Vincent atmete tief durch. Gleich würden Kai und Carolin, seine zwei besten Freunde, kommen. Sie wollten gemeinsam Weihnachten feiern, es würde das erste Mal sein, dass sie es zu dritt feierten; bisher hatten sie es nie aus zeitlichen Gründen geschafft. Aber nun war es so weit. Im Haus von Vincents Eltern herrschte Stille, er hatte sturmfrei. Es war seltsam zum ersten Mal Weihnachten ohne Eltern zu verbringen...
»Hey Vince! Hast du die Kekse aus dem Ofen genommen?« Erschrocken fuhr Angesprochener zusammen. Na gut, er hatte fast sturmfrei. Sein älterer Bruder Kyle war als 'Wächter des Hauses' geblieben, aber weil sich die beiden prima verstanden, war es so gut wie sturmfrei.
»Oh, nein, die hatte ich ganz vergessen ... « antworte Vincent und richtete sich auf. Er war noch etwas in Gedanken verloren, also fegte Kyle in die Küche und zog noch rechtzeitig das Blech mit frisch gebackenen Keksen aus dem Ofen. Vincent war ihm langsam gefolgt und stand etwas geistesabwesend im Türrahmen, während er beobachtete, wie sein großer Bruder das nächste Blech in den Ofen schob und den Timer einstellte.
»Hey!«, Kyle schaute seinen kleinen Bruder mit Sorgenfalten auf der Stirn an, »Alles OK?« »Hm?« bekam er nur als Antwort und einen etwas verwirrten Blick. Kyle streifte sich die großen Backhandschuhe ab und ging zu Vincent. »Hey, es wird schon alles gut gehen«, sprach er mit aufmunternder Stimme und knuffte den Jüngeren in die Seite, bevor er ins Wohnzimmer verschwand.
Mit einem Seufzen lehnte sich Vincent gegen den Türrahmen, er verschränkte die Arme vor der Brust und schloss kurz die Augen. Bestimmt würde es ein tolles Fest werden, sie hatten genug zu Trinken, Essen, kleine Spiele, Filme und er hatte auch schon alle Geschenke unter den Tannenbaum im Wohnzimmer gestellt. Der Abend müsste perfekt werden ... wenn ihm da nicht etwas Kopfschmerzen bereiten würde.
Heute Abend musste er Kai etwas anvertrauen, das hatte er sich fest vorgenommen. Vincent hatte vor einiger Zeit bemerkt, wie er Mädchen nicht als attraktiv empfand, Jungen aber schon…
Nach einer Zeit der Fragerei, Gesprächen mit Carolin, die seine Zerstreutheit bemerkte und ihm mit Rat und Tat zur Seite stand, war ihm schließlich klar – er war schwul. Zum Glück wusste Carolin es bereits, weil sie ihm zur Seite stand als er nicht wusste, was er denken sollte. Und Kyle, der hatte schon länger eine Ahnung gehabt und Vincent darauf angesprochen und ihm sofort erklärt, dass sich nichts ändern würde, sie würden für immer Brüder bleiben und auch seine Eltern würden es bestimmt gut aufnehmen.
Es war für Vincent ungemein beruhigend schon so viel hilfreiche Unterstützung zu haben. Aber da war Kai, er war wie ein Bruder für Vincent, sie kannten einander seit der Grundschule und vor einer Ablehnung von ihm fürchtete er sich am meisten. Aber er wollte es ihm auch sagen, er wollte keine Geheimnisse vor ihm haben und dass Kai ihn sah, wie er war.
Genau deswegen hatte er sich vorgenommen es ihm heute zu erzählen, er wollte keinen großen Hehl drum machen, aber immer noch von Angesicht zu Angesicht. Per Textnachricht schien ihm nicht fair und es war ungewiss, wann sie einander wiedersehen würden.
Vincent atmete erneut tief durch. Er wollte es ihm einfach heute sagen. Er richtete sich auf, nahm eine gerade Haltung ein und ging zu Kyle ins Wohnzimmer. Es gab immer noch ein bisschen was zu tun, bis Kai und Carolin da sein würden, damit konnte er sich also prima ablenken und beruhigen.
Die Zeit verging wie im Fluge. Vincent und Kyle backten die letzten Kekse, Kyle saute sogar die halbe Küche ein im Versuch die Kekse schön zu verzieren, dann stellten sie die Kommode im Wohnzimmer auf dem Kopf auf der Suche nach neuen Kerzen für den Tisch, dann gab es eine lange Diskussion, welche Playlist im Hintergrund laufen sollte, welche unter anhaltendem Gelächter mit einer Runde Schere, Stein, Papier entschieden wurde. Der Trubel machte Vincent sorglos und er summte fröhlich vor sich hin, als er im Wohnzimmer auf seine Freunde wartete und etwas Gitarre spielte.
