsausdruck ihres Opfers. Ein kurzer Kick würde genügen und es wäre um Anja geschehen.
Inzwischen war sein Kollege zum Einsatzleiter gerannt. Dieser sprach in sein Funkgerät und befahl der im Kellergang bereitstehenden Truppe den sofortigen Zugriff.
Blitzartig und vollkommen unerwartet für Irmtraut stürmten plötzlich mehrere Polizisten die Scheune und überwältigten die Frau. Diese war derart überrascht, dass sie trotz ihrer irren Wut keine Möglichkeit hatte, ihr Vorhaben zu Ende zu führen und den Stuhl unter Anjas Füssen wegzustossen. Die zeternde und wild um sich tretende Frau wurde in Handfesseln gelegt und durch die inzwischen aufgebrochene Scheunentüre abgeführt. Heinrich, der sich unbemerkt davon schleichen wollte, wurde entdeckt und ebenfalls festgenommen.
Anja war von dem schlagartigen Überfall der Polizisten genau so überrascht worden. Ihre Hilfe kam wirklich in letzter Sekunde. Noch aber war sie nicht gerettet, ihr Kreislauf machte nicht mehr mit, ihr wurde schwarz vor Augen.
Doch einer der Polizisten hatte die Gefahr bemerkt, griff nach einem Beil und durchschlug mit einem einzigen Hieb den Knoten, mit dem das Seil am Balken festgebunden war. Ein zweiter Beamter stürzte hinzu und fing die taumelnde Anja auf.
Als Anja nach kurzer Ohnmacht wieder zu sich kam, lag sie auf einer Trage und schaute direkt in Silvias besorgt blickende Augen. Ihre sichtlich geschockte Freundin hielt sie in ihren Armen und redete ihr beruhigend zu. Ein Sanitäter kniete neben ihr und kontrollierte ihren Blutdruck.
Einige Meter weiter entdeckte sie zu ihrer Beruhigung auch Benno und seine Mutter. Beide sassen auf einer Bank und waren in dicke Decken eingepackt. Ihnen war also offenbar auch nichts geschehen.
Ende