»Wer war das eben?«
Sein Blick ruhte immer noch auf der Truhe und tief in Gedanken versunken, hatte er Charles Schritte gar nicht vernommen. Mehrmals blinzelte er, bis er den Inhalt auspackte und verstaute. Er wollte keinen weiteren Streit vom Zaun brechen, also fasste er sich kurz.
»Der Hexenmeister, der für diese Insel verantwortlich ist. Er brachte neue Vorräte.«
»Sie hassen uns. Das Fleisch ist sicher vergiftet. Scheiße, ich hab davon gegessen.«
Charles wollte sich schon den Finger in den Hals stecken, als er ihn abhielt. Um Ruhe bemüht, betrachtete er das fahle Gesicht seines Bruders. Die Lippen trotzig zusammengepresst, erinnerte er an ein kleines Kind.
»Es ist wahr, dass die Zunft der Hexenmeister eine Abneigung gegen uns hegen«, begann er gefasst, »Angesichts der Verbrechen, die wir im Namen unserer Herren und unsere Herrschaften selbst begingen, ist das in meinen Augen eine natürliche Reaktion. Trotzdem halten sie sich an die Friedensvereinbarungen, solange wir dies tun. Owen würde mir niemals Schaden wollen, egal, wie wenig er mich leiden kann. Er würde unter keinen Umständen eine Auseinandersetzung zwischen den Hexenmeistern und Vampiren heraufbeschwören.«
Der Frieden stand dafür zu sehr aufs Messers Schneide, nachdem beide Parteien ihn erbittert erkämpft hatten. Zuvor metzelten sie sich gegenseitig nieder, bis lediglich die Stärksten auf beiden Seiten übrig geblieben waren.
Von alldem schien sein Bruder keine Ahnung zu haben. Er stand da mit verkniffenem Mund und wich seinem Blick aus. Es war leicht, jemanden eines Verbrechens zu beschuldigen, wenn man es nicht besser wusste oder gewisse Tatsachen ignorierte.
»Ich möchte nicht mehr hören, dass du ihm übel nachredest, Charles. Wenn er es darauf anlegt, ist deine Zeit hier schneller um, als du glauben magst. Im Übrigen lässt er sich so ein Verhalten nicht gefallen.«
Außer, und das war die Ausnahme, ein gewisser Alb machte sich über ihn lustig. Das ließ Owen bis zu einem bestimmten Grad zu und daran schien sich Sion bisweilen zu halten. Charles musste davon nichts wissen, nur begreifen, wie Ernst die Lage trotz allem war.
»Hmpf.«
Ohne ein weiteres Wort verzog sich sein Bruder wieder nach oben in sein Zimmer. Wer sein Wissen nicht erweitern wollte, dem war nicht zu helfen. Er hoffte, das änderte sich irgendwann. Andernfalls brachte es Charles in Schwierigkeiten, aus denen ihm nicht zu helfen war.
»Meine Güte, das Jüngchen ist vielleicht übler Laune.«
»Guten Morgen, Sion«, grüßte er den Alben, der zu Besuch hereinspazierte und sich an den Küchentisch setzte. Wie er seinen Freund kannte, erwartete dieser ein Frühstück. Er schaute noch einmal zur Tür, wo Charles verschwunden war, ehe er Platz nahm.
»Es ist schwierig mit ihm. Erzähl, wie war deine Nacht?«
»Kurzum: fad. Ich scheine es nicht mehr sonderlich genießen zu können.«
Sions Seufzen täuschte ihn nicht über das breite Grinsen in dessen Gesicht hinweg. Leise schnaubend lehnte er sich zurück. Da haschte jemand nach Mitleid, ohne es wirklich zu brauchen. Wenn es nicht besser wüsste, würde er behaupten, dass Sion dem Hexenmeister gefolgt war. Das war selbst für ihn ein abwegiger Gedanke, den er gleich wieder verwarf.
»Mein Geld werde ich demnächst wohl besser investieren müssen«, überlegte er laut, nur um seinen gegenüber aus der Reserve zu locken und es funktionierte. Sion zog eine Schnute, bis er leise vor sich hinlachte.