Es war kein bestimmtes Lied, lieber experimentierte er mit den Griffen, die er beherrschte und verfolgte eine spontane Melodie. Er war dabei so vertieft, dass er das Klingeln der Haustür erst gar nicht wahrnahm. Als Kyle vom Obergeschoss runter brüllte, er sollte gefälligst die Tür aufmachen, sprang Vincent auf und kam erst vor der Haustür schlitternd zum Stehen.
Als er öffnete, grinsten ihm schon Carolin und Kai entgegen. Carolin trat als Erstes ein und umarmte Vincent mit einem breiten Grinsen. Da kam Kyle um die Ecke und begrüßte Carolin ebenfalls mit einer Umarmung.
Die anderen beiden verschwanden in der Küche, da Carolin den Duft von Keksen bemerkt hatte, während Kai seine Jacke auszog und Vincent mit einem Handschlag und einer kurzen, freundschaftlichen Umarmung begrüßte.
»Seid ihr mit Bus gekommen?«, fragte Vincent und nahm Kai seine Jacke ab. »Jain«, antwortete der Braunschopf und lehnte sich an die Wand, während Vincent die Jacke aufhing, »Carolins Schwester hat uns ein Stück mitgenommen, aber dann mussten wir den Rest zu Fuß laufen.«
Vincent nickte nur als Antwort und drehte sich zu seinem besten Freund, dieser grinste ihn an und Vince spürte, wie ihm etwas flau im Magen wurde.
Was wäre, wenn Kai ihn nicht akzeptieren würde? Was, wenn er ihre Freundschaft, die Vincent viel bedeutete, beenden oder sie anfangen würde zu zerbrechen? »Uhm, Hallo? Alles OK?«, fragte Kai mit etwas besorgter Miene und riss Vincent so abrupt aus seinen Gedanken, dass ihm wirklich etwas schwindelig wurde.
Er stotterte nur ein unsicheres »Nichts« als Antwort und schob sich an Kai vorbei geradewegs in die Küche. Bei Kyle und Carolin fühlte er sich gleich etwas besser. Doch schien Carolin seine Unsicherheit zu bemerken und schaute ihn fragend an. ,»Alles gut bei dir? Hast du es ihm schon gesagt?«, fragte sie, gerade als Kai hinter Vincent in die Küche trat.
,»Was gesagt?«, fragte er und Vincent spürte, wie ihm heiß und kalt zu gleich wurde. Er war nicht vorbereitet, er konnte es nicht jetzt einfach so sagen, sich einfach spontan outen. Doch nun war Kai um seinen besten Freund besorgt. »Ist etwas passiert?«, wollte er sofort wissen, »Gibt es Probleme in der Uni?«
Vincent wagte es nicht sich umzudrehen, er wusste nicht, was er sagen sollte, aber er war auch berührt, da sich Kai ehrlich Sorgen zu machen schien. »Oder hat man dich gemobbt?«, hackte er weiter, dieses Mal mit einfühlsamer Stimme. Bei den Worten schoss der Vincent sofort in die Höhe.
»Was?! Nein, nein!«, meinte er sofort. Vincent wollte nicht, dass Kai dachte, dass es ihm, wie früher erging. Schon in der Grundschule war er oft für sein weiche Haut, hellen Locken und langen Wimpern gemobbt wurden, man hatte ihm immer vorgeworfen kein richtiger Junge und ein Schwächling zu sein. Damals hatte er dann Kai kennengelernt.
Kai selber musste sich nämlich ebenfalls manch Hänselein aussetzen, da er aufgrund seiner sprunghaften Aufmerksamkeitsspanne als »dumm« abgestempelt wurde. Während Kai und Vincent sich also, leider auch mal mit ihren Fäusten, gegen so ein paar Idioten wehrten, bemerkten sie, dass sie einige Hobbys teilten und wurden schließlich beste Freunde. »Was ist dann los?«, fragte Kai und sah Vincent direkt in die Augen, als würde er dort nach der Antwort suchen wollen.
»Ich-...«, Vincent hielt inne, seine Kehle war rau und seine Stimme brach einfach weg. Er wollte es tatsächlich sagen, doch genau jetzt gehorchte ihm sein Körper nicht.
