Er schwieg weiterhin und beobachtete Sezuna, wie ihr Blick in die leere Dunkelheit der Straße wanderte.
Unweigerlich mit Sezuna im selben Raum und den kurzen Gedanken an seinen Vater brachte ihn zum Nachdenken. Wie sie seine Erziehung erwähnt hatte als er mit Havok gesprochen hatte... sie wusste also wer er war. Wer sein Vater war.
Es hatte ihn bereits genügend gestört, dass Kaden Bescheid wusste. Doch Sezuna? Das war wieder eine ganz andere Sache.
„Was ist eigentlich deine Aufgabe beim Ältesten Rat?“, fragte Orion und biss sich danach auf die Lippen. Warum fragte er das?
Weil er etwas über die Rothaarige wissen wollte, doch das war gerade kein guter Zeitpunkt.
Wobei ein wenig Ablenkung ihr vielleicht gut tat.
Ihre goldenen Augen richteten sich auf Orion und blieben einen Moment zu lange leer, ehe sie wieder in ihrer natürlichen Art strahlten.
„Ich bin so etwas wie eine Archäologin. Ich grabe Informationen aus“, sagte sie und fragte sich, ob er sie verstand. Aber irgendwie hatte sie das Bedürfnis ihn ein wenig zu necken.
Innerliche Erleichterung machte sich in ihm breit als ihre Augen wieder lebendiger schienen.
„Du buddelst also nach alten Tagebüchern?“, hackte Orion verwundert nach. Es gab auch im Hohen Rat Leute, die Wissen horteten, doch diese spezialisierten sich eher auf alte Schriften vergangener Werwolfsclans. Alles intern und sicher. Von allen Räten der magischen Welt war der Hohe Rat einer der intolerantesten.
Sezuna hustete und versteckte somit ihr aufkommendes Lachen. „Alt sind sie ja nun nicht gerade“, meinte sie und ein Lächeln zeichnete sich auf ihren Lippen ab. „Der Ältestenrat ist gern informiert und alles, was als Bedrohung gilt, wird rund um die Uhr beobachtet. Sekten, Clanoberhäupter, Heerführer und andere wichtige Personen bei uns haben alle Informationen für mich, die ich an den Ältesten Rat weitergebe“, damit nahm sie einen Schluck Tee. „Meine Aufgabe ist es zum Beispiel mich in eine Sekte einzuschleusen und herauszufinden, was diese plant und ob es vertretbar mit unseren Regeln ist, oder nicht. Du musst wissen bei uns Vampiren ist Blutrausch eine sehr ernste Sache. Das kann zu sehr viel Gewalt führen und gerade die jungen Vampire sind sehr davon betroffen, obwohl viele es gar nicht wollen.“
Orion, der fasziniert von der Kultur der Vampire zu sein schien, hatte schon was von Blutrausch gehört, doch er konnte sich nicht wirklich etwas darunter vorstellen. Dennoch schien es ihm einleuchtend, dass die junge Generation für Manipulation anfällig war. Bei wem war es denn nicht so?
„Also gräbst du gar nicht wörtlich“, wiederholte der Werwolf eher für sich selbst. „Was geschieht denn im Blutrausch?“
„Ach manchmal bin ich schon bei Ausgrabungen dabei. Gerade dann, wenn Fallen oder ähnliches erwartet werden, aber das ist mir in den vergangenen 5 Jahren nur etwa 25 Mal passiert. Also nicht wirklich wichtig“, erklärte sie und nahm einen weiteren Schluck Tee. „Den Blutrausch kannst du dir als eine Art Übersättigung vorstellen. Wir trinken, wie die Menschen essen, um zu überleben. Dabei geben wir an den Spender des Blutes ein Bakterium ab, welches das Blut rein hält. Wichtig für uns, darum werden wir auch nicht krank, selbst wenn wir von Kranken trinken. Es ist also ein Geben und Nehmen“, hier trank sie einen erneuten Schluck, denn sie wollte nicht, dass der Tee kalt wurde. „Aber Vampire sind immer hungrig und gerade die Jüngeren müssen lernen ihren Hunger zu zügeln. Bei einem Blutrausch geht das Temperament mit einem durch und man trink mehr, als man braucht. Das wiederum führt zu einer Menge Kraft, die sich in uns sammelt. Diese Kraft ist wirklich unglaublich schwer zu beherrschen und es kommt zu Mord. Bei einem Mord wird Blut vergossen, was wiederrum den Hunger der Vampire steigert. Es ist also ein Kreislauf in den andere Vampire hineingezogen werden. Nur die wenigsten von uns sind in der Lage in einer Blutlache zu stehen und keinen stechenden Hunger zu verspüren. Oder besser diesem nicht nachzugeben. Frönt man länger diesem Hunger, schaltet sich das Gehirn ab und man wird förmlich zu einem Tier. Ich denke es ist etwas ähnliches, wie bei euch der Vollmond.“
Orion nickte geistesabwesend und versuchte die ganzen neuen Informationen zu verdauen. Es war nicht gerade unwichtig, das alles zu wissen, in Anbetracht der Tatsache, dass er mit Vampiren zusammenarbeitete.