»Da fiele mir eine Möglichkeit ein. Ich habe Hunger und da ich weiß, dass du nur Körperteile in deinem Kühlschrank hast, gehen wir essen. Du könntest etwas mehr üben, wenn du deinem Menschlein schöne Augen machen möchtest.«
Unerwähnt blieb die Tatsache, dass Sion selbst wieder auf der Suche nach einem jungen Mann war.
»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, gab er zu bedenken, » mit richtigem Frühstück habe ich noch keine ausreichenden Erfahrungen gemacht.«
»Dann wird es Zeit.«
»Ich kann Charles nicht wieder allein lassen.«
Was wäre er am Ende für ein Bruder, wenn er ihn immer wieder in seinem Zimmer versauern ließ? Er hatte ihm gegenüber Pflichten, was Sion sichtlich verstimmte.
»Möchtest du meine Meinung hören?«
Nein, bitte nicht.
»Ich kenne sie bereits und würde das Thema lieber ruhen lassen. Wenn es akzeptabel für dich ist, mache ich Frühstück. Wir müssten nur einkaufen gehen.«
Gegen einen kurzen Abstecher in einen Supermarkt hatte er nichts einzuwenden. Sie waren bald wieder da und Charles ließe sich vielleicht dazu überreden, mit ihnen zu frühstücken. Sein Freund hob dagegen überrascht die Augenbrauen.
»Kannst du denn kochen, Constantine?«
»Mit Sicherheit besser als du«, zog er Sion auf, da er den Alb noch nie hatte kochen sehen. Die Zunge herausgestreckt, stand sein Freund auf und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ich habe andere Vorzüge. Es ist eh unter meiner Würde, mir mein Essen selbst zuzubereiten. Wozu gibt es Köche?«
Wie es schien, hatte er einen wunden Punkt bei Sion getroffen. Ihnen wurde alles Mögliche beigebracht, aber simple Tätigkeiten gehörten nicht dazu.
»Entschuldige, wenn ich dich verletzt habe. Das wollte ich nicht. Nimmst du mein Angebot nun an?«
»Mein Magen knurrt, von daher ja. Ich erwarte Großes, mein Lieber, also sei gewarnt.«
Die Herausforderung nahm er gern an. Wer hätte gedacht, dass das Wälzen von Kochbüchern sich so früh bezahlt machte? Gespannt auf die neue Erfahrung nahm er sich seine Jacke und schrieb eine kurze Notiz, falls sein Bruder wieder herunterkam.
»Schwebt dir etwas Bestimmtes vor, was ich dir zaubern soll oder möchtest du überrascht werden?«
»Du hast die Qual der Wahl, mein Freund.«
Sion hielt ihm breit grinsend die Tür auf, ehe es für einen Moment verschwand, als er einen Blick zur Decke warf. Er horchte ebenfalls auf, es gelang ihm aber nicht den Grund für Sions Verstimmung erahnen. Ehe er nachfragen konnte, trat sein Freund gut gelaunt nach draußen. Er verspürte leichtes Unbehagen, als er ihm folgte und es rührte nicht davon her, dass er unter die Menschen treten musste.
»Wir werden angestarrt.«
»Sie schauen immer dumm aus der Wäsche, wenn sie mich an einem ungewohnten Ort sehen«, erklärte Sion unbekümmert und sprach absichtlich laut, dass die Gesichter der Anwesenden sich rötlich färbten. Er lachte sogar dann noch, als mit vollbepackten Wagen an einer der Kassen standen.
»Glaub mir, Constantine, du bist hier nicht die größte Kuriosität. Es könnte aber sein, dass sie dich für meinen neusten Lover halten. Mach dir darüber keinen Kopf. Jeder steht im Verdacht, wenn ich nur einen Moment zu lange hinsehe.«
Ihm war nicht zum Lachen zumute. Aus den Augenwinkeln bemerkte er die stierenden Blicke der Leute um sie herum. Er konnte sich gut vorstellen, was in ihren Köpfen vor sich ging. Es gefiel ihm nicht, denn es entsprach nicht der Wahrheit.
»Hey, Con«, Sion stieß ihm den Ellbogen in die Rippen, »steh drüber. Sie werden nicht so schnell damit aufhören.«
Das wusste er, doch billigte er so ein Verhalten nicht.