»Hast du etwa endlich mal eine Freundin gefunden?«, wollte Kai nun wissen. Bei der Frage sprudelte die Antwort nur so aus Vincent, mit leichter Empörung, heraus. »Was?! Nein! Ich will auch nie eine haben, ich stehe auf Jungs!«
Angespannte Stille herrschte im Raum. Kyle und Carolin hatten scharf die Luft eingezogen und starrten aufmerksam Kai an, der regte sich aber kein Stück, genauso wenig, wie Vincent. Erst langsam wurde ihm bewusst, dass er sich so eben geoutet hatte, wenn auch unfreiwillig und schreiend – genau auf die Art und Weise, die er nicht gewollt hatte.
Vincent senkte den Kopf, er war verwirrt, aber auch zugleich etwas beschämt. Er hatte seinen besten Freund angeschrien, der sich nur Sorgen gemacht hatte. Seine Lippen bebten leicht und Tränen fingen an in seine Augen zu brennen. Verdammt, er wollte jetzt ganz sicher nicht weinen!
Aber im Moment wusste er nicht, was er denn tun sollte. Die Situation überforderte ihn zu sehr und zu allem Übel, sagte Kai ebenso nichts.
Vincent traute sich nicht den Kopf zu heben, hatte es dem anderen denn so die Sprache verschlagen? Vince hoffte, dass Kai endlich etwas sagen und ihn von der Qual der Ungewissheit erlösen würde; aber da kam nichts.
Vincent bis die Zähne zusammen, er hielt das nicht weiter aus. Ohne Kai eines weiteren Blickes zu würdigen, lief ins Wohnzimmer.
»Ich schnappe kurz frische Luft«, rief er, bevor er die Terassentür aufriss und einige Meter in die kalte Nachtluft schritt. Es war eisig kalt und er fröstelte. Vincent legte den Kopf in den Nacken und schaute in den Himmel, doch leider waren keine Sterne zu sehen. Während dem Jungen heiße Tränen über die Wange liefen, konnte er vernehmen, wie dumpf im Hintergrund ein Stimmengewirr entstand. Als das Geräusch einer zuschlagenden Haustür an seine Ohren drang, drehte er sich verwirrt um.
Kyle kam gerade zur Tür und seine Miene schien irgendwo zwischen wütend und sehr verwirrt stecken geblieben zu sein. Vincent wischte sich mit dem Ärmel seines Hoodies die Tränen weg und ging zu seinem Bruder.
Kyle machte wortlos einen Schritt zur Seite und wollte gerade die Tür schließen, als er innehielt. Dicke Schneeflocken suchten sich ihren Weg zum Boden.
»Wenigstens werden wir weiße Weihnachten haben, das ist doch was Schönes!«, meinte er zu Vincent, im Versuch ihn aufzumuntern, doch es half leider nicht viel. Etwas enttäuscht schloss Kyle nun die Trassentür, während sein kleiner Bruder sichtlich niedergeschlagen und erschöpft zum Sofa schlurfte und sich dort mit einem Seufzer nieder plumpsen ließ.
Carolin kam schließlich mit angesäuerter Miene ins Wohnzimmer.
»Was ist los, wo ist Kai hin?«, fragte Vincent, ohne groß aufzusehen.
»Ich weiß nicht genau«, schnaubte sie als Antwort und ließ sich neben den Blonden auf das Sofa fallen. »Er meinte, er würde gleich wieder da sein, er wolle nur etwas holen. Verstehe einer den Typen.«
Carolin schüttelte verständnislos den Kopf und richtete sich etwas auf, damit Vincent sich bei ihr anlehnen konnte. Das tat er auch und schloss die Augen. Weder Kyle noch Carolin gefiel die bedrückte Stimmung. Also versuchten sie Vincent etwas aufzuheitern. Sie boten ihm immer wieder Kekse an und suchten seine Lieblingslieder raus, erzählten ihm von witzigen Erinnerungen, die sie teilten und hofften auf eine positive Reaktion. Erst, als sie Vincent eine heiße Schokolade anboten, zuckte ein Lächeln um seine Mundwinkel.
Das unerwünschte Eis schien gebrochen zu sein und Vincent war wirklich dankbar für die Ablenkung, als er an seiner heißen Schokolade nippte. Er konnte nicht verstehen, dass sein bester Freund ihn wohl nicht akzeptierte. Das Kai ihre gemeinsame Vergangenheit voll schöner Erinnerung wohl in den Dreck warf und auf eine Zeit für Neue pfiff.
Der Ausreißer war nun seit mehr als einer halben Stunde fort. Die Drei saßen verstreut auf dem Boden im Wohnzimmer. Kyle lachte hysterisch und hielt sich den Bauch, als Carolin davon erzählte, wie sie, Kai und Vincent einst für eine ganze Woche ihr gesamte Klasse davon überzeugt hatten, dass Vincent ein Mädchen und Carolins Zwillingsschwester sei, auch, wenn sie einander nur kaum ähnelten.
