Lebhafter Betrieb herrscht auf der Hauptstrasse in Scuol. Ein Auto folgt dem andern, stinkend und hupend. Dazwischen suchen sich Radfahrer ihren Weg, elegante Bogen fahrend. Auf den Gehsteigen bummeln, eilen und marschieren Touristen ohne Zahl, bleichgesichtig und müde noch die einen, braungebrannt und erholt die andern.
Zu betriebsam ist mir Scuol, hier will ich nicht bleiben. Rasch durchquere ich den Ort, lasse die vielen Menschen zurück. Linkerhand finde ich den Höhenweg nach Sent. An einem Brunnen lösche ich noch einmal den Durst und mache mich dann auf, Sent entgegen.
Heiss scheint die Sonne, während ich gemächlich an Höhe gewinne. Ab und zu bleibe ich stehen, erhole mich etwas und geniesse den Blick in die Berge. Tief atme ich ein – wie ich diese Gegend liebe!
Stille umgibt mich nun, wohltuende Stille nach der Betriebsamkeit in Scuol. Weit unten rauscht der Inn. Wie ein silbrig-graues Band liegt er im sich verengenden Tal. Steil ragen die die Berge beidseits des Flusses in die Höhe. Mit ihren waldigen Hängen und Kuppen wirken sie wie riesige Waldmänner, übergrosse Gnome, ein buschiges Kleid mit Kapuze tragend. Sie erinnern mich an die vielen Engadiner Sagen, in welchen ein Waldmannli, ein Zwerg oder sonst ein rätselhaftes Naturwesen eine wichtige Rolle spielt. Es würde mich nicht erstaunen, auf meinem Weg plötzlich einem Vertreter der Sagenwelt zu begegnen, so lebendig wirkt die Umgebung!
Weiter! Es ist zu heiss, um lange stehen zu bleiben!
Nach der nächsten Biegung ist bereits der Kirchturm von Sent zu sehen. Freundlich grüsst er mich von weitem, gleich einem alten Freund.
Beschwingt gehe ich weiter, geniesse die bunte Vielfalt der Blumen, lausche dem Zirpen der Grillen und kann mich kaum satt sehen an den unzähligen Schmetterlingen und Käfern.
Und dieses Licht! Immer wieder staune ich über diese Sonne des Unterengadins, die mich beinahe geheimnisvoll anmutet. Sie ist allgegenwärtig, überall – selbst im schattigsten Wald fühlbar. Sie erreicht alle und alles, überstrahlt mit ihrer Wärme, ihrer Glut, diese ganze, kleine, grossartige Gegend. Mir ist, als fülle sich meine Seele mit diesem Licht, trinke sich an ihm satt, weite sich behutsam und freudig. Mein Denken und Fühlen werden zunehmend heiterer.
Schneller als vermutet erreiche ich den Dorfrand von Sent. Friedlich liegt das Dorf da, hell beschienen von der Nachmittagssonne. Ruhig blicken die Häuser von ihrer Aussichtsterrasse hinunter ins Tal und ins Rund der Berge, wie wissend um ihr auserwählte Lage am Sonnenhang. Eng scharen sie sich um die Kirche, gleich einer verschworenen Gemeinschaft.
Allegra, liebes Dorf! Wie schön ist es, wieder hier zu sein!
Gleich am Dorfeingang begrüsst mich die Baselgia San Peder. Von den Mauern der alten Kirche ist nicht viel übrig geblieben. Was noch da ist, überwuchern Brombeerranken und Brennnesseln. San Peder gibt sich unnahbar…
Erhalten geblieben ist der Turm, der in den siebziger Jahren sogar renoviert wurde. Der Gedanke, dass sich der Dichter Peider Lansel – er lebte von 1863 bis 1943 – hier ganz zuoberst sein Schreibstübchen eingerichtet hatte, fasziniert mich.
Auch er kam immer wieder zurück. In seinen Worten klingt das so:
«O larschs sün il muot da San Peder
pro mincha retuorn s'chat creschüts.
Plan vöss, duondagiond sper il veider
cluchêr, am tschögnaivat salüds.»
(«Lärchen auf St. Peters Hügel,
bei jeder Rückkehr finde ich euch gewachsen.
Sanft wiegend neben dem alten
Kirchturm winkt ihr mir Grüsse.»)
