Draußen vor der Tür blieb Roar wartend stehen und blickte seine Schwester fragend an. „Was ist passiert?“
Diese sah auf den See, der gleichmäßige Wellen an das Ufer spülte.
„Ich weiß nicht genau“, murmelte sie kopfschüttelnd. „Ich denke es wäre auch besser wenn wir nicht weiter darin bohren. Wenn sie reden will wird sie von selbst zu uns kommen.“
Roar schnaubte und folgte dem Blick seiner Schwester.
„So ein Mist. Sie weiß vermutlich nicht mal, dass sie Hilfe braucht.“
Mit einem frustrierten Seufzten schloss Mae ihre Augen und rieb sich über die Stirn.
„Lass es Roar. Du bist nicht gerade sensibel weißt du? Also tu mir einen Gefallen und geh nur mit ihr joggen“, warnte sie ihren Bruder und drehte sich um, um zu gehen, hielt jedoch nochmal kurz inne, um sich zu ihm zurück zu drehen. „Und auf Kaden wirst du sie auch nicht ansprechen.“
Ausdruckslos sah er seiner Schwester hinterher und hob eine Augenbraue.
Nur weil sie älter war als er, hieß das nicht, dass er über seinen Mund entscheiden durfte.
Nur etwa fünf Minuten, nachdem Mae gegangen war, öffnete Sezuna die Tür und lächelte Roar schüchtern an.
Sie trug einen schwarzen Trainingsanzug und ihre Haare waren zu einem festen Zopf gebunden.
An ihren Ohren waren die silbernen Anhänger sehr gut zu erkennen. Sie machte nicht einmal den Versuch diese irgendwie zu verstecken.
Roar hielt einen Moment inne, während er den Anhänger unverfroren anstarrte.
„Ich würde sagen wir drehen ein paar Runden auf dem Trampelpfad im Wald“, sagte dieser schließlich und ging voran, um in den Wald zu gelangen, der das Haus umgab. Es war schon seit Generationen im Besitz der Familie, wurde nur immer neu ausgebaut für neue Zimmer wie zum Beispiel Kadens Baumhaus, das er einst mit Roar, Sezuna und ihrem Großvater gebaut hatte. Irgendwann wollte er es nicht mehr verlassen und entschied sich darin zu wohnen. Edith, die es nicht ertragen konnte, keinen direkten Zugang vom Haus zu ihm zu haben, zwang ihren Mann kurz darauf die Brücke bauen zu lassen.
„Sag Bescheid wenn es dir schlecht geht“, sagte Roar, als er in einem lockeren Tempo anfing neben Sezuna zu joggen.
„Mach ich“, sagte diese und schlug dasselbe Tempo an, um neben Roar her zu joggen.
„Wie ist es euch die letzten Jahre ergangen?“, wollte Sezuna wissen, in der Hoffnung ihre Gedanken auf Roar und nicht auf ihre Vergangenheit zu richten. Gleichzeitig aber genoss sie die Freiheit, die sie immer spürte, wenn sie in diesem Wald joggte.
„Du meinst Kaden?“, fragte dieser stattdessen und Sezuna kam nicht umhin seinen scharfen Unterton zu bemerken.
Mae hatte erwähnt, dass Roar Kadens Stimmungen ausbaden musste und soweit sich Sezuna erinnern konnte war Roar nie wirklich der einfühlsamste Mensch.
Sezuna schluckte. „Ja auch ihn“, sagte sie, weil sie es wissen musste und auch wollte. Diese Erinnerung bereitete ihr Schmerzen, doch es war ein Schmerz, mit dem sie umgehen konnte. Anderes als die Angst, die sie in sich spürte und die einfach nicht abklingen wollte.
Eine Weile verging in denen sie nur joggten. Roar schien zu überlegen, was er sagen sollte, da Maes Worte ihm immer noch im Kopf rumspuckten.
Diese Idiotin!
„Was glaubst du denn wie es ihm ging?“, fragte er stattdessen und sprang über einen umgestürzten Baum hinweg.
Sezuna folgte, wenn auch weniger elegant, als man es von ihr gewohnt war, da sie nach Worten suchte, die nicht zu viel verrieten und doch genug sagten.
„Er scheint körperlich und geistig unversehrt“, sagte sie schließlich und konzentrierte sich aufs joggen.
Sie hörte Roars Lachen, das einen herablassenden Tonfall annahm.
War er wütend auf sie?
Oder hatte auch er sich über die Jahre verändert.
„Natürlich geht es ihm gut. Ihm geht es ja immer gut, nicht wahr?“, fragte er ohne wirklich eine Antwort zu erwarten.
Vielleicht hätte er doch Ruvik schicken sollen, um mit ihr Laufen zu gehen oder noch besser seinen Großvater. Er ging sowieso jeden Abend in diesem Wald joggen.
Sezuna schwieg.
Er lebte. Etwas, über das Sezuna auch lange nachgedacht hatte. Was wäre passiert, wenn ihre Briefe ihn erreicht hätten? Und er sie retten gekommen wäre?
Hätten Kaden die Weitsicht gehabt, jemanden zu holen, der mächtig war, oder hätte er es selbst versucht?
Wenn er alleine gekommen wäre, wäre er wahrscheinlich nicht mehr am Leben. Also war es gut, dass er sie nicht gesucht hatte. Und dennoch… Die Logik reichte nicht, um ihre emotionalen Wunden nicht mehr so schmerzen zu lassen.
