HYPHURION – Die Chronik der Eisenwelt
Der Pakt des schwarzen Buches
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[01] Hyphurion
"Was bist du?", hauche ich.
Ein rätselhaftes Glühen steigt aus den Seiten des Buches auf und Ketten klirren leise. Meine Hand schließt sich wie im Traum um den Schlüssel, der plötzlich an einer Kette um meinen Hals erschienen ist. Das Metall fühlt sich glühend heiß unter meinen Fingern an.
"Ich bin deine Zukunft und deine Vergangenheit", antwortet eine Stimme tief in mir. "Ich bin der Anfang der Welt und der Tod der Götter. Ich bin ... das Hyphurion."
Ich fühle es deutlich. Ich hab endlich gefunden, was ich mein Leben lang suchte, ohne überhaupt zu wissen, dass ich es vermisste.
Wie in Trance strecke ich die Hände aus, meine Finger treffen auf die Seiten. Ich spüre ein Kribbeln in meinen Fingerkuppen und sehe Blut über die Seiten laufen. In meinen Ohren dröhnt mein Herzschlag.
"Bist du ... ein Dämon?", frage ich ängstlich.
"Ja", sagt das Hyphurion. "Und nein. Lass mich dir eine Geschichte erzählen ..."
Das Buch glüht auf. Sein violettes Licht blendet mich, doch ich kann nicht wegsehen. Ich kann mich gar nicht mehr bewegen.
Dann blitzen Bilder vor meinem Blick auf. Als wäre ich dort sehe ich in eine fremde Welt. Vor mir erstreckt sich eine Küstenlinie, dahinter liegt ein ascheschwarz verbranntes Land. Am Ufer wächst eine Gestalt in die Höhe. Zwei Beine, zwei krallenbewehrte Arme, ein mächtiger Kopf und Tentakel. Sie ist dunkel wie eine geballte Gewitterwolke, ihre Form besteht aus Abertausenden kleinerer, schwarzer Wesen.
Dämonen!
Da höre ich plötzlich das Hyphurion. Ja, es sind Dämonen. Damals freilich nannten sie sich den Schwarm oder Camoxtleb. Erst jene, die sie bekämpften, haben sie Damoten getauft, nach ihrer Königin Damoxtli.
Die Stimme des Buches kommt von der Seite. Als ich den Blick dorthin richte, sehe ich zwar nicht das Hyphurion, jedoch etwas viel Beeindruckenderes.
Drachen!
Ein gewaltiger Schwarm Drachen kommt über das Meer. Ihre Schwingen verdunkeln die Wellen, durch deren Wogen weitere Körper jagen. Alle Flügel schlagen im gleichen Takt und es klingt, als wären wir im Inneren eines gigantischen Herzens, dessen Schlag das Universum erbeben lässt. Ein Anblick, der mir den Atem nimmt.
Sie sind gekommen, um zu sterben, erklärt das Hyphurion mir. Der letzte Flug der Titanenkönige, die Götterdämmerung der Urzeit. Doch dafür haben wir keine Zeit. Sieh her!
Das Bild ändert sich. Mit einem Sinn, den ich nie zuvor besaß, nehme ich wahr, dass wir in der Zeit nach vorne gesprungen sind. Um mich herum toben Flammen und schreien Dämonen, als ein Drache wie ein Lichtblitz aus dem Himmel rast, mitten ins Herz des Dämonenschwarms, und das Maul um eines der Wesen schließt, das nicht schwarz ist, wie der Rest, sondern golden.
Damoxtli, sagt Hyphurion. Sie war die Mutter der Dämonen. Hier ist sie gestorben, und Maastrochus, der letzte König der Drachen, mit ihr. Doch als sie stürzten, trafen sie auf etwas Drittes. Auf seine Art war es ebenso mächtig wie Damoxtli und Maastrochus, und wie die beiden sich unterschieden, so unterschied es sich auch von ihnen. Wir nennen es den Schlafenden Willen, denn in keiner Sprache der Welt gibt es einen besseren Namen, wie es auch keinen Blick gab, der die Vereinigung der drei beobachtete.