»Wenigstens ich weiß, dass es zwischen uns nichts zum Tratschen gäbe. Du bist nicht mein Typ.«
»Du musst nicht gleich gemein werden«, jammerte Sion neben ihn, sehr zu ihrer Belustigung, »ich kann doch auch nichts dafür, dass du auf Jüngere stehst.«
Es war gut, dass er nicht fähig war, zu erröten. Unter den verwunderten Blicken der Menschen, täte er es als einer von ihnen mit Sicherheit und Sion blieb gut gelaunt an seiner Seite. Das war eine äußerst peinliche Begebenheit.
»Ist es zu viel verlangt, wenn ich dich bitte, das nie wieder zu machen«, fragte er auf dem Heimweg. Selbst der Kassierer hatte Mühe damit gehabt, seiner Arbeit nachzugehen. Er wollte sich nicht vorstellen, was jetzt im Supermarkt vor sich ging.
»Sag nicht, du lässt dich von diesen ahnungslosen Wichten ins Bockshorn jagen. Ich fand es recht unterhaltsam.«
»Ich möchte ungern noch mehr auffallen oder Owen verärgern.«
Gerade Letzteres könnte dazu führen, dass Lady Jacinda sich zeigte und seiner Herrin wieder gegenüberzustehen, um in Demut vor ihr auf die Knie zu fallen ... dazu war er nicht bereit.
»Oh je, das mache ich jeden Tag, Constantine. Siehe da, ich bin immer noch hier.«
»Du hattest ja auch Sex mit ihm«, entschlüpfte es ihm und bereute seine Worte sofort, »es tut mir leid, das war vermessen von mir.«
Es stand ihm nicht zu, darüber zu urteilen. Er fragte sich nur, wie es überhaupt dazu gekommen war. Owen schien ihm nicht der Typ zu sein, der sich mit ihresgleichen einließ.
»Das stimmt.«
Sion stieß ihm erneut den Ellbogen in die Rippen, um sich seiner Aufmerksamkeit sicher zu sein. Er sah den Alben an, in dessen Gesicht ausnahmsweise mal kein Lächeln zu erkennen war. Sion wirkte auf ihn viel mehr bekümmert. Wenn es wieder eine seiner Scharaden war, sprach er fürs Erste kein Wort mehr mit ihm.
»Glaub mir, dass ich dadurch nicht mehr Rechte habe als du. Vielmehr kümmert sich Owen seitdem einen Dreck um mich.«
Harsche Worte, die er nicht so recht glaubte. Der Hexenmeister war für sie zuständig. Es gab keinen Weg, wie Owen sich aus der ihm übertragenen Verantwortung entzog. Zumindest keinen, von dem er wüsste. Selbst der Tod bot keinen, weil ausgebildete Hexenmeister für gewöhnlich nicht sterben konnten.
»Worüber du auch immer nachdenkst, ich erinnere dich an mein Frühstück. Außerdem«, wieder ganz der Alte sah Sion auf seine Uhr, »haben wir von deiner so kostbaren Stunde unter Menschen fast dreiundvierzig Minuten verplempert. Der arme Marc kommt heute wohl nicht in den Genuss deiner Gesellschaft.«
Er blinzelte. Das war wirklich mehr Zeit, als er angenommen hatte. Sie waren doch erst vor kurzem losgezogen ...
»Du hast mich mit Absicht abgelenkt, nicht wahr?«
»Vielleicht ein bisschen«, gestand ihm sein Freund fröhlich, »aber du solltest dich davon nicht abhalten lassen, heute Abend wieder Essen zu gehen. Mach aus der einen Stunde einfach anderthalb. Sollte nicht so schwer sein, oder?«
Wenn Sion wüsste, wie schwer es ihm fiel. Der Alb machte es sich leicht, schließlich musste er sich nicht verstecken. Niemand sah ihm an, was er wirklich war. Darum war er beneidenswert.
Seufzend besah er sich den Einkauf und fasste den Entschluss, dass er einfach mehr aß.
