Du bist Karja Sturmvogel.
Gerade hast du dich zu den Händlern gesetzt, um deine Suche nach einem Karren zu beginnen, da hörst du, wie ein Stuhl umfällt. Elred ist aufgesprungen und richtet den Dolch drohend auf einen Betrunkenen, der an den Tisch deiner Gefährten getreten ist.
So viel dazu, dass ihr keine Aufmerksamkeit erregen wollt!
„Mach meine Freundin nicht an!“, ruft der Elf aufgebracht.
Der Mann ihm gegenüber, ein ausgesprochen hässliches Exemplar, blinzelt zwischen den beiden Kalynorern hin und her. „Das is‘ deine? Glückwuns, Kumpel. … Willse echt nich‘ teilen?“
„Nein!“, zischt Elred mit scharfem Unterton.
„Son gut, son gut!“ Der Betrunkene hebt die Hände und torkelt von dannen.
Die Anwesenden, welche die Szene beobachtet haben, wenden sich ihrem Bier wieder zu.
Die Händler, bei denen du sitzt, grinsen anzüglich. „Drittes Rad, wie? Das muss doch auch einsam sein.“
„Sehr“, erwiderst du ruhig. „Aber noch mehr tut mir der Rücken weh. Wir mussten unsere Waren bis hierher schleppen.“ Du setzt deine traurigste Miene auf und hoffst, dass die Händler auf dem Rückweg von Barkan’dor einen Karren erübrigen können.
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Am nächsten Morgen habt ihr eine freundliche Reisetruppe gefunden, die euch mitnehmen will. Und du hast auch einen Wagen erhandelt, auf dem ihr einige eurer Besitztümer unter einer dicken Plane verstaut. Ihr habt in den frühen Morgenstunden, als alle schliefen, drei Stühle aus der Taverne entwendet, um euren ‚Waren‘ das nötige Volumen zu verschaffen.
Durch eine der Kontrollen werdet ihr damit nicht kommen, aber für einen flüchtigen Blick sollte es reichen.
Die Reisegemeinschaft bricht früh am Morgen auf. Euer erster Halt, den ihr am Mittag erreicht, ist das vorderste Tor, eine mächtige Steinmauer mit zwei eisernen Portalen, die in einen Pass zwischen steilen Hängen eingelassen ist. Die Tore sind hoch wie vier, fünf Männer übereinander und breit genug, dass drei Karren nebeneinander hindurchkämen, wären nicht die Kontrollen.
Die Reisenden stauen sich vor dem Tor, sowohl eure Begleiter als auch einzelne Händler und viele, die zu Fuß unterwegs sind. Jeder muss am Tor vortreten und Papiere vorzeigen oder sich anders ausweisen. Die Händler, mit denen ihr reist, besitzen kleine, handtellergroße Steintafeln, Ekuwaar, die sie als vertrauenswürdige Personen ausweisen. In die Rückseite der Tafeln ist ihr Bild in vollendeter Handwerkskunst gemeißelt. Das erhält man nur, wenn man schon häufiger in Barkan’dor war und sich den Zwergen bewiesen hat.
Die Reisenden bilden eine lange Schlange an der Seite der Straße. Auch mit dem Ekuwa kommt niemand bevorzugt hindurch, sodass sich alle auf die Wartezeit einstellen. Auf der anderen Seite kriechen die Karren in der Gegenrichtung durch die Tore. Wer Barkan’dor verlässt, wird kaum kontrolliert. Vielleicht ist es den Zwergen hier am äußeren Tor auch egal, da der Ärger ihr Reich verlässt.
Während ihr auf das Tor zukriecht, betrachtest du die Türme zu beiden Seiten, eckige, gedrungene Steinbauten, die auf die Felsen gesetzt wurden. Das obere Geschoss besitzt große Holzstapel unter einem von vier Säulen getragenen Dach. Signalfeuer, die sich tiefer ins Land hinein fortsetzen, wie du weißt. Du kannst dir bildlich vorstellen, wie sie nach dem Diebstahl des Schöpfersteins entzündet werden, um die Kontrollen an den Ausgängen zu verschärfen. Euer Rückweg wird sicherlich ebenfalls nicht einfach sein.
Falls ihr überhaupt so weit kommt!
Als eure Gruppe sich dem Tor nähert, werden die Händler schneller durchgewunken. Die Schlange vor dem Tor entzerrt sich. Du umfasst den Schöpferstein, ziehst den orangen Stein vorsichtig über dein Hemd. Du siehst zurück und nickst Elred zu.
Dann verstummen die Gespräche um euch herum. Die Reisenden bewegen sich langsamer. Auch ihr geht wie durch Watte. Brenna ergreift ihren eigenen Stein und konzentriert sich, als ihr vortretet. Du fasst die kleine Steintafel fester, die in Form und Größe den Ekuwaar der anderen gleicht, allerdings lediglich mit Erde beschmiert ist. Jeder Zwerg wird sofort erkennen, dass das kein echter Ausweis ist.