Als erster Zeuge sehe ich den Körper des gewaltigen Drachen stürzen, in seinen Pranken gefangen die Königin der Dämonen. Sie fallen ins Meer und schlagen auf den Grund auf. Schlamm wird aufgewirbelt, als sich plötzlich ein neues Licht erhebt. Oben, wo der Kampf tobt, bemerkt es niemand.
Dann wird es dunkel und still.
"Was ist geschehen?", fragte ich. Dumpf erklingt meine Stimme unter den Wellen.
Ich wurde geboren. Drei Seelen starben und eine neue erhob sich aus Silber, Salz und Schwefel. Das Hyphurion bin ich, und ich bin weder Dämon noch Drache noch Wille. Ich bin.
Ich blinzele. Der Meeresgrund ist verschwunden, an seine Stelle ist wieder die verborgene Bibliothek unter Akijama getreten. Tanzende Flecken schränken mein Sichtfeld ein, als hätte ich in eine Kerzenflamme gestarrt. Die Seiten des Hyphurions sind rot von meinem Blut und dort sehe ich in glänzenden Schriftzeichen die Geschichte geschrieben, die ich soeben sah.
"Das ist Magie!", hauche ich und sehe auf meine Hände. "Dunkle Magie!"
"Was ich bin, ist deutlich größer als das beschränkte Verständnis der Erdenvölker von Gut und Böse", antwortet das Buch. "Du siehst den Preis bereits, den du zahlen wirst, Mobu Cajatoshija. Dein Blut schreibt die Geschichten nieder, die ich atme, und jeder Blick in die Ferne kostet dich deine Sicht auf das Jetzt. Löse meine Ketten, Elf, und lass uns das Werk beginnen!"
"Wieso sollte ich?", frage ich entsetzt. "Deine Magie schwächt mich, Hyphurion. Was lässt dich glauben, ich würde mich dir unterwerfen und mein Leben verwirken?"
Es folgt eine Stille. Die Kerzen flackern im schwachen Wind, der durch die Höhle geht, dieses Verließ unter der Stadt.
"Unter allen lebenden Wesen vom Anbeginn der Zeit bis heute habe ich dich auserwählt, Mobu Cajatoshija", spricht das Buch endlich. "Weil du derjenige bist, der mich finden wird. Weil du derjenige bist, der die Opfer in Kauf nimmt, um der Welt meine Geschichten zu erzählen. Weil du es bist, der Elf ohne Magie, der Verlorene, der rastlos Suchende ... weil du es bist, der mich bändigen kann. Du bist mein Hüter und ich dein Verderben. Ich bin die Chronik, du der Chronist. Ohne dich kann ich weder sehen noch sprechen, doch gemeinsam können wir Abenteuer aus allen Zeiten und Orten erleben. Und heute beginnt unser Werk, zum Guten wie zum Üblen."
Ich fühle, dass es die Wahrheit ist. Denn schon bin ich nicht fähig, den geblendeten Blick von den Seiten zu wenden. Ich kann die Hand nicht von dem Schlüssel lösen, der um meinen Hals hängt. Schon bevor ich das Buch berührte, war ich gefangen. Noch bevor ich diese Hallen betrat, lange, bevor ich die Stadt erreichte, vielleicht schon vor meiner Geburt erlag ich seiner Macht.
"Was muss ich tun?", frage ich.
"Du musst nur sehen", antwortet das Hyphurion. "Sehen und brennen. Gemeinsam werden wir die Geschichten dieser Welt erleben und bewahren, wie es sich für eine Chronik gehört."
Ich nicke und trete an das Buch. Meine Finger gleiten über Pergament und Licht erglüht vor meinem Blick.
Und das Hyphurion spricht: "Lass mich dir eine Geschichte erzählen ..."