Lika klopfte an Orions Tür und schlüpfte hindurch, als dieser ihr öffnete.
„Was gibt es neues?“, wollte der Werwolf wissen.
„Nichts“, war die wenig befriedigende Antwort seitens Lika.
Man hatte ihnen gesagt, dass sie auf magische Weise über Sezunas Gesundheitszustand, oder über den eventuellen Neuzugang informiert wurden, doch bisher war noch nichts zu hören gewesen.
Seufzend schloss Orion die Tür hinter der Blauhaarigen und setzte sich zu ihr auf die Couch.
„Sie ist schon seit drei Tagen weg. Wie lange kann so eine Vampirkrankheit denn dauern?“, murmelte Orion wütend, doch er war eher frustriert.
Sie brauchten Sezuna und ihre Fähigkeiten. Sie war die einzige, die in Frage kam Alexa auszufragen und ohne diesen Schritt kamen sie nicht voran.
Er wollte es nicht riskieren noch länger zu warten, um noch einen Polizeibericht über das Hotel zu finden. Doch andererseits musste er sich eingestehen, dass er sich auch Sorgen um Sezuna machte.
In der Nacht zuvor hätte er merken müssen, dass es ihr nicht gut ging. Er hätte vielleicht rechtzeitig reagieren können ohne, dass es soweit hätte kommen müssen.
Abwesend hob er leicht den Blick und sah auf die gegenüberliegende Couch auf der Sezuna in dieser Nacht gesessen hatte und sie sich unterhalten hatte.
„Eine normale Grippe kann schon mal länger dauern. Gehen wir also einfach davon aus, dass wir eine Woche nichts von ihr hören“, begann Lika und lief unruhig auf und ab. „Was mir aktuell auch noch Sorgen macht ist Kaden. Ich habe ihn auch schon lange nicht mehr gesehen“, hier stoppte sie kurz nachdenklich. „Etwa seit Sezuna weg ist. Oder sogar noch länger“, murmelte sie nachdenklich.
Das letzte Mal hatte sie ihn gesehen, als er bei Sezuna im Zimmer gewesen war, doch das erwähnte sie Orion gegenüber nicht.
Nervös spielte sie mit einer blauen Haarsträhne und fragte sich nun doch was der Vampir überhaupt bei Sezuna zu suchen hatte.
Nachdem er sie kurz vorher noch so angegiftet hatte und dann plötzlich von alleine in ihrem Zimmer auftauchte?
Wäre sie nicht durch ihr Telefonat abgelenkt gewesen, hätte sie ihn vielleicht auch gerochen und gemerkt, dass er da war.
Orion schnaubte herablassend.
„Er ist doch überhaupt erst Schuld daran, dass Sezuna krank ist. Ich denke es wäre gesünder für ihn wenn er sich die nächste Zeit erstmal nicht blicken lässt“, mit einem kurzen Seitenblick zu Lika richtete er sich nun zu ihr. „Du bist nervös. Was ist los?“
„Uns ist ein Teammitglied abhandengekommen, das zweite ist wer weiß wo und wir haben ein Hotel voller Geister, die ununterbrochen morden. Das ist mein erster Auftrag und er läuft völlig schief. Ich glaube ich kann das nicht“, brach es aus ihr heraus und sie hatte das Gefühl gleich unter der Last zusammen zu brechen.
Während sie mit Sezuna zusammen gewesen war, hatte sie sich so lebendig gefühlt, doch nun, wo diese weg war, hatte sie einfach nur noch das Gefühl ihre Aufgabe würde sie erdrücken!
Langsam ging Sezuna in Kadens Zimmer umher, um sich umzusehen. Es hatte sich so gut wie nicht verändert. Dieselben Schränke. Dasselbe Bett. Sogar das Fenster über dem Bett von Kaden, durch welches die beiden als Kinder immer die Sterne beobachtet hatten, war noch wie neu.
Langsam ließ sie die Finger über die Kommode gleiten und betrachtete ein Bild von Kaden und seinem älteren Bruder Roar, als diese noch Kinder waren.
Vorsichtig nahm sie das Bild in die Hand und fuhr die feine Verzierung des Rahmens nach, während sie dieses betrachtete. Es war vor dem alten Baum im Hintergarten geschossen worden, an dem eine Schaukel hing und Roar war gerade dabei Kaden von dieser runter zu schubsen.
„Hast du was interessanten gefunden?“, hörte sie plötzlich eine vertraute Stimme hinter sich und zuckte zusammen, als sie herumwirbelte und Kaden angelehnt im Türrahmen entdeckte.
Als dieser ihren Blick sah, musste er grinsen.
„Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen“, meinte er, stieß sich ab und schlenderte auf sie zu, ehe er ihr eine Hand an die Wange legte. „Und du bist blass. Hast du nicht gut geschlafen?“, wollte er wissen und jetzt nahm Sezuna die Feinheiten seiner Gesichtszüge wahr.
Vampire alterten nicht auf eine Art, wie es Menschen taten, doch an dem Leuchten seiner Augen und den ganz leichten Fältchen um seinen Mundwinkel, konnte sie erkennen, dass es sich um einen älteren Kaden handelte.
Irritiert von dieser Tatsache wusste sie nicht einmal, was sie auf Kadens besorgte Frage antworten sollte.
Langsam senkte er den Blick zu dem Foto was sie immer noch in der Hand hielt.
„Erinner mich lieber nicht an den Tag. Ich bin beinahe den Berg runtergekullert und ins Wasser gefallen“, gestand er und nahm ihr das Bild aus der Hand, um es wieder zurückzustellen. „Du musst mir nicht hier oben helfen, ich mach das schon. Du solltest dich lieber schonen“, fügte er letztlich hinzu, während er ihr Gesicht in seine Hände nahm, um sie sanft auf die Stirn zu küssen.
Dann glitten seine Hände liebkosend an ihren Wangen entlang und legten sich auf ihren Bauch. Den sie deutlich sehen konnte, ohne den Kopf großartig zu neigen.
Nun, wo sie darauf achtete, fiel ihr auch auf, dass sie ein wenig anderes stand und dass es sich seltsam anfühlte.
Etwas überrumpelt von der Situation wurde sie rot und Kaden lachte.
„Wie lange sind wir jetzt verheiratet und du wirst immer noch rot, wenn ich dich küsse“, sagte er, ehe er sich vorbeugte und ihr einen längeren, feuchten Kuss stahl.
Genussvoll schloss Sezuna ihre Augen und wünschte sich diesen Moment festhalten zu können.
Ihre Hand sank auf ihren Bauch, wo sie spürte, wie sich etwas bewegte.
Sie erschrak kurz, als sie das kleine Leben spürte, das in ihr zu wohnen und wachsen schien, doch unterbrach nicht den Kuss aus Sehnsucht diesen Moment so lange wie möglich andauern zu lassen.
Sezunas Herz schlug schneller und sie konnte auch hören wie sich Kadens Puls deutlich hörbar beschleunigte. Er ging einige Schritte auf sie zu, bis sie an die Kommode stieß und eine Weile so verharrte.
Langsam strichen Kadens Finger über ihre Oberschenkel, als er schließlich auch noch das letzte Fünkchen Luft zwischen ihnen überwand, indem seine Hände zu ihrem unteren Rücken hochfuhren und er sie an sich drückte.
Sezuna keuchte auf und schnappte nach Luft, als Kaden den Kuss für einige Sekunden löste. Doch dann nahm er ihren Mund sofort wieder in Beschlag, um sie lange und innig zu küssen.
Als er sich schließlich von ihr löste, schimmerten seine braunen Augen voller Wärme.
„So haben wir uns schon lange nicht mehr geküsst“, erklärte er und strich Sezuna eine Strähne aus dem Gesicht.
„Ja“, sagte diese außer Atem, ehe sie einfach sagte, was sie gerade dachte: „Nicht mehr, seit wir auf der Erde waren.“
Im selben Sekundenbruchteil in dem sie die Worte ausgesprochen hatte, spürte sie Wind in ihrem Rücken.
Kadens Gesichtsausdruck schien leer zu werden, bis sie sich ängstlich umdrehte und feststellen musste, dass die Wände, die sie vor der Höhe geschützt hatten, weg waren.
Panisch wirbelte sie wieder herum, um nach Kaden zu greifen und Halt zu finden, doch dieser war verschwunden.
Schwer atmend blickte sie gen Himmel als dieser begann sich zu verdunkeln.
Sezuna spürte die fremde Präsenz in ihren Gedanken und wusste, dass es sich dabei wahrscheinlich um ihren Vater handelte, der sie dazu bewegen wollte, wieder nach Hause zurückzukehren.
Seine Fähigkeiten, die Gedanken auch auf lange Distanz zu manipulieren, waren Sezuna bekannt. Doch heute schien er sie einfach nur ärgern zu wollen.
Er hatte lediglich den Moment zerstört, der ihr so gut getan hatte und war dann wieder verschwunden.
Doch war ein Traum einmal zerstört, blieb er es meist auch für eine lange Zeit, bis man sich wieder hinaus kämpfte.
Das war auch der Grund, warum sie nun fiel.
In ein endlos leeres Loch aus Schwärze, das ihr panische Angst machte.
Wo würde sie landen, wenn sie aufschlug?