Das Herz schlägt dir bis zum Hals. Während du vor die Wache trittst, schließt Brenna die Augen. Über den Imperial aus Galabad befiehlt sie der Wache, sich die Steintafel nicht genau anzusehen und euch stattdessen durchzuwinken.
Du hältst den Atem an. Unter dem Einfluss des Tigerauges vergeht die Zeit quälend langsam. Brenna braucht diese langsamere Zeit, um sich auf die Magie zu konzentrieren. Elred behält die Wache genau im Blick, bereit, sofort einzugreifen, wenn sie Misstrauen zeigt.
Doch der Zwerg, der sich nach der Tafel in deinem Griff gereckt hat, nickt und winkt euch durch. Du atmest trotzdem erst auf, als ihr durch das Tor hindurch seid. Erst hier lässt auch Elred die Magie erlöschen.
Das erste Tor wäre geschafft. Damit liegen nur noch sechs vor euch. Deine Knie sind weich, doch immerhin hat euer Plan funktioniert.
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Fünf weitere Tore passiert ihr auf diese Weise, immer im Schutz der großen Gruppe, immer mit der angespannten Ruhe des Tigerauges. Jede Sekunde zählt, wenn ihr euch durch die Tore schleicht. Ihr müsst sofort reagieren können, wenn die Zwerge misstrauisch werden. Oder besser gesagt: Brenna muss dann reagieren. Sollte eure Täuschung auffliegen, muss sie die Wachen ganz unter ihre Kontrolle zwingen und so lange wie möglich halten, damit ihr Abstand zum Tor gewinnen könnt. Danach werdet ihr rennen müssen. Oder, noch besser, reiten. Dir steht dafür der Esel in Aussicht, dabei kannst du noch nicht mal ein normales Pferd reiten!
Eine größere Gruppe Zwerge ist an jedem Tor stationiert. Brenna hat erzählt, das sie zwei Dutzend wahrnimmt. Sollten die alle misstrauisch werden und angreifen, hättet ihr ein echtes Problem.
So bist du froh, dass eure List funktioniert hat. Nun, am Abend des dritten Tages, nachdem ihr vom Gasthaus aus aufgebrochen seid, liegt nur noch ein Tor vor euch: Die goldenen Flügeltüren am Ende der Straße, die sich zu einer riesigen Halle im Berg öffnen. Goldener Schein begrüßt euch. Barkan’dor lockt mit Hunderten Feuern, ein willkommener Anblick, nachdem ihr die letzten Stunden in einem aufziehenden Eissturm verbracht habt.
Die Tore sind noch größer als die, die ihr bisher passiert habt, aus reinem Gold, wie es scheint – wobei du gehört hast, dass darunter ein stabiler Eisenkern liegt – in dem sich verschiedene Szenen zeigen. Zwerge im Kampf gegen Elfen, Orks oder das Dschungelvolk in Oylen ja Bereenga.
Dieses fremdartige Reich ist nicht mehr weit entfernt, wenngleich ihr die Berge durchqueren müsstet. Du musst an den Schöpferstein denken, der dort liegt. Ob Elred und Brenna wirklich auf diesen verzichten wollen?
Am siebten Tor gibt es keine Kontrollen mehr, nur eine Wache in goldener Rüstung, die euch mehr oder weniger gelangweilt durchwinkt. Dahinter erstrecken sich einige kasernenartige Gebäude zu beiden Seiten, die Halle an sich ist jedoch offen und einladend. In bronzenen Schalen brennen riesige Feuer, über kleineren Feuerstellen überall wird Fleisch am Spieß gedreht. Das Zischen von Fett, das in die Flammen fällt, wird vom Stimmengewirr übertönt. Händler haben sich mit ihren Karren oder richtigen Marktständen in jede verfügbare Lücke zwischen riesigen Zwergenstatuen und Steinhäusern gequetscht. Dazwischen gibt es nur noch enge, gewundene Straßen, ein Labyrinth, durch das ihr eurer Reisegruppe folgt. Die Händler steuern die Seiten der Halle an, wo sich höhere Trassen und Straßen erheben, vor den Fassaden von Gebäuden, die in den Stein gegraben sind. Mehrere große Torbögen öffnen sich in weitere säulengetragene Hallen. Die Steine ringsum werfen den Lärm tausendfach zurück, bis man das eigene Wort kaum noch versteht.
Die warmen Lichter sind angenehm nach der Kälte, das laute Gedränge erinnert dich an Feste in der Mondsee. Es ist herrlich, in dieser Masse unterzutauchen, wo euch niemand mehr einen zweiten Blick schenkt. Die Anonymität ist hilfreich für eure Mission, aber du liebst diese großen Feste auch einfach.