Das war damals in der fünften Klasse gewesen und selbst Vincent musste heißer Kichern, als er sich an den Spaß zurückerinnerte. Er fühlte sich schon viel besser, er schätzte die Zeit mit Carolin und Kyle. Die Drei hatten beschlossen, zumindest Kai eine Chance zu geben und auf ihn zu warten. Carolin checkte immer wieder ihr Handy, sie hatte Kai unzählige Nachrichten geschickt, gesehen hatte er keine einzige.
Sie saßen gerade schweigend im Raum und lauschten der spielenden Musik, als das Vibrieren des Handys verriet, dass Carolin eine neue Nachricht bekommen hatte. Sofort entsperrte sie es und schaute auf das Display. Vincent und Kyle beobachteten stumm, wie ihre Gesichtszüge von verwirrt zu strahlend wechselten.
»Hat Kai geantwortet?«, fragte schließlich Kyle, als Carolin das Handy zu Seite legte und aufstand. »Er hat ein Bild geschickt und gemeint, dass er sofort da wäre«, antwortete Carolin wahrheitsgemäß, als auch schon, wie auf Kommando, die Haustür klingelte.
Kyle sprang auch auf, doch Vincent blieb sitzen, mit dem Rücken zur Tür und machte sich ein Stück kleiner. Er wusste nicht, was kommen würde und er hatte Angst. Er kniff die Augen zusammen, als er hörte, wie die Haustür geöffnet wurde und Kai eintrat. Er wollte einfach nicht.
Doch er hatte gar keine Chance sich seinen dunklen Gedanken weiter hinzugeben, schnelle Schritte auf dem Flur, die zum Wohnzimmer kamen, ließen ihn umherwirbeln. Mit etwas Angst schaute er hoch und erwartete Kai zu sehen, doch stattdessen war da etwas Buntes und es fiel einfach auf ihn drauf.
,,Was zur-?", fragte Kyle verwirrt und fischte nach dem bunten Etwas.
Überrascht stellte er fest, dass es sich um eine Flagge handelte, eine bunte noch dazu. Tränen kullerten seinen Wangen runter, als er es schließlich realisierte – er hielt eine Pride Flag in seiner Hand.
,,Fröhliche Weihnachten, Vincent!"
Das strahlende Gesicht von Kai tauchte neben ihm auf, als jener sich neben seinen besten Freund setzte. Vincents Schultern sackten ein Stück in sich zusammen und fassungslos schaute er zum anderen. Wie hatte seine Angst ihn dazugetrieben so schlecht von Kai zu denken?
»Tut mir leid, dass ich nichts gesagt hatte ... «, begann Kai sich mit einem Räuspern zu erklären. »Du hattest mich damit gar nicht so sehr überrascht. Es ist nur, als du mir sagtest, dass du auf Jungs stehst, ist mir eben die Flagge eingefallen!« Kai nickte zur Flagge in Vincents Händen und sanft strich er über sein buntes Geschenk.
»Die habe ich eben »schnell« einer Kommilitonin abgekauft. Sie hatte mir neulich gesagt, dass sie aus Versehen ein paar Flaggen zu viel bestellt hatte und welche weggibt. Ich dachte mir, das wäre das beste Geschenk, was ich dir jetzt machen könnte und sie wohnte jetzt auch nicht so weit weg, nur so zwanzig Minuten durchrennen.«
Kai strich sich durch das verschwitze Haar und grinste Vincent schief an.
»Ich hoffe sie gefällt dir, Buddy.« Mit einem kurzen Schluchzer, neigte Vincent seinen Oberkörper ein Stück nach vorne und lehnte seinen Kopf an Kais Schulter, wo er leise weinte. Carolin kam grinsend in das Wohnzimmer und Kyle folgte mit einem Handtuch, mit dem Kai sich etwas abtrocknen sollte.
»Das erinnert mich an früher!«, verkündete Carolin und setzte sich auf den Boden gegenüber von den Jungs. »Vincent weint und Kai dient mal wieder als Stütze. Man könnte glatt meinem ihr habt wieder eine Prügelei hinter euch!« Carolin lachte und fiel schließlich beiden um den Hals, sie hatte ihre Freundschaft ebenfalls vermisst.
Kyle hatte sich in seinen Sessel gesetzt und beobachtete erleichtert das Bild. Jetzt konnte Weihnachten losgehen und, da war Kyle sich sehr sicher, es würde das schönste Weihnachtsfest werden! »Frohe Weihnachten!«, rief er den drei Jüngeren zu und sie grinsten ihm entgegen: »Fröhliche Weihnachten!«