Sie hörte den dumpfen Aufprall ihres Körpers nur flüchtig. Viel mehr war sie mit den durchzuckenden Schmerzen beschäftigt, die sich durch ihren Körper zogen.
Die Dunkelheit um sie herum schien undurchdringlich.
Sie wusste nicht, wo sie war oder ob es überhaupt sowas wie Wände gab in diesem Nirgendwo in dem sie gelandet war.
Doch sie wusste, dass sie wieder zurück wollte.
Zurück zu Kadens Armen, die sie beschützt hatten.
Derselbe Kaden, der sie geküsst hatte.
Der Kaden, der sie im Stich gelassen hatte.
Der Kaden, der ihre Freundschaft buchstäblich in den Dreck geworfen hatte.
Kaden... der nicht mehr bei ihr war.
Sezuna wurde schwer ums Herz, als sie versuchte sich aufzusetzen.
Unter ihren Fingern spürte sie unebenen Stein, der leicht nass und damit unglaublich rutschig war.
Sie roch leichte Vermoderung und abgestandenes Wasser und sofort kamen die Erinnerungen zurück.
Sie musste sich im Keller, im Kerker, ihres Hauses befinden.
Ein Ort, an dem ihr Vater gerne unartige Sklaven und Spielzeuge aufbewahrte. Oder auch manchmal Töchter, wenn er der Meinung war, sie hätte sich falsch verhalten.
Sie war besonderes oft hier gelandet.
Ihre Gabe war nicht sonderlich geschätzt in ihrer Familie, weil es sie anders machte. Seltsam und auffällig. Niemand wollte, dass die Kinder dieser Familie auffällig waren. Nur die Eltern zählten.
Und aus dieser Familie sollte nichts nach außen dringen.
Sezunas goldene Augen sahen sich um und sie erkannte die kleine Zelle, in der sie lange Zeit verbracht hatte. Die Zelle, von der aus sie versucht hatte Kaden zu schreiben.
Doch sie war schon so geschwächt gewesen, dass ihre Magie kaum noch gereicht hatte, um die Briefe zu Kaden zu schicken.
Wie viele davon waren überhaupt angekommen? Einer mindestens, den einen hatte sie direkt an Edith geschickt und sie hatte gewusst, dass er angekommen war.
Und trotz allem hatte sie nie eine Antwort oder gar Hilfe bekommen.
Sie hatte all die Qualen über sich ergehen lassen, in der Hoffnung irgendjemand würde sie retten.
In der Hoffnung... ein Licht würde erscheinen und ihr den Weg aus der Dunkelheit weisen. Diese Auslöschen, damit sie sie nie wieder spüren musste... sie vergessen konnte.
Keuchend kniff Sezuna ihre Augen zusammen, als sie wiederhallende Geräusche aus der Ferne vernahm.
„Das ist nicht echt. Das ist nicht echt. Das ist nur ein Traum. Wach endlich auf!“, flüsterte sie sich selbst, mit zitternder Stimme zu, in der Hoffnung an einem schöneren Ort zu landen.
Doch es klappte nicht.
Die Angst schnürte ihr die Kehle zu und wurde immer schlimmer, je näher die Schritte kamen.
Dann hielten diese plötzlich und wurden leiser.
Sezunas zitternder Körper war an die kalte Wand gedrückt und sie versuchte ihre Atmung zu beruhigen.
Ja sowas liebte ihr Vater. Psychospielchen waren genau nach seinem Geschmack.
In den Gängen ertönte ein markerschütternder Schrei, der Sezuna dazu brachte zu zucken.
War er immer noch in ihrem Kopf?
Sezuna hielt die Hände hoch und versuchte krampfhaft irgendwie eine Lösung zu finden, doch sie wollte nicht aufwachen. Als wäre sie in sich selbst gefangen.
Dann ertönte ein leises Quietschen, das dafür sorgte, dass ihr schlecht wurde.
Die Tür wurde geöffnet und Schuhe, schwarze, fein polierte Schuhe, kamen in ihr Blickfeld, doch Sezuna traute sich nicht, aufzusehen.
Viel mehr drückte sie sich so sehr an die Wand, als würde sie darin verschwinden wollen.
Ihr Atem ging stoßweise, zitternd hervor, als die Schuhe noch die letzten wenigen Schritte auf sie zukamen und letztlich ein Mann vor ihr in die Hocke ging.
Zuckend kniff sie wieder die Augen zusammen, als sie gewaltsam am Kinn gepackt wurde und widerwillig die Augen öffnete.
