Wie erstarrt lauschten Anja und Benno dem Streit, der hinter der Türe tobte. Die unbeherrscht keifende Stimme der Frau war nicht zu überhören: „Hast du das Mädchen?“
Ein leises Murren war zu hören. „Ja“, antwortete eine männliche Stimme.
„Wo ist sie dann? In ihrem Zimmer ist sie nicht. Da habe ich eben nachgeschaut.“
„Sie liegt gefesselt im Keller“, gab er lachend zu.
„Das ist Heinrich“, bestätigte Benno leise. „Die andere ist diese mysteriöse Frau, von der ich dir erzählt habe.“
„Pst“, zischte Anja, „horchen wir lieber weiter, hoffentlich erfahren wir noch mehr.“
„War sie nicht schon vorhin da unten?“, fragte die Frau, jetzt etwas leiser, „sie kam ja die Treppe hoch. Was hatte sie wohl mitten in der Nacht im Keller zu suchen?“
„Ja, da war sie. Ich weiß aber nicht, was sie dort gefunden hat, wenn sie überhaupt etwas entdeckt haben sollte?“
„Hast du kontrolliert, ob diese Silvia noch in ihrem Versteck sitzt?“
„Was? Wie?“, stammelte daraufhin Heinrich, sichtlich erschrocken.
„Ja denkst du, ich hätte nicht bemerkt, dass du dich meiner Anordnung widersetzt hast? Du solltest sie verschwinden lassen! Aber nein, du konntest es nicht!“, keifte sie wieder los, „Wer war wohl jeden Abend an unseren Restekübeln und hat etwas herausgefischt? Wozu wohl? Denkst du wirklich, ich hätte das nicht gesehen?“
„Bestimmt ist sie noch da“, versicherte Heinrich kleinlaut, „aber ich habe bemerkt, dass Benno verschwunden ist. Ich habe überall nachgeschaut, ich konnte ihn nirgends finden.“
„Ach Benno, dieser Depp!“, meinte die Frau lachend. „Der ist doch so doof, der merkt nicht mal, wenn man ihm das Hemd vom Leibe klaut. Soll er doch bleiben, wo der Pfeffer wächst. Der muss sowieso auch verschwinden, der macht sonst nur Ärger. Bald ist das Gasthaus mein und dann …“
„Warum das alles? Was hast du eigentlich vor?“, fragte nun Heinrich.
„Das wirst du schon sehen“, antwortete die Frau abweisend. „Aber nun schauen wir erst einmal, ob wir aus dieser Anja herauskitzeln können, was sie hier treibt und was sie bemerkt hat. Bestimmt kam sie nicht zufällig hierher, warum sonst hätte sie hier herumgeschnüffelt. Dazu hatte sie doch gar keinen Grund. Und dann wird reiner Tisch gemacht! Aber diesmal komme ich mit, nicht dass du dir wieder in die Hose machst. Los, gehen wir!“
Anja und Benno sahen sich erschrocken an.
„Schnell, weg hier“, drängte Benno, „ab in den Gang, wo wir hochgekommen sind.“ Hastig zog er Anja hinter sich her. Gerade noch rechtzeitig konnten sie die Geheimtüre hinter sich zuziehen, als die beiden Personen in den Flur traten.
Zur selben Zeit auf der Straße in den nächsten Ort:
Silvia quälte sich durch den immer dicker werdenden Nebel. Ihre Gedanken schwirrten zu Anja, die sie im Gasthaus zurück lassen musste. Die Angst, ihrer Befreierin könne etwas zugestoßen sein, während sie selbst in Sicherheit war, raubte ihr nahezu den Verstand. Gut, noch war sie nicht in Sicherheit, die nächste Stadt war noch nicht erreicht, genau so wenig die dortige Polizeistation.
Wer weiß, was diese Teufel mit ihr angestellt hätten, wenn sie nicht gefunden worden wäre. Sie mochte gar nicht dran denken, so grausig waren ihre Gedanken. Dieser Heinrich blickte sie immer so seltsam an, wenn er ihr einige Essensreste brachte.