„Dann war es gut, dass er mich nicht gesucht hat“, entschied sie schließlich leise für sich, ohne dass sie wusste, dass Roar sie hören konnte.
Dieser machte keinen Hehl daraus und sah zu ihr, während er weiter joggte.
„Dir ist aber schon klar, dass er bei eurem alten Haus war nachdem du verschwunden bist oder?“, fragte Roar, der davon ausging, dass Mae ihr davon erzählt hatte. Er hatte ihr Gespräch mitangehört wenn auch nicht absichtlich. Er konnte schon immer alles hören was in Kadens Zimmer vor sich ging. Was eher Fluch als Segen war. Auch wenn Kaden niemals ein Mädchen mit nach Hause bringen würde, so war er doch jemand der gerne mal Nächte durchmachte.
„Dort gab es zu dem Zeitpunkt nichts mehr, was gefährlich war. Die Raubtiere waren wo anders“, sagte Sezuna geistesabwesend und schien mit ihren Augen den Wald zu durchsuchen. „Außerdem ist das nicht möglich. Er weiß nicht, wo meine Familie lebte.“
Kopfschüttelnd wandte sich Roar wieder dem Weg zu den er schon blind kannte.
„Vielleicht unterschätzt du Kaden ein wenig“, merkte er an und bog in einen dichteren Weg ein, bei dem mehrere Wurzeln im Weg waren, über die er hinweg sprang. „Hab ich auch. Wenn ich nicht dabei gewesen wäre, hätte ich es ihm vermutlich auch nicht geglaubt, dass er da war.“
Sezuna atmete tief durch. „Dann hattet ihr Glück, dass ihr überlebt habt. Auch wenn meine Familie nicht dort wohnt, so schätzt sie es nicht, wenn sie ungebetenen Besuch bekommt.“
Die Rothaarige sprang über einige Wurzeln, musste aber langsamer machen, weil die Bilder ihrer Vergangenheit sie drohten immer mehr zu verschlucken. Krampfhaft versuchte sie sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.
Sie war in einem Wald. Sie war frei. Sie konnte gehen, wohin sie wollte. Keine Ketten, keine Seile und keine Zauber, die sie hinderten.
Roar sprang über die letzte Wurzel des Weges und seufzte nachgiebig.
„Vergiss was ich gesagt hab. Ihm geht's gut. Mehr musst du nicht wissen“, damit schien das Thema für Roar beendet zu sein und er verlangsamte sein Tempo, als er an einem Abhang zum Stehen kam, der weiter westlich des Hauses in demselben See mündete.
Sezuna wurde langsamer und kam schließlich neben ihm zum Stehen, ehe sie den Abhang hinab blickte.
Dieser Anblick war ihr vertraut und hätte eine gewisse Ruhe in ihr auslösen sollen, doch heute war alles überschattet von den Dingen ihrer Vergangenheit.
Statt die Ruhe zu spüren, bekam sie beim Anblick des Wassers Angst und ihr Herz begann zu rasen.
„Ich… Ich glaube ich sollte zurück zum Haus. Ich muss mit dem Rat reden“, erklärte sie, als ihr bewusst wurde, dass sie vielleicht Hilfe brauchte, die ihr hier keiner geben konnte.
Die Psychologin des Rates, die für sie zuständig war, konnte ihr vielleicht helfen.
Roar wandte sich zu der Rothaarigen um und runzelte die Stirn.
„Wie du möchtest“, antwortete er, ohne großartige Umschweife und betrat eine Abkürzung, die zurück zum Haus führte.
Schweigend liefen beide zurück zum Haus und Sezuna verschwand in Kadens Zimmer.
Dort gab es einen großen Spiegel, der aktuell zur Wand gedreht war.
Diese zog sie zu sich, legte die Hand auf die spiegelnde Fläche und sprach den Zauber.
Es dauerte eine Weile, bis darin eine junge Frau zum Vorschein kam. Eine Vampirin, die so ausgeglichen war, dass Sezuna jedes Mal, wenn sie die dunkelblonden Haare und die haselnussbraunen Augen sah, ein Gefühl der Ruhe verspürte.
„Dr. Wessel“, sagte Sezuna langsam und ließ sich im Schneidersitz zu Boden fallen. Ein Zeichen, dass es länger dauern konnte.
„Sezuna. Geht es dir gut?“, fragte die Frau besorgt. Sie war unter dem Rat der Vampire hoch geachtet, denn sie war eine sehr alte und sehr begabte Heilerin. Sowohl für körperliche, als auch für geistige Probleme. Zudem war sie Sezunas Ansprechpartner, wenn es um ihre geistige Gesundheit ging.
„Ich hatte einen Rückfall“, gestand Sezuna langsam und nicht wirklich begeistert.
„Erzähl mir davon“, forderte die Vampirin ruhig, aber bestimmt.
Also schilderte Sezuna, was vorgefallen war und holte dann tief Luft. „Ich habe Angst, dass ich die Kontrolle verliere und zu einer Gefahr für sie werde“, murmelte sie und hasste sich dafür selbst.
In den ersten Wochen, die sie beim Rat verbracht hatte, hatte sie im Würgegriff ihrer Panikattacken mehrere Vampire schwer verletzt, ohne es zu wollen.