„Es ist unhöflich sein Gegenüber nicht anzusehen“, erklang die hallende Stimme ihres Vaters, dessen Augen sie bedrohlich anleuchteten. „Denk immer dran: Du bist ein Nichts ohne mich“, drang die flüsternde Stimme an ihr Ohr, die durch das Echo im Keller jedoch immer und immer wieder auf sie zurückkam.
Eine Warnung. Normalerweise gab es nicht mehr als diese.
„Wie konntest du nur denken, dass du vor mir fliehen kannst?“, fragte er und machte ein bedauerndes Geräusch. „Aber du wirst schon noch zu mir zurück finden, kleiner Vogel. Und dann werde ich dir genüsslich die Flügel brechen und dich in einen Käfig sperren, aus dem du nie wieder entkommen kannst. Also genieß deine Zeit, solange du noch kannst. Aber kommt nicht auf dumme Ideen, sonst werde ich zurückkommen, verstanden?“
Bei seinen letzten Worten kam er ihr immer näher, bis seine Lippen ihre berührten und er in einer fast zärtlichen, liebevollen Geste über ihre Lippen strich.
Auch wenn sie ihm am liebsten ins Gesicht gespuckt hätte, so wusste sie doch, dass es keinen Sinn hatte. In ihren Gedanken war sie ihm hilflos ausgeliefert.
Stattdessen nickte sie kaum merklich in dem Glauben er würde sich wieder zurückziehen.
Er lächelte zufrieden, doch er wich nicht zurück.
„Kluge Entscheidung“, flüsterte er und entfernte sich nach einigen weiteren Sekunden und verschwand in dem nicht endenden Schwarz.
Mit einem lauten Schrei setzte sich Sezuna auf und blickte sich mit laut klopfendem Herzen und voll Panik um. Es war dunkel um sie herum, daher brauchte sie eine Weile, bis sie sich wieder erinnerte, wo sie war.
Langsam wurde ihr Blick schärfer, doch er war noch lange nicht wieder so gut wie normalerweise.
Als Vampir sah sie in der Nacht besser als andere Wesen, doch heute schien das nicht so zu sein.
Die Tür öffnete sich und Licht wurde eingeschalten, was Sezuna dazu brachte die Augen zu zukneifen und leise zu stöhnen.
„Alles okay? Ich hab dich Schreien hören“, fragte der Schwarzhaarige, der ins Zimmer stürmte und begann eben dieses zu durchsuchen.
Sie hatte vergessen, dass Roars Zimmer nicht nur unmittelbar in Kadens Nähe lag, sondern auch, dass er ein sehr feines Gehör besaß was Teil seiner Fähigkeiten beinhaltete.
Seufzend verfolgte sie die vorsorglichen Bewegungen von Kadens Bruder als würde er nach Einbrechern suchen.
„Es tut mir leid“, sagte sie schließlich. „Ich hatte einen Albtraum. Ich wollte dich nicht damit wecken“, erklärte sie. Es war ein gutes Gefühl zu wissen, dass jemand da war, wenn sie angegriffen wurde, aber gleichzeitig ärgerte sie sich auch darüber, dass sie Roar wahrscheinlich geweckt hatte.
Nachdem er das komplette Zimmer abgesucht hatte, kam er seufzend vor einem der Fenster zum Stehen.
„Schon okay. Ich hab sowieso nicht geschlafen“, erklärte der Schwarzhaarige und sah aus dem Fenster. „Wenn was sein sollte sag mir Bescheid, okay?“, ergänzte er zögernd und blieb noch einige abwartende Sekunden stehen, um sie zu mustern und sich schließlich doch zum Gehen zu wenden.
Sie saß noch immer im Bett und hatte Kadens Kopfkissen umklammert.
Außerdem konnte man in ihrem Ohr den silbernen Schmetterling sehen, der ihr Freundschaftsanhänger gewesen war.
Natürlich wusste die ganze Familie davon und sie wussten auch, wie sehr Kaden diesen verteidigt hatte.
Daher hatten sie anfangs, als sie das Armband nicht mehr bei Sezuna gesehen hatten, angenommen etwas wäre nicht in Ordnung. Nun, da er den Anhänger sah, beruhigte sich etwas in ihm. Aber gleichzeitig ahnte er, dass etwas nicht stimmte.
Sezuna ahnte schon, dass jeder in der Familie darauf brannte zu erfahren, ob sie sich denn nun vertragen hatten oder nicht. Alle außer Edith. Doch für sie war es vermutlich irrelevant es zu wissen. In ihren Augen war Sezuna schließlich auch noch dasselbe Kind wie vor 100 Jahren.
Sie selbst wollte diese Frage nicht beantworten. Sie wollte sie nicht mal hören.
Was sollte sie auch antworten?
Gab es auf diese Frage eine richtige Antwort?
Wahrscheinlich nicht.