Endlich erreichte Silvia den Ort, in dem sie sonst ihrer Arbeit nachging. Sie kannte sich dort aus, zielstrebig fuhr sie durch die gut beleuchteten Straßen zur Wache.
Als Silvia den Beamten ihre Geschichte erzählte, wurde sie von denen zuerst ungläubig belächelt. Aber nachdem diese die Vermisstenanzeigen überprüft und Silvias Foto in einer Annonce gefunden hatten, wurden sie wach und stellten direkte Fragen. Auch Silvias Annahme, ihre Retterin Anja befände sich höchstwahrscheinlich in den Händen ihrer Entführer und wäre wohl in Gefahr, riss die Polizisten aus ihrer Lethargie. Mehrere Streifenwagenbesatzungen wurden aus der naheliegenden Großstadt zur Verstärkung angefordert.
Nach einer kurzen Lagebesprechung fuhr der Konvoi mit voller Besetzung zum Gasthaus.
Zurück in den Gasthof:
Aufatmend standen Anja und Benno in ihrem engen Versteck und lauschten nach draußen in den Flur. Heinrich ließ nicht locker. Er wollte wissen, was die Frau im Schilde führte.
Diese wiederum lachte ihn hämisch aus: „Die ganzen Jahre habe ich verzichten und meinen Lebensunterhalt als Hure verdienen müssen, während du mit meiner Mutter und ihrem Bastard Benno hier ein gemütliches Leben geführt hast. Nicht einmal meine Kindheit konnte ich genießen, im Gegenteil, immer war ich das fünfte Rad am Wagen und wurde drangsaliert. Nun bin ich einmal dran, das Leben genießen zu können. Dafür müsst ihr bluten.“
Heinrich stieß einen erstaunten Ruf aus. „Wie kommst du darauf, Bennos Mutter und ich wären deine Eltern?“, fragte er direkt.
„Ganz einfach“, ließ die Frau vernehmen. „Durch einen Zufall habe ich erfahren, dass meine Eltern gar nicht meine leiblichen Eltern sind. So habe ich recherchiert und habe erfahren müssen, dass du mein Vater bist und diese grässliche Alte hier meine Mutter. Ihr wolltet mich nicht und habt mich einfach abgegeben wie ein Möbelstück, das man nicht mehr mag. Dafür müsst ihr nun zahlen!“
„Dafür hast du keine Beweise!“
„Doch, die habe ich“, meinte die Frau fies grinsend. „In den Unterlagen meiner verstorbenen Stiefeltern habe ich meine Originalgeburtsurkunde gefunden, da stehst du als Vater drin und die Alte als meine Mutter. Daraufhin habe ich mich auf die Suche gemacht und bin auch fündig geworden. Das war ganz einfach. Dabei habe ich auch erfahren, dass ich noch einen Bruder, besser gesagt, einen Halbbruder habe, der diese schäbige Absteige hier von seinem Vater geerbt hat.“
Anja und Benno lauschten gespannt dem Gespräch der beiden.
„Diese Frau ist meine Schwester?“, flüsterte Benno. „Das kann doch nicht wahr sein. Mutter hat nie etwas von einer Tochter erzählt. Dass sie mal was mit Heinrich hatte, wusste ich nicht. Ich dachte immer, ich habe keine Geschwister. Warum hat sie mir das verheimlicht? Wusste mein Vater sogar davon?“
Tröstend umarmte Anja Benno. „Das werden wir herausfinden. Hoffentlich kommt die Polizei bald und macht dem Spuk hier ein Ende. Krampfhaft hielten sich die beiden bei den Händen. Diese Frau wollte sie verschwinden lassen. Und es gab keinen Zweifel daran, was sie damit meinte.
Draußen im Flur ging inzwischen die Diskussion weiter. Die Frau keifte und schrie Heinrich pausenlos an. Dieser sprach kaum ein Wort, es war klar, dieser Furie war er nicht gewachsen.
„Führe mich jetzt zu Silvias Versteck“, befahl die Frau schließlich, „und du weißt, was du zu tun hast!“.
