Den Kopf auf dem kargen Fensterbrett gestützt, schaute er aus dem Fenster. Der Dreck des Jahres hatte sich dort gebildet, und man sah sie Außenwelt eher wie durch schmutziges Wasser, doch trotzdem erkannte er den schweren Schneefall, der London nun seit Tagen heimsuchte. Man konnte völlig das Zeitgefühl verlieren, ob es nun noch Mittag war, oder aber bereits später Abend. Nichts war zu sehen außer dunkelgrauen Schlieren und dem vereinzelten Aufblitzen flackernder Lampen, die versuchten ein wenig Licht durch das Gestöbert zu spenden.
Menschen mit gesundem Verstand verirrten sich kaum auf die Straßen, umso unverständlicher war es für ihn, dass man ihn nun zwang dort hinaus zu gehen.
Mit einem Ruck stieß er sich ab, nur um sich schwungvoll auf sein Bett zu setzen, was das einzige Möbelstück in seinem Zimmer war, wenn man von dem von Holzwürmern zerfressen Schrank, in dem eine Handvoll Kleider hingen, und von dem Brett, das sich Tisch schimpfte, absah. Er hätte schon längst in den geliehenen Anzug schlüpfen sollen, doch er hasste alles an ihm: Die Hose, die eigentlich viel zu lang war und mit ein paar Nadeln umgeschlagen worden war, die bei jedem Schritt schmerzhaft gegen seinen Knöchel drücken würden. Das ausgewaschene Hemd, das schon gar nicht mehr gebügelt werden konnte, so steif war es durch das viele Waschen geworden, und die sogenannte Jacke, die irgendwann vielleicht einmal dick genug gewesen war, um jemandem warm zu halten, doch nun mehr aus Flicken und gestopften Löcher bestand.
Seine Tür ging auf und Mrs Cole, die sich bereits in ihre edlen Kleider gezwängt hatte, trat mit einem Seufzen ein.
"Tom, du bist ja noch immer nicht angezogen. Beeil dich, Kind, wir müssen los." Kurz warf sie ihm einen Blick zu, der wohl vorwurfsvoll hatte sein sollen, doch Tom hätte es lieber gesehen, wenn sie sich entschuldigt hätte wieder einmal ohne zu klopfen herein geplatzt zu sein.
Noch etwas, dass er hasst, und an das er sich wohl auch nie gewöhnen würde. Die anderen Kinder saßen immer beisammen, schrien und kreischten in ihren Zimmern, klopfen war bei ihnen nicht nötig, die hörten das sowieso nie. Tom hingegen schätzte seine Ruhe. Er schätzte es auch, wenn man seine Ruhe respektiert.
Respekt wurde hier großgeschrieben, allerdings nur, wenn es um die Wünsche und Forderungen von Mrs Cole und den alten Nonnen ging. Respekt war etwas, das sie anderen geben mussten, auf das sie selbst aber verzichten mussten.
Ob er diese dämliche Verkleidung, die unachtsam von ihm auf sein Bett geworfen worden war, anziehen wollte, darauf wurde keine Rücksicht genommen. Man verlangte es.
Wieder wurde die Tür aufgerissen. "Tom Riddle, wenn ich noch einmal herein kommen muss, bringe ich den Ledergürtel mit!"
"Ja, Mrs Cole."
An jedem anderen Tag im Jahr wäre sie jetzt schon das Gesicht zur Fratze verzogen mit dem Ledergürtel fest in der Hand auf ihn zu marschiert, weil er nicht sofort getan hatte, was sie verlangte. Martha, die junge Krankenschwester, tat nichts anderes hier im Waisenhaus, als entzündete Striemen am Rücken der Kinder mit einer Creme zu versorgen, die aus den übel riechendsten Substanzen hergestellt war. Nie in das Gesicht zielen, darauf bestand der alte Wool, der keine schlechte Werbung für sein Waisenhaus wollte.