Erleichtert über die Abkühlung tauche ich in den Schatten der Dorfstrasse ein. Eng stehen die Häuser, gewähren nur einen schmalen Durchgang – für Fussgänger und Automobilisten eine ständige Herausforderung!
Hier befinden sich auch die wichtigsten Geschäfte, wo die Bewohner und Bewohnerinnen von Sent ihre Einkäufe tätigen können: furnaria, bacharia, chascharia und andere (Bäckerei, Metzgerei, Käserei).
Auf dem Dorfplatz verweile ich einen Augenblick. Die Häuser verschiedener Bauart, die ihn umgeben, der munter plätschernde Brunnen in der Mitte, die Menschen – alles strahlt eine gelassene Lebendigkeit aus. In alle Richtungen gehen von hier aus kleine Gassen ab, welche mich einladen, ihnen zu folgen.
Später! Ich wähle jene geradeaus, überquere den Platz und setze mich in den Schatten eines Gartenrestaurants.
Während ich unter den ausladenden Ästen eines alten Baumes meinen Durst stille, komme ich auch innerlich in Sent an. Wie gut ist es, hier zu sein! Wie ein Stück Heimat sind mir Häuser und Gassen, die Menschen und ihre Sprache.
Zwei ältere Frauen bleiben auf der Strasse stehen und unterhalten sich angeregt. Wie Musik ist mir ihr Gespräch, obwohl ich kein Wort verstehe. «Vallader» nennt man die Sprache, welche hier in Sent sowie im ganzen Unterengadin gesprochen wird. Ursprünglich ein Gemisch von alt-rätischen Idiomen mit dem Vulgärlatein der Römer, weist sie auch alt-französische und italienische Einflüsse auf.
Bun di! Buna saira! (Guten Tag! Guten Abend!)
Solch kurze Grüsse verstehe ich bald. Doch viel weiter geht mein Verstehen (noch) nicht. Selten gelingt es mir, einem Gespräch mehr als nur der Spur nach zu folgen.
Wie gern würde ich mehr verstehen! Ich bin überzeugt, dass man die Seele eines Dorfes oder eines Landes erst besser kennenlernen kann, wenn man auch deren Sprache spricht.
Arrivai! (Auf Wiedersehen!)
Die beiden Frauen trennen sich und gehen weiter ihrer Wege.
Auch ich mache mich wieder auf und spaziere nun gemächlich durch das verwinkelte Dorf. Immer wieder bestaune ich die grossen, ehrerbietigen Engadiner Häuser. Ihre wuchtigen Mauern bieten Schutz vor der grossen Kälte des langen Bergwinters. Nur wenig unterbrochen durch die kleinen, in die Tiefe gelassenen Fenster, rufen diese Mauern beinahe nach Verzierungen. So gibt es denn auch kein Haus ohne seine Sgraffiti. Viele tragen auch einen Sinnspruch, der Passantin zum Geleit:
«UMANS SAINZA UMUR SUN ERBA SAINZA FLUR»
(«Menschen ohne Humor sind Gräser ohne Blumen.»)
Einladend wirken die grossen, torähnlichen Eingangstüren. Eine Frau erzählt mir, dass früher jede Tür noch zwei kleine zusätzliche «Eingänge» hatte: Zu ebener Erde einen Schlupf für das Federvieh, damit es jederzeit in seine Behausung zurückkonnte, die sich ebenso wie der Stall der Kühe unter dem gleichen Dach befand wie die Wohnräume der Menschen. Ein weiteres Loch oben in der Tür war das Flugloch für die Schwalben. Man ermöglichte ihnen dadurch, sich in der Balkendecke des Flurs ein Nest zu bauen, was nach Ansicht der Alten Glück brachte. Heute gibt es keine Fluglöcher mehr für Schwalben…
Vom anteilnehmenden und mitteilungsfreudigen Wesen der Bewohner und Bewohnerinnen von Sent zeugen die Sitzbänke, welche praktisch neben allen Eingangstüren zu finden sind. Da sitzen die Leute abends, erholen sich von ihrem Tagewerk und plaudern mit den Nachbarn. Besonders die älteren Menschen geniessen hier auch während des Tages eine Verschnaufpause.