»Du forderst das Schicksal unnötig heraus.«
»Nein, ich habe nur Vertrauen in dich. Das ist alles.«
»Und du denkst dabei kein bisschen an meinen Bruder.«
Ein unschuldiger Blick weckte sein Misstrauen, als sie ihren Weg fortsetzten. Mehr gab es nicht zu sagen. Außer ihm wollte niemand Charles hier haben. Ihn ließ das Gefühl nicht los, dass selbst der lieber an einem anderen Ort wäre. Der Notizzettel lag unberührt auf dem Küchentisch, als sie das Haus betraten. Sion bastelte daraus ein Flugzeug und ließ ihn im Abfalleimer landen.
»Wenn du mich fragst, ist es sinnlos, an diesem Familienbild festzuhalten.«
Er stellte die Einkäufe ab, bevor er sich ans Werk machte. Sion hatte leicht reden, denn seine Familie war riesig.
»Das sagst du, weil dein Vater kein Interesse an euch hat und ihr euch alle aus dem Weg geht. Seit ich weiß, dass es Charles gibt, möchte ich ihn an meinem Leben teilhaben lassen. Ist das falsch?«
Wenn sein Bruder den Wunsch äußerte, sich einen anderen Ort zum Leben auszusuchen, würde er es zulassen. Er war kein Untier, wie die Herren seines Bruders. Er zwang ihn nicht, hierzubleiben.
Tief in Gedanken versunken, schlug er Eier auf und verquirlte sie zusammen klein gehackten Zwiebeln. Das Brennen in seinen Augen nahm er wahr, störte jedoch nicht seinen Blick. Er fand ihn sogar recht amüsant. Wie sich eine Pflanze zur Wehr setzte ... interessant.
»Ich weiß nur, dass ich keinen meiner Brüder oder Schwestern um mich haben will. Sie sind alle unausstehlich«, meinte Sion hinter ihm, was ihn zusätzlich zum Lächeln brachte. Er war sich sicher, dass die Geschwister gleiches über ihn sagen würden.
»Hast du es denn mal versucht?«
»Nicht freiwillig. Vater hat mich seinem ältesten Spross aufgezwungen, kurz nachdem meine Mutter starb. Er hat mir deutlich zu verstehen gegeben, was er davon hielt. Ich erinnere mich nicht mehr an vieles, aber seine Hasstiraden über unseren alten Herrn sind legendär.«
Das klang ... schrecklich.
Dagegen kamen ihm die Jahrzehnte im Kellergewölbe gar nicht mehr so grausam vor. Er schüttelte die Leere ab, die sich bei dem Gedanken in ihm breitmachte, von sich. Vielmehr empfand er Mitleid mit Sion.
»Tut mir leid, das zu hören.«
Er verrührte die Eier in einer heißen Pfanne und hielt für einen Moment die Luft an. Der Geruch von gebratenen Eiern stieß ihn ab, kaum dass er ihm in die Nase stieg. Hinter ihm lachte sein Freund aus einem ihn unerfindlichen Grund.
»Scheint dir nicht sehr zu bekommen, Constantine.«
»Ich glaube, ich verzichte auf Eiergerichte«, gab er zu und schaltete den Herd aus, als die Rühreier fertig waren. Ihm widerstrebte es, davon auch nur einen Bissen zu probieren.
»Gib schon her. Bei deinem Gesichtsausdruck vergeht mir der Appetit. Den Rest des Einkaufs nehme ich mit und lass vielleicht mal einen meiner Jungs für mich kochen.«
Erleichtert stellte er den Teller auf den Tisch und sah Sion dabei zu, wie er das Essen vertilgte. Bei dem Anblick rumorte es gefährlich in seinem Magen, doch er riss sich zusammen.
»Wirklich gut für das Gericht eines Ghuls. Es fehlt lediglich etwas an Salz und Pfeffer.«
»Es freut mich, dass es dir schmeckt.«
Ein Stück spießte sein Freund mit der Gabel auf, lachte vermutlich über seinen Gesichtsausdruck.
»Du solltest deinem Menschlein sagen, dass du gegen Eier allergisch bist. Sonst übergibst du dich am Ende noch über seine Schuhe.«
Den Rat wusste er zu beherzigen. Es würde noch dauern, bis er je die Gelegenheit bekäme, von Marc bekocht zu werden.
»Ich öffne mal das Fenster.«