Unter normalen Umständen hätte Toms Zögern einen Besuch bei Martha bedeutet, doch ein kleines Wort reichte um jeden einzelnen Bewohner und Mitarbeiter des Waisenhauses in die Sentimentalität zu treiben: Weihnachten. Was für die meisten hier ein Moment des Festes, des falschen Glanzes und der vorgeheuchelten Nächstenliebe war, war für Tom eine Möglichkeit sein Spiel zu spielen.
Zähneknirschend legte er den Anzug an, der übel nach Lavendel roch. Einen dritten Besuch der Heimleiterin wollte er nicht riskieren, dafür war ihm sein Rekord zu schade. Fünf Jahre und acht Monate war er nun schon ohne Züchtigung davon gekommen, was nicht daran lag, dass er sich immer vorbildlich verhalten würde. Im Gegenteil. Doch im Gegensatz zu seinen einfältige Mitbewohnern, wie er sie gerne nannte, hatte er gelernt die Zeichen zu lesen. Er wusste wie weit er gehen konnte, wann er was sagen musste, wie er sich bei wem verhalten musste, um einer Strafe zu entgehen. Ein paar demütige Augen für die Nonnen, ein paar herausgepresste Tränen vor Martha, und niemand hatte auch nur in Erwägung gezogen, dass er Schuld daran sein könnte am ewigen Schweigen von Amy und Dennis, zwei Unruhestifter aus seiner Altersgruppe, dir seit dem letzten Sommer ihre Betten nicht mehr verlassen hatten.
Mit kurzem Blick zu eben diesen Türen ging er schließlich den Gang entlang hin zur Treppe. Die Zimmer von Amy und Dennis waren verschlossen, wie jeden Tag; sie würden also mal nicht mitgenommen werden. Beinahe konnte Tom meinen, er hatte ihnen einen Gefallen getan.
Der Gang und die breite Wendeltreppe nach unten waren, so wie Großteile des Hauses, mit Zweigen und Kerzen geschmückt, so als könnte das über den desolaten Zustand des Gebäudes hinwegtäuschen. Die grünen Kacheln waren noch mehr als gut zu sehen, die beinahe jede Wand überzogen. Tom hatte sie alle gezählt, es waren 15637 dieser hässlichen Fliesen allein in seinem Gang an die Wand geklebt worden. 15637 zu viele.
Immerhin war der staubig hölzerne Geruch einem etwas angenehmerem Harzduft gewichen, bei dem man, wenn Tom die Augen schloss, meinen konnte man war eben nicht in einem dunklen Loch mitten in der Stadt. Auf dem Weg nach unten kam er an den hohen Fenstern vorbei, die einen etwas besseren Blick nach außen gaben, als sein eigenes. In einem dunklen Loch, das völlig eingeschneit ist.
Je weiter nach unten er lief, desto lauter wurde das Gemurmel der anderen. Er war der letzte, der sich nahe an der Wand neben die Gruppe stellte. Einige warfen ihm Blicke zu, doch die meisten kümmerten sich nicht um ihn. Sie wussten es war besser Tom einfach zu ignorieren, was ihm nur recht war.
Sie alle waren sowieso viel zu beschäftigt damit wie gackernde Hühner über den bevorstehenden Ausflug zu jubeln. Tom hätte Mitleid mit seinen einfältigen Mitbewohnern gehabt, wenn er nicht schon vor Jahren jede Hoffnung für sie aufgegeben hätte.
Im Gegensatz zu ihm schien es sie nicht zu kümmern gleich mehrere Straßen durch matschigen Schnee zu stampfen, nur um vor versammelter Gemeinde den Affen zu spielen. Dabei waren die Mädchen sogar noch spärlicher bekleidet mit ihren feinen Kleidchen und zum glänzen polierten Lackschuhen, als die Jungs, die alle ähnliche Verkleidungen trugen wie er selbst. Sie alle legten eine Naivität an den Tag, bei der Tom nur die Augen rollen konnte. Hoffnungslos.