Zu bereden gibt es immer etwas: die Kalberkuh des Nachbarn, das heftige Gewitter der vergangenen Nacht, Chaspers kranke Frau, welche in Scuol im Krankenhaus liegt. Es sei übrigens selbstverständlich, erzählt mir die «cuafföse», dass sich die Nachbarschaft um den alten Chasper kümmere, für ihn koche und wasche. Ebenso selbstverständlich erhalte die kranke Frau regen Besuch aus dem Dorf.
Rasch fallen mir bei meinem weiteren Gang durch Sent jene Häuser auf, die stilistisch so gar nicht ins Bild des typischen Engadiner Dorfes passen wollen. Beinahe südländisch muten sie mich an, ähneln italienischen Palazzi.
Neugierig geworden suche ich nach jemandem, der mir dies erklären kann.
Ich frage einen alten Mann, der, gemütlich seine Pfeife rauchend, vor dem Haus sitzt.
Das karge Leben in früheren Jahrhunderten habe viele Senter dazu gezwungen, sich ihr Brot in Italien zu verdienen, beginnt er zu erzählen.
«Die Ernten waren zu jenen Zeiten wohl meistens gut,» fährt er fort. «Dank des warmen, trockenen Klimas wachsen hier auf einer Höhe von 1440m Korn, Roggen und Obst. Aber die Familien waren zu gross, um von diesen Erträgen zu leben. In einer Art «natürlicher Geburtenregelung» wanderten deshalb viele junge Senter ins südliche Nachbarland aus. Dort verdienten sie sich ihr Brot als Zuckerbäcker oder Betreiber von Cafés und Lebensmittelgeschäften. Die einen kehrten im Alter in ihr Heimatdorf zurück und bauten sich, wohlhabend geworden, ein prunkvolles Haus in italienischer Art. Die andern blieben in Italien, gründeten dort eine Familie und kehrten nur ferienhalber nach Sent zurück. Auch sie liessen sich einen Palazzo errichten, nicht bedenkend, dass diese leichte Bauart in den Bergen Nachteile hat…
Schwere Prüfungen für die ganze Bevölkerung waren die vielen Brände, die in Sent immer wieder ganze Dorfteile verwüsteten. Das letzte Mal geschah dies im Juni 1921, als alle draussen auf den Feldern und Alpen waren und von weitem hilflos zuschauen mussten, wie der Funke von Dach zu Dach sprang und Haus um Haus niederbrannte.
Die tapferen Leute von Sent liessen sich aber nie unterkriegen. Unverdrossen bauten sie jedesmal auf den verkohlten Ruinen neue Häuser auf – Zeichen ihres Durchhaltewillens.»
Sinnend blickt der alte Mann in die Weite. Vermutlich hat er den letzten Brand miterlebt.
Ich bedanke mich bei meinem Erzähler und gehe nachdenklich weiter.
Die Glocken der Dorfkirche läuten feierlich den Abend ein. Bewegt gehe ich die wenigen Schritte bis zum nahen Kirchplatz und setze mich auf das Mäuerchen, das der Kirchentreppe entlang nach oben führt. Das Vibrieren und Dröhnen der Glocken erfüllt meinen ganzen Körper, weitet sich aus über den Platz, die Gässchen, die Häuser, das ganze Dorf.
Steil ragt der spitze, gotische Kirchturm in den dämmernden Himmel. Bald werden die ersten Sterne aufblitzen, wird die Sichel des zunehmenden Mondes in das samtene Dunkel aufsteigen. Er wird die Umrisse der Berge sanft erhellen, der Nacht ihre Schwere nehmen.
Das Läuten der Glocken verstummt. Es dauert eine Weile, bis auch ihr Widerhall verklungen ist.
Lange sitze ich noch da, zu Füssen des Hauses von San Lurench, und lasse meine Beine und meine Seele baumeln.
Stille legt sich nun über das Dorf. Tief atme ich die kühle Abendluft ein und geniesse die Ruhe.
Spät erst verlasse ich meinen Platz auf der Mauer.
Mit der ihr eigenen Herzlichkeit heisst mich Frau P. in ihrem gemütlichen Hotel willkommen und zeigt mir mein Zimmer. Bald kuschle ich mich wohlig ins Bett und spüre, dass ich nun wirklich heimgekommen bin. Während meine Glieder immer schwerer werden, freue ich mich auf die Zeit in und um Sent.
Allegra!