Er fing Sezunas Blick ein und musterte sie eindringlich, fast schon starrend.
„Könntest du denn Wiederstehen?“, fragte er endlich und schien diese Frage schon lange mit sich rumzutragen.
Sezuna zögerte. „Eine Zeit lang. Das Blut reizt mich nicht. Aber ich werde unnatürlich... gewalttätig“, meinte sie und dachte an ihre Familie, nein ihre Erzeuger, zurück.
In dem Haus, in dem sie aufgewachsen war, hatte es immer nach Blut gerochen und sie erinnerte sich noch, als sie einmal ihren Vater beim Trinken gestört hatte.
Es gab in ihrer Welt und unter Vampiren kein Gesetz gegen Mord, wenn niemand wichtiges Schaden litt.
Viele Vampire nutzten das aus und die meisten hatte dazu auch noch eine Vorliebe für Körperkontakt. Ihre Erzeuger waren das Paradebeispiel dafür.
Orion runzelte die Stirn.
Ein Vampir, der sich nicht nach dem Geruch von Blut zehrte? Schien sich komisch anzuhören, doch er glaubte ihr.
„Inwiefern... gewalttätig?“, fragte er zögernd und musste an Lika denken. Auch wenn Werwölfe stärker waren als Vampire so konnte er Sezunas physische Stärke nicht wirklich einschätzen. Er wollte nicht, dass Lika etwas zustieß, nur weil sie nicht vorbereitet war.
„D... Das ist schwer zu erklären. Ich... In meiner Kindheit habe ich gelernt, dass der Geruch von Blut mit Gewalt einhergeht und deshalb habe ich gelernt mich zu schützen. Nur, dass ich dann auch sehr emotional bin und oft nicht richtig nachdenke“, versuchte Sezuna zu erklären und trank den Tee leer, ehe sie die leere Tasse zwischen ihren Händen hielt, um sich die Finger daran zu wärmen.
Die Stimmung im Raum wurde wieder kühler und Orion merkte, dass er da wohl nicht weiter bohren sollte. Vorerst jedenfalls nicht.
Er räusperte sich und lehnte sich zurück, um die Arme auf der Rückenlehne zu platzieren.
Auch wenn er sie gerne gefragt hätte, wie Kaden denn zu dieser Blutsache stand, so hielt er sich dennoch zurück, da es wohl besser war seinen Namen vorerst nicht zu erwähnen.
„Wie ist das denn so? Blut zu trinken, meine ich. Wie fühlt es sich an?“, fragte er und war wirklich neugierig, da er versuchte zu verstehen, wie Vampire funktionierten.
Sezuna sah ihn fragend an. „Na ja, ich bin mir nicht sicher. Wir essen ja auch normale Nahrung. Aber ich denke man kann es mit unterschiedlichen Weinen vergleichen. Oder Tees. Je nachdem, was du lieber magst“, versuchte die Rothaarige ein wenig unbeholfen, was neu für Orion war. Normalerweise war sie beim Erklären immer sehr wortgewandt.