Ihr kleiner Auftritt in der Kirche zur Messe war eine traurige Tradition, genauso wie die Welle an Krankheiten, die diesem Abend für gewöhnlich folgten. Meistens verendeten ein oder zwei Kinder daran, was für Tom hieß wenn auch nur kurz ein wenig mehr Ruhe zu haben, bis ein neues Gesicht unter ihnen auftauchte. Eine neue sogenannte Waise. Eine riesengroße Farce, wie Tom wusste.
"Schön, dass du endlich zu uns stößt, Tom", verkündete Mrs Cole streng, nachdem sie mehrmals in die Hände geklatscht hatte um sich die Aufmerksamkeit der Kinder zu holen. "Gut, Aufstellung, wie wir es geübt haben. Die Jüngeren nach vorne. Die Ältesten ganz hinten. Martha, hast du die Kerze?"
"Ja, Mrs Cole."
Ja, Mrs Cole, ahmte er in Gedanken Marthas Satz nach, den er kurz zuvor selbst noch zur Heimleiterin gesagt hatte. Es war der Lieblingssatz der alten Dame, den sie zu gerne hörte.
Tom blieb stehen und ließ die anderen sich einreihen. Wenigstens musste er nicht mehr ganz vorne unter dem Blick von Mrs Cole marschieren. Ein kleiner Trost, der trotzdem einen bitteren Geschmack in seinem Mund hinterließ.
"Nehmt euch an den Händen! Immer zu zweit. Und niemand verlässt die Gruppe, verstanden."
Gleich kommt es wieder.
"Ja, Mrs Cole", riefen die Kinder unison.
Und da war es.
Ein Junge seiner Altersgruppe wurde automatisch durch die Einreihung neben ihn geschoben. Tom sah ihn kurz an und rief einen Namen in sein Gedächtnis. Hohe Stirn, dicke Augenbrauen. Fehlender Eckzahn. Elias, erst ein paar Monate im Heim, hatte das Los gezogen neben ihm laufen zu dürfen. Er beobachtet wie der Junge seine Finger knetete, was Tom amüsiert grinsen ließ. Er konnte auf Elias breiter Stirn förmliche ablesen, wie er im Inneren Konflikt stand Mrs Coles Aufforderung nachzukommen und die Hand seines Partners zu ergreifen, Elias gleichzeitig jedoch instinktiv, und an den Reaktionen der umstehenden Kinder, merkte, wie schlecht diese Idee war.
Punkt Nummer 3, was Tom an diesem Ort hasste. Das ständige anfassen, Hand geben, gemeinsame Kreisen bilden. Er wollte nicht angefasst werden, schon gar nicht von einem der anderen Kinder, die nichts anderes taten als den ganzen Tag im Dreck zu spielen und sich die Nase zu popeln. Glücklicherweise hatte sich Elias dazu entschlossen es zu riskieren sich Mrs Cole zu widersetzen. Vermutlich hatte er sich gedacht im Zweifelsfall lieber mit dem Gürtel Bekanntschaft machen zu wollen, statt ähnlich wie Amy oder Dennis das nächste Weihnachten stumm in seinem Kämmerchen zu verbringen. Eine Entscheidung, zu der ihn Tom nur beglückwünschen konnte.
"Prächtig, prächtig", sagte Mrs Cole, als sie ihre Augen über die Kinder schweifen ließ. Der Anblick schien ihr zu gefallen. "Dann gehen wir los. Wie wäre es mit einem Lied um sich einzustimmen?"
Nein.
Eine rhetorische Frage, eine andere Antwort als Ja ließ Mrs Cole nicht zu, doch er würde sich selbst seine Zunge abbeißen, ehe an dieser lächerlichen Zurschaustellung erbärmlicher Gesangsversuche teilzunehmen. Wieso die Kirche jedes Jahr zuließ, dass Mrs Cole ihre Kinder dort einige Lieder singen durfte, war für Tom unverständlich.
Mit dem Schnee bis beinahe zum Knie trotteten sie los. Ihre kleine Marschformation hatte wenigsten den Vorteil, dass die Gruppe eine Schneise in den Schnee trat. Dass vorne die Kleinsten sich durch die eisige Kälte kämpften, schien sogar gewollt zu sein. Dadurch würden sie später einen traurigeren Anblick abgeben, was die Geldbeutel der Anwesenden noch lockerer machen würde.