Gasthäuser gibt es hier ebenfalls: Nischen im Felsen mit verzierten, handgeschlagenen Kanten. Die Wände sind mit Reliefs verziert, die weitere Kämpfe zeigen. Als wollten die Zwerge ihre Gäste warnen, dass man sich mit ihnen besser nicht anlegt. Die Betten sind Nischen, nicht viel größer als eine Koje an Bord eines Schiffes. Die Ställe für eure Tiere enthalten frisches Heu und sind geräumiger als sie es auf See wären.
Melréd, Duma und der Esel wirken vor allem froh, dass die lange Wanderung hinter ihnen liegt, auf der sie die Steine schleppen mussten.
Es gibt noch viele weitere Hallen. Eure Reisegruppe hat ein bestimmtes Ziel in den oberen Hallen, doch eure Wege trennen sich hier. Unter anderem, weil ihr euer Ziel bereits aus der Ferne gesehen habt.
Der Schöpferstein von Barkan’dor, der pechschwarze Obsidianspiegel, befindet sich in der zweiten großen Halle, die am Kopfende des Eingangs abgeht, auf einem großen Podest. Er hängt über dem Thron, welcher leer ist – der Zwergenkönig sitzt dort nur zu besonderen Festen – umrahmt von einigen anderen Kostbarkeiten. Kettenhemder aus weißlichem Gold, alte Äxte oder Helme, besonders prächtige Edelsteine … die Zwerge wollen ihren Reichtum zur Schau stellen, was für euch einen Vorteil hat: Ihr wisst genau, wo der Schöpferstein dieses Landes ist.
Wie ihr darankommen sollt, ist eine andere Frage. Es gibt Wachen, die auf dem erhöhten Podest vor Thron und Schätzen stehen, diese Ebene darf niemand betreten. Außerdem haben alle Gäste sie im Blick. Schon aus der ersten Halle sieht man den Schöpferstein durch einen Torbogen, aber in der zweiten Halle gibt es Balkone auf den höheren Ebenen, Treppen und viele, viele Ebenen, die in die zylindrische Halle hineinsehen. Der Thron befindet sich im Herzen des am meisten besuchten Gebiets der Berge. Hier geht es hinab zu den Minen, hinauf zu den Wohnräumen der Zwerge, in die großen Handelshallen, wo Geschäfte abgeschlossen werden, und zu den Schmieden, wo die Erdschätze in noch wertvolleres Geschmeide umgewandelt werden. Sowohl Zwerge als auch Gäste wimmeln hier auf allen Ebenen herum, Tag und Nacht, da der Berg auch lange nach Sonnenuntergang nicht zur Ruhe kommt.
Ihr habt euch einen Platz an einem Feuer in der zweiten Halle gesucht und genießt eine Mahlzeit aus fettigem Hammelfleisch. Die Bergziegen werden irgendwo im Berg gehalten, in Höhlen mit offenen Dächern, wo Gras wächst.
„Ich hätte nur zwei Ideen“, sagt Brenna leise. „Wir müssen entweder den ausgeklügelsten Diebstahl in der Geschichte der Diebstähle absolvieren, vielleicht mit einer Angel von oben, oder …“
„Oder was? Aufgeben?“
„Nein … Ich dachte, diese Ebene sieht doch aus wie eine Bühne. Vielleicht können wir alle ablenken. Wir führen ein Theaterstück oder so auf.“
„Spinnst du?“, fragst du entgeistert. „Hast du vergessen, dass hier überall unsere Steckbriefe hängen?“
„Das ist es ja.“ Elred legt den Kopf schief. Natürlich ist er für Brennas Plan! „Niemand würde damit rechnen, dass wir so wagemutig wären. Und darum erkennt uns auch niemand.“
„So verrückt, meinst du wohl“, brummst du. Du nimmst einen Schluck vom Met, der schwer und süß ist. Du könntest ihn fassweise trinken, was dir garantiert zu Kopfe steigen würde. Darum bist du froh, dass ihr aller Wahrscheinlichkeit nach nicht besonders lange hier bleiben werdet. Den Stein müsst ihr nicht suchen. Je nachdem, wie schnell euch ein guter Plan einfällt, seid ihr vielleicht schon bald wieder auf dem Rückweg!
Und dann ohne Steine oder einen Karren voller Stühle, nur mit euren Pferden und dem Esel.
Nachdenklich siehst du wieder zu dem Obsidianspiegel. Der befindet sich wirklich auf dem Präsentierteller. Ihn zu stehlen wird schwierig. Vielleicht könnte Brennas wahnsinniger Plan mit der Ablenkung vor aller Augen funktionieren. Denn auch ein unauffälligeres Vorgehen birgt seine Risiken – hätte aber den Vorteil, dass nicht jeder sofort Bescheid weiß, dass die Schauspieltruppe etwas damit zu tun haben muss.
Du nimmst noch einen Schluck Met.
Welchen Plan willst du ausarbeiten?
- Den Diebstahl. Lies weiter in Kapitel 9.
[https://belletristica.com/de/chapters/340726/edit]
- Die Aufführung. Lies weiter in Kapitel 10.