„Jedes Blut hat einen anderen Geschmack und natürlich hat jeder Vampir auch einen anderen Geschmack. So kommt es selten vor, dass zwei Vampire dieselben Bluttypen mögen. Je nachdem von wem man trinkt, ist das Blut reichhaltiger, oder eben nicht. Es heißt Werwölfe hätten sehr reichhaltiges, kraftvolles Blut. Nixen hingegen sollen extrem schlechtes Blut haben. Ich kann beides nicht beurteilen. Das einzige Blut neben Menschenblut, was ich schon einmal getrunken habe, war von einem Löwen, weil es dringend war. Tierblut verbraucht sich aber wesentlich schneller und schmeckt auf die Dauer nicht sonderlich gut“, hier rümpfte sie ein wenig die Nase, ehe sie die Hände von der Tasse nahm. „Bekomm ich noch einen Tee?“, fragte sie freundlich, aber irgendwie auch mit einer 'Klein-Mädchen-Stimme'.
Orion lächelte ebenfalls und nahm die Tasse entgegen, um in die offene Küche zu gehen.
„Ich hab mich nur gewundert“, begann er und setzte neues Wasser auf. „Wenn Werwölfe Mondlicht tanken, fühlt es sich so an, als würde man in Eiswasser baden. Man erhält neue Energie und fühlt sich, als wäre man unbesiegbar. Als wäre man auf Drogen, könnte man sagen. Daher dürfen wir auch nur in Maßen ins Mondlicht. Ich dachte bei Vampiren gäbe es auch eine Art Regung, wenn sie trinken“, erklärte er und vergaß vollkommen weshalb sie überhaupt auf der Erde waren. Nein, er vergaß, dass sie generell auf der Erde waren.
So musste sich ein unbeschwertes, normales Leben anfühlen. Gar nicht mal so schlimm, wie er es sich vorgestellt hatte.
Als der Wasserkocher wieder still wurde, goss er einen neuen Tee auf und brachte Sezuna die dampfende Tasse zur Couch.
„Oh, na doch, es gibt natürlich auch sowas. Ich persönlich fühle mich dann auch immer, als könnte ich Bäume ausreißen. Und der Blutrausch muss wohl auch sein, als wäre man auf Drogen“, erklärte sie und hielt ihre Hände wieder um die Tasse. „Aber ich hatte noch keinen Blutrausch, zum Glück, und kann daher nur aus zweiter Hand berichten. Wie sich das Trinken generell anfühlt, ist vom betreffenden Vampir abhängig. Für mich ist Blut Nahrung. Nicht mehr und nicht weniger. Wie ein Leibgericht könnte man sagen. Aber bei vielen Vampiren ist das wohl anders.“
Auch wenn er die Frage nicht offen gestellt hatte, so erleichterte ihn doch die Tatsache zu wissen, dass Sezuna noch nie einen besagten Blutrausch hatte.
Genauso wenig, wie sie Blut von Werwölfen getrunken hatte. Was man nicht kannte konnte man auch nicht vermissen. Somit war sie keine Gefahr für Lika... hoffentlich.
„Klingt logisch“, stimmte er nickend zu und schwieg kurz. Er musste wieder an den Mittag im Café denken, an dem Sezuna seinen Hals angesehen hatte.
Er war nicht dumm und in Anbetracht der Tatsache, dass sie danach etwas getrunken hatte, ließ wohl darauf schließen, dass sie hungrig gewesen sein muss.
Vermutlich sollte er sie nicht genauer darauf ansprechen, doch auf der anderen Seite interessierte es ihn.
„Also hast du noch nie Werwolfsblut gekostet?“, fragte er ein wenig unglaubwürdig, um sie auf die Probe zu stellen.
„Nein. Ich hatte schon mit dem ein oder anderen Wolf zu tun und sicherlich auch die Möglichkeit, aber warum sollte ich? Wie gesagt es ist Nahrung und ich nehme das, was mir freiwillig gegeben wird, oder suche mir eine andere Möglichkeit“, erklärte sie. Mit dieser Einstellung war sie zwar nicht allein unter den Vampiren, aber in ihrer Familie hatte sie dies doch einige Nerven und vor allem viel Geduld gekostet.
Orion nahm sie noch genauer ins Visier und ließ nicht von ihr ab. Einige prüfende Sekunden verstrichen, in denen er sie bis ins kleinste Detail musterte.