Leider verschluckte der Schneesturm nicht genug des Gesangs, der um ihn herum ertönte. Es waren die Glocken der Kirche, die zur Messe riefen und die Lieder fürs erste verstummen ließen. Auf den Schultern jedes einzelnen hatte sich eine dünne Schneeschicht gebildet, und ihre Schuhe waren völlig durchnässt. Manche klagten über von Kälte schmerzende Zehen, was Mrs Cole mit einer Handbewegung abtat. "Erinnert euch daran das den Gemeindemitgliedern zu sagen, vielleicht bekommt der ein oder andere von euch neue Schuhe. Stellt euch das nur vor."
Tom brauchte keine neuen Schuhe, die von Dennis passten noch wunderbar und waren im Gegensatz zu vielen anderen tatsächlich dicht. Seine Interessen galten anderen Dingen.
Die Christ Church war ein schlanker Bau aus Zeiten Königin Viktorias, aus weißem Stein und mit prunkvollen Türen und Reliquiaren. Dichter Qualm aus einem Gemisch aus Weihrauch und Räucherstäbchen kroch ihm in die Nase und ließ ihn würgen. Von dem beißenden Gestank abgesehen, der Tom zwang seine Hand über die Nase zu legen, war es hier wenigstens wärmer als draußen im Sturm.
"Los Kinder, geht nach vorne, wartet dort."
Elias beeilte sich mit den anderen nach vorne zu den Holzbänken zu kommen auf die Mrs Cole gezeigt hatte, weg von Tom, der eher abfällig all das Gold und die kitschigen Fenster betrachtete. Solch Reichtum sah er nicht alle Tage, und er brauchte ihn auch nicht, wie er fand.
Die Bänke waren bereits gut gefüllt mit all jenen Menschen, die er für geistig verwirrt hielt. Das mussten sie sein, wenn sie bei dem Wetter lieber hier waren, als gemütlich zuhause zu sitzen. Andererseits, was wusste er schon was es hieß zuhause zu sein. Mit der Hand fuhr er durch sein dichtes Haar und schüttelte die letzten Reste des Schnees aus, der mittlerweile zu Wasser geworden war. Dabei sah er sich einige der Anwesenden genauer an: die Mehrheit waren alte Frauen, älter noch als Mrs Cole, die sich aber in ähnlich lächerliche Garderoben geschmissen hatten und an deren faltigen Hälsen dutzende Ketten klimperten, mit dazu passenden Ringen an den Fingern. Er fühlte sich an die mickrige Dekoration im Waisenhaus erinnert, mit der man auf dieselbe Art und Weise den Verfall versuchte zu verschleiern. Alle hier waren gleich.
Jeder hier wollte gerne anders sein, als der andere. Reicher, schöner, erfolgreicher, als der Banknachbar oder als der eigene Freund. Wie ihn das anekelte. Keiner hier wusste was es bedeutete wirklich etwas Besonderes zu sein. Niemand, außer ihm. Er brauchte keine Ketten, kein edles Parfum, keinen verstaubten Hut oder vorgespielte Nächstenliebe. Das war es nicht, was einen von den gewöhnlichen Menschen abhob. Es waren die Taten, die einen zu etwas Besonderem machten, und Taten hatte er in seinem jungen Leben bereits viele vorzuweisen.
Mit dem Gedanken alles schnell hinter sich bringen zu wollen, ließ er sich am äußeren Rand der Holzbank nieder und wartete. Die Kinder um ihn herum, egal ob klein oder groß, waren kaum in der Lage auch nur einen Atemzug ruhig sitzen zu bleiben, was Tom veranlasste das Gesicht in den Händen zu vergraben, in der Hoffnung seine vom Wetter noch kalten Finger könnten ihn ein wenig abschirmen.
Seine Ruhe währte nur kurz, als mit einem Knall die Orgel erklang und jeden Winkel der hohen Kirche ausfüllt, und damit die Messe eröffnete.
