Ich öffnete Instagram über meinen Laptop, während Shirley via Handy vom Schlittschuhlaufen auf der Eisbahn am Tower of London erzählte. Mel und sie waren zwar an die zehn Mal auf dem Po gelandet, hatten aber eine Menge Spaß.
Ich rief das Profil mit dem Text Magic Eyes. Want to see you again. Where are you? auf. Der mysteriöse Streetartkünstler Poem, der auf seinem Profilbild diese zorroähnliche, wenn auch weiße Maske trug, hatte bis jetzt zwei Fotos eingestellt. Sein erstes Werk prangte auf der Rückwand eines Cafés in Shoreditch. Welches genau es war, verriet er nicht. Shoreditch war ein hipper Stadtteil voller Bars, Cafés, Agenturen und Boutiquen, in dem besonders das Nachtleben tobte, in das ich schon mehrfach mit Shirley eingetaucht war. Poem hatte bereits fünftausend Follower. Nicht schlecht. Ich selbst hatte mich irgendwann mal bei Instagram registriert, aber noch kein Profil angelegt. Shirleys hingegen war gepflastert mit Fotografien, die sie in London und außerhalb geknipst hatte. Sie sah das Besondere in den kleinen Dingen. Das gefiel mir genauso wie ihren bisher zweitausend Followern.
Poems erstes Bild zeigte Augen, die so grün waren wie die Grasflächen des Hyde Parks im Sommer. Sie strahlten über die Hälfte der Fassade. Ich musste zugeben, dass mir der Ausdruck gefiel. Das Suchende, Geheimnisvolle, Weiche und durchaus auch Tigerhafte in ihnen. Sie zogen einen magisch an. Der Spruch darunter wirkte hingegen leicht aufgesetzt auf mich. Vielleicht lag es auch daran, dass ich befürchtete, Mr. Poem wolle sich nur Aufmerksamkeit sichern. Schließlich wimmelte es in London nur so von Graffitis. Allerdings war es schlau, seine Kunst mit einer angeblichen Liebesgeschichte zu verbinden. Zugegeben, wäre sie wahr, wäre es durchaus spannend und romantisch. Ich las noch einmal den Vers unter dem Gemälde.
Green eyes crossed my way.
What a crazy night.
Life in Londons streets stood still for a little while.
All I want is to see you again.
Where, who are you, magic eyes?
Wie er wohl aussah – ohne diese seltsame Maske? Ich klickte auf Bild Nummer zwei.
„Hallo? Bist du noch da?“, rief Shirley in ihr Handy.
„Ja. Moment“, murmelte ich, völlig geplättet von dem, was ich sah.
Die Farbverläufe waren fantastisch. Mr. Poem hatte ein völlig eigenes Farbuniversum erschaffen, gesprüht auf die Mauer einer stillgelegten Fabrikhalle. Kein anderes Graffiti war darauf gesprüht worden, vermutlich wegen der vielen Löcher in den alten Wänden. Poem aber hatte diese geschickt eingesponnen, sodass sie dem Bild noch mehr Tiefe verliehen. Zwischen all den kleinen Galaxien und Sternen hatte er grüne Farbfäden gezogen. Vielleicht als Sinnbild dafür, dass alles im Grunde miteinander verbunden war. Dazwischen leuchtete das grüne Augenpaar. Am anderen Ende der Mauer, ihnen gegenüber, strahlte ein weiteres. Wohl sein eigenes. Tiefblau wie das Meer. In einem Auge spiegelten sich tosende, aufbauschende Wellen. Eine unterbrochene grüne Linie verband die beiden Paare und im unteren Drittel der Wand stand wieder ein Vers.
An endless sky, an endless universe,
but I still hope to find you
my soulmate. You touched my heart
that moment
when I saw you in Londons streets,
not alone, but loneliness in
your wonderful eyes, like in mine.
Mr. Poem suchte also seine große Liebe.
„Schon über viertausend Likes hat er dafür kassiert. Kein Wunder, es ist himmlisch!“
„Ja, es ist nicht schlecht“, spielte ich das Ganze herunter. Verdammt, Mr. Poem hatte auch mich langsam in seinem Netz. Unter sein erstes Foto hatte er geschrieben:
Ich sah sie in Londons Straßen, als der Himmel über der Stadt explodierte. Nur einige Sekunden. Begleitet von Gitarrenklängen. Sie hat in meine Richtung geschaut. In diesem Augenblick spürte ich genau, sie ist meine Seelenverwandte. Ob als gute Freundin oder mehr – ich weiß nur eins, ich muss sie finden. Grüne Augen, zartes Gesicht, volle Lippen. Kannst du dich auch an mich erinnern? Dann melde dich via PN. Ich weiß keinen anderen Weg mehr, um dich zu finden. Und eine innere Stimme sagt mir, dass du die Kunst so liebst wie ich. Vielleicht bin ich verrückt, aber ich wage es einfach und folge diesem Gefühl, dass du etwas ganz Besonderes bist.
Erscheint bald, gibt es aber schon exklusiv bei Thalia. :) Ab 03.01.19 dann auch als Print.