„Und wenn es dir angeboten wird?“, fragte er nun und lehnte sich wieder nach vorne.
Sezuna lehnte sich ebenfalls nach vorn und Orion erkannte das erste Mal, dass sie leichten Goldschimmer an den Wimpern hatte. Etwas, was man kaum wahrnahm, wenn man sie nicht genau betrachtete.
„Wenn es mir angeboten wird, sage ich nicht nein. Wäre ich ja auch schön doof. Die Leute rennen ja auch nicht mit einem Schild rum, auf dem 'Trink mich' steht.“
Unweigerlich musste Orion anfangen zu lächeln, als er sich Sezunas unwahrscheinliche Beschreibung bildlich vorstellte.
„Klingt irgendwo einleuchtend“, sagte er leise und konnte den Blick nicht von ihren leuchtenden Augen abwenden. „Und wie kommst du hier an deine Mahlzeiten?“
Eine Frage vor der er sich irgendwie versteckt hatte, doch er musste sein Gewissen damit beruhigen, wenigstens gefragt zu haben.
Schlagartig wurden ihre Augen wieder leer und kalt.
„Kaden und ich haben uns bei der Blutspende bedient“, zwang sie sich zu sagen und lehnte sich wieder zurück.
„Menschen lagern Blut, weil sie es für medizinische Versorgungen benötigen. Dort kann man sich welches holen, ohne dass man Menschen einweihen muss. Es ist nur nicht ganz legal.“
Orion tat es ihr gleich und lehnte sich ebenfalls wieder zurück.
Natürlich waren ihm Sezunas Umschweife der Stimmung aufgefallen, dafür brauchte er nicht mal Kadens Fähigkeiten.
Wieder herrschte Schweigen zwischen den beiden Anwesenden und Orion bereute es, gefragt zu haben. Die ausgelassene Stimmung schien binnen eines Sekundenbruchteils wie verflogen.
Selbst wenn der Vampir nicht anwesend war, musste er alles vermiesen. Darin war er wohl Meister.
„Solange keine Menschenleben auf dem Spiel stehen und du nicht entdeckt wirst, ist das denke ich akzeptabel“, entgegnete er, in der Hoffnung das Gespräch noch retten zu können. „Sollte es gar nicht mehr gehen... also ein Notfall... kannst du mir Bescheid sagen.“
Widerwillig versuchte Orion seinen Standpunkt klar zu machen. Er war zwar nicht unbedingt heiß drauf gebissen zu werden, aber andererseits wollte er auch wissen, wie es so war, wenn von einem getrunken wurde. Außerdem konnten so ein paar schützende Bakterien nicht schaden.
Trotzdem bildete er sich selbst ein, er würde es nur tun, damit nicht noch ein Unschuldiger darunter leiden musste.
Sezunas Blick senkte sich. „Menschenleben stehen nur bei den seltensten Vampiren auf dem Spiel. Ich bin keine Mörderin“, sagte sie leise und ihre Gedanken schwenkte von Kaden zu ihrer Familie und zu der Hölle, in der sie jahrelang gelebt hatte.
Ihre Eltern waren unter den Vampiren hoch angesehen, weil sie alt waren. Sehr alt. Nur war ihr Verstand schon so verfallen, dass sie ihrer Meinung nach mehr wahnsinnig, als klar im Kopf waren. Nur war dieser Wahnsinn so gut versteckt, dass er niemanden auffiel. Sie bewegten sich immer an den Grenzen des akzeptablen und alles was nicht akzeptabel war, wurde verschüttet. Dorthin, wo niemand es je finden würde.
Bei der Vorstellung, dass sie auch einmal so werden könnte. Das sie Spaß an den Schmerzen anderer fand, drehte sich ihr der Magen um.
„Ich würde nie behaupten, dass du eine Mörderin bist, Sezuna“, sagte er nun überraschend sanft und musterte sie fast schon mitleidig. Er konnte sehen, dass dort etwas, im Zusammenhang mit dem Trinken von Blut, war, nur wusste er nicht genau, was es war.
Und vielleicht war das auch ganz gut so.
Wenn sie das Bedürfnis hatte, zu reden, würde sie schon zu jemanden gehen. Aber ob es er war, das würde sich zeigen.