Das blanke Entsetzen spiegelte sich in den Augen von Benno und Anja, während sich die Schritte des seltsamen Paares über die Treppe entfernten.
Benno wurde jetzt richtig wach. „Schnell, wir müssen dranbleiben.“ Hastig zog er Anja hinter sich her. Die beiden eilten die steile Stiege hinunter, ohne groß auf die Stufen zu achten. Eng an die Hausmauer gepresst schlichen sich die beiden zurück an die Rückwand der Scheune.
Bereits hörten sie das Quietschen der Kellertüre und kurz darauf flackerte der Lichtkegel einer Taschenlampe durch die Ritzen der Bretterwand.
Gespannt lauschten die beiden, was wohl nun geschehen würde. „Hier hast du sie also untergebracht“, stellte die Frau fest. „Los, jetzt zeige mir, dass du ein Mann bist!“, befahl sie.
Daraufhin war ein metallisch klirrendes Geräusch zu hören. „Nein, doch nicht so! Kein Blut!“, keifte sie wiederum los, Nimm dieses Seil, mach es damit“, sprach die Frau mit eiskalter Stimme, „oder nein, gib her, du kannst es ja doch nicht. Und jetzt schaffe endlich diese Göre her! Aber halte sie gut fest!“
Beim Gedanken, welches schreckliche Schicksal nun ihre Leidensgenossin erwarten würde, wäre sie noch hier, griff sich Anja stöhnend an ihren Hals. Der Kragen ihres T-Shirts wurde plötzlich eng, sie fühlte förmlich, wie das Seil tief in ihre Haut schnitt und ihr die Luft abschnürte. Silvia war ja derart entkräftet, dass sie sich kaum gegen die beiden hätte zur Wehr setzen können.
Völlig entsetzt hörten Benno und Anja, wie das Gatter quietschend geöffnet wurde. Der herrisch gebrüllte Befehl der Frau: „So, nun komm heraus, du Miststück!“, ließ Anja zu Eis erstarren. Doch der daraufhin entsetzte Ausruf: „Das gibt es doch nicht, sie ist weg!“, erlöste sie gleich wieder von ihrer ungeheuren Spannung.
Wäre Silvia wirklich hier gewesen, hätte Anja keine Sekunde gezögert, wäre in die Scheune eingedrungen und hätte der Frau die Gabel in den Leib gerammt.
Gleich darauf kreischte wieder die Frau, nun offenbar völlig außer sich: „Wo ist sie? Du Depp! Wir konntest du sie nur entkommen lassen?“
„Ich weiß es nicht“, gab Heinrich kleinlaut zu. „Vielleicht hat diese Anja sie gefunden, als sie hier herumgestöbert hat. Sie ist ja auch verschwunden, also muss sie sich irgendwie befreit haben. Aber wo ist sie?“
„Woher soll ich das wissen? Du bist ja ein noch größerer Depp als ich angenommen habe! Wenn sie nun einen Weg gefunden hat, von hier wegzukommen, sind wir aufgeschmissen und wir können unseren Plan vergessen! Bestimmt weiß sie längst, was hier gespielt wird und wird es brühwarm weitererzählen! Dann ist alles aus! Scheiße! Wenn man nicht alles selber macht! Das ist ja zum Kotzen!“
„Unser Plan?“, rief Heinrich erstaunt. „Es war ganz alleine dein Plan! Du hast uns erpresst und uns zum Mitmachen gezwungen!“
Die beiden stritten sich noch einige Zeit. Dass sie dabei belauscht wurden, bemerkten sie gar nicht.
„Was treibt ihr denn hier draußen?“, rief plötzlich eine Stimme hinter den beiden. Anja rieselte es eiskalt über den Rücken, als sie Bennos Mutter entdeckte. Offenbar war sie ihnen gefolgt. Aber warum?
Die Streitereien in der Scheune waren verstummt. Dafür waren eilige Schritte zu hören. Den beiden war völlig klar, dass sie verloren waren, würden sie erwischt werden. Sie mussten fliehen! Aber Bennos Mutter stand ihnen im Wege und Anja traute sich nicht, die alte, womöglich ahnungslose Frau anzugreifen...