Als Teil des Chors saßen sie im Winkel zum Publikum, sodass sich Tom die Zeit der Predigten, Ansprachen und Singsänge damit vertreiben konnte den Rest der Leute zu beobachten. Ihm fiel auf mit wie viel Hingabe einige der Anwesenden Gott priesen, jedes Lied sangen und ihm dankten für ein - wie nannten sie es - gesegnetes Weihnachtsfest. Die Lippen zu einem dünnen Strich gezogen konnte er nur den Kopf darüber schütteln, wie diese Kreaturen ein erfundenes Hirngespinst für seine Wunder dankten, wenn er selbst bereits viele solcher angeblicher Wunder reproduzieren könnte, wenn er nur wollten.
Sein Blick fiel auf eine Frau, die das Weihnachtslied der Glocken voller Inbrunst mitsang, während der Junge neben ihr aussah, als würde er gleich Blasen aus Spucke formen vor Langeweile. Tom erkannte schnell, dass der Junge aus tatsächlich reichem Haus stammen musste. Sowohl er, als auch seine Mutter, hatten einiges an Kilos angesetzt. Niemand konnte sich so viel Essen leisten, um derart dick zu werden, wenn sie nicht vermögend wären. Er tippte auf eine Kaufmannsfamilie, oder aber Politiker. Die Kleider der Frau, die um die breite Oberweite herum arg spannten, wann immer sie einatmete, leuchteten in grellen Farben, die sogar den Kitsch der Fenster übertrafen. Die roten Backen des Jungen passten besonders gut zu der Handtasche seiner Mutter, in der scheinbar etwas verborgen war, das der kleine Dickbauch gerne haben wollte. Immer wieder schielte er in die Tasche zur Rechten seiner Mutter, nur um von ihr jedes Mal einen Klapse auf den Hinterkopf zu bekommen.
Tom interessierte sich nun kaum für die anderen Menschen, sondern hatte allein dieses Paar fixiert. Trotz, oder gerade wegen, ihres Reichtums hatte Tom die beiden schnell durchschaut und er glaubte die perfekten Opfer für sein kleines Spiel gefunden zu haben.
Von nun an suchte er den Augenkontakt der Frau, wann immer die Waisenkinder aufgefordert wurden aufzustehen um erneut ein Liedchen zum Besten zu geben, oder auch während des trägen Prozesses des Abendmahls. Feierlich übergab der zur Glatze neigende Pfarrer dabei Mrs Cole mehrere Laibe Brot und machte ein Gesicht, als müssten die Kinder ihm nun für seine Großzügigkeit danken altes Brot geschenkt zu bekommen. Tatsächlich gab es an Weihnachten dank Spenden von Wools Geschäftspartnern anständiges Essen, mit frischem Gebäck. Etwas, für das Tom dieses Theater in Kauf nahm.
Gehorsam stand er mit den anderen auf und bewegte seine Lippen im Takt, ohne dass er seine Stimme einsetzte.
Wie erwartet klebte die Aufmerksamkeit aller auf den in ihren Augen bemitleidenswerten Waisenkindern, sicherlich war Mrs Cole mehr als zufrieden darüber. Die einzige Aufmerksamkeit die er wollte, war aber jene der Frau, die voller Gutmütigkeit jeder Strophe lauschte. Tom hätte gewürgt, wenn er nicht seine Fassade aufrecht erhalten müsste.
Das Kinn leicht gesenkt und seine Augen zu großen Ovalen aufgerissen, mimte er das magere und bedauernswürdige Waisenkind. Vorbilder hatte er während seiner Zeit genug gehabt, er wusste genau, wie er auszusehen hatte, um Erwachsene vor Rührseligkeit zum Schmelzen zu bringen. Der weihnachtliche Geist, der in der Kirche über der Gemeinde lag, tat sein übriges, dass die alten Frauen seinen dunklen Augen nicht mehr widerstehen konnten.
Bis der Waisenchor das letzte Lied des Abends gesungen hatte, war die Frau Toms kindlichem Gehabe verfallen. Er erkannte es an dem immer größer werdenden Blick, den sie ihm schenkte, und an ihrer Gestik. Selbst als Bewegung in die Gemeinde kam, nachdem der keuchende Diener Gottes die Messe beendet hatte, suchte Tom die Frau im Getümmel, und fand sie sehr zu seiner Freude jedes Mal wieder. Wie alle anderen drängte sie sie nun hinaus, wobei ihr der Junge quengelnd am Arm zog. Tom hatte nicht die Absicht die beiden einfach so gehen zu lassen.
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Mrs Cole die Krankenschwester, die die große Kerze noch immer in Händen hielt, vor sich her scheuchte. "Beweg dich, Martha, sie gehen. Schnell Kinder, alle raus." Die Kinder waren jedoch kaum zu bändigen und machten keine Anstallten bald die Kirche verlassen zu wollen.
"Mrs Cole", rief Tom mit hoher Stimme. "Wenn Sie erlauben sammle ich die Kollekte ein, als Wiedergutmachung für meine Verspätung." Wie ein kleines Äffchen vor der Menge herzulaufen und mit dargebotenen Hut um eine kleine Spende zu bitten, war ihm eigentlich zuwider, doch das ließ er vor Mrs Cole sich nicht anmerken. Er hatte seine Hände unschuldig hinter dem Rücken gefaltet, den Blick nach oben zur Heimleiterin gerichtet, der es augenscheinlich völlig egal war, wer nun die Kollekte einsammelte; Hauptsache es tat jemand.
"Ja, ja. Danke Tom. Martha, gib ihm den Beutel. Beeil dich!" Im Gegensatz zu Mrs Cole, die mehrere Dinge gleichzeitig und am besten so schnell wie möglich erledigt haben wollte, nahm sich Tom alle Zeit der Welt den Beutel entgegen zu nehmen und sich von der kreischenden Meute, mit denen er leider hier war, zu entfernen. Die anderen Leute waren ihm egal, sie könnten auch vom Schnee fortgeweht worden sein, wenn es nach Tom ging.
Ohne einen weiteren Blick an die Kirche zu verschwenden, lief er der Gemeinde nach, nach draußen, in die Kälte, wo er die frische Luft tief einatmete glücklich darüber das eklige Gemisch von Weihrauch hinter sich gelassen zu haben. Kurz hielt er Ausschau nach der roten Handtasche, die selbst im dunklen Schneegestöber gut zu sehen war. Wie von Tom erwartet hatte sich die Gemeinde noch nicht aufgelöst, sondern sie stand ein wenig vor dem Wetter geschützt, im Torbogen der Kirche. Die Frau hatte indes noch alle Hände voll zu tun ihren Sohn dazu zu bewegen selbst zu laufen, statt sich am Arm ziehen zu lassen.
Vorfreude machte sich in ihm breit. Das wird ein Spaß.
"Was für ein süßer kleiner Knabe kommt denn da?", sagte eine alte Frau, kaum dass er die ersten Schritte in Richtung seines eigentlichen Ziels gemacht hatte. Tom sah wie sich die alten Finger der Greisin seinem Gesicht näherten und bemühte sich seine Fassung zu bewahren. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als die zerfurchte und schwielige Hand deine Backe streichelte, und obwohl er sein Kommentar bei sich behalten konnte, zuckte er unweigerlich zurück. "Ihr habt so wunderschön gesungen heute Abend. Hier, das habt ihr euch verdient." Fünf silberne Münzen fanden klimpernd ihren Weg in den Beutel, während Tom krampfhaft die Lippen aufeinander presste, darum bemüht wenigstens ein Lächeln zu heucheln.
Sich auf offener Straße ein und dieselben Floskeln anhören und sich darüber hinaus auch begrapschen lassen zu müssen, war Teil seines Lebens als Bewohner eines Waisenhauses, und mit ein Grund, weshalb er die Einsamkeit seines Zimmers schätzte. Scheinbar war der Status einer offiziellen Waise für viele Erlaubnis genug ein Kind ohne jeglichen Grund zu herzen. Für Tom war es jedes Mal aufs Neue eine Überwindung still zu bleiben und sich die Annäherungen gefallen zu lassen, was mit der Zeit immer schwerer geworden war. Er hatte einmal den Fehler gemacht sich gegen aufdringliche Erwachsene auf seine Art zu wehren, was unschöne Fragen und Folgen nach sich gezogen hatte. Für ihn war dieser Tag eine Offenbarung gewesen, für andere war es ein Rätsel, wie die Hand der jungen Dame, die Tom damals in die Wange gekniffen hatte, von Schnittwunden entstellt worden war. Das war nun fünf Jahre und acht Monate her.
Heute hatte er gelernt die Kontrolle über sich und seine Mimik zu halten wodurch er die Greisin schnell stehen lassen konnte, um sich der Mutter und ihrem Sohn zu widmen. Letzterer wurde mit erhobenem Zeigefinger ermahnt und, vermutlich wegen seines Verhaltens, belehrt, als Tom sich räuspernd daneben stellte und das Gespräch unterbrach.
"Verzeihung, Ma'am, ich bin Tom", begann er mit kindlicher Stimme zu reden. Kurz gab er der Frau Zeit sich ihn genauer anzusehen und ihn als den Jungen zu erkennen, den sie in der Kirche gesehen hatte. Oh, welch Zufall das doch ist den kleinen Burschen aus dem Chor direkt zu treffen, waren die Gedanken, die Tom sich nun in ihrem Kopf vorstellte.
Überrascht angesprochen zu werden drehte die Frau ihren Körper, der aus der Nähe sogar noch massiger erschien. Es dauerte keine Sekunde, bis Tom in ihren Augen sah, dass sie sich an ihn erinnerte. "Der Chorjunge. Aber natürlich, hallo kleiner Mann." Ihre Stimme war Tom unangenehm, zu hoch und zu gedehnt, als dass er sie ernst nehmen konnte.
"Ich soll die Kollekte einsammeln, Ma'am, und vielleicht können Sie die ein oder andere Münze für uns Kinder abgeben?" Er hob ihr den Beutel entgegen, den sie kurz in Augenschein nahm.
"Ihr armen kleinen Dinger", tönte sie mit einem Seufzen, ehe sie sich an ihren Sohn wendete. "Siehst du, es gibt so viele Kinder, denen es schlechter geht, als dir. Sei froh um das, was du hast."
Tom zwang sich zu einem Nicken, wobei die Taktlosigkeit der dicken Frau ihm säuerlich aufstieß. Anzunehmen, dass die oder gar der kleine Fettsack ein besseres Leben führten, als er selbst, nur weil er in Wool's Waisenhaus lebte, war mehr als anmaßend. Er beschloss seine Taktik ein wenig zu ändern.
"Wenn Sie und eine kleine Freude machen würden, egal in welcher Form, würde und das sehr helfen zumindest heute ein wenig Lächeln zu können." Er würde sie völlig ausnehmen. Nicht für Mrs Cole oder für die anderen Kinder, sondern weil er es konnte.
"Natürlich", sagte sie eifrig und nahm ihre rote Handtasche hervor. Tom hörte bereits die Münzen. "Hier, mein Junge." Für die Frau schien die Sache erledigt zu sein, doch er hatte nicht vor hier aufzuhören.
"Danke, Ma'am, drei Münzen sind wirklich sehr großzügig", sagte er mit Nachdruck und gab ihr das Gefühl, dass er sich wirklich über die mickrige Spende freute. Das schlechte Gewissen stieg in der Frau hoch.
"Warte, mein Sohn möchte auch noch etwas geben." Sie griff erneut in ihre Tasche und reichte dem dicken Jungen etwas. "Gib ihm das."
"Darf ich das nicht selbst behalten?"
"Gib dem Jungen das Geld, Cornelius!"
Auf die strenge Aufforderung seiner Mutter hin, schmiss er nicht ohne eine Schnute zu ziehen das Geld in den Beutel.
"Danke, Cornelius", sagte Tom an den Jungen gerichtet, wobei sein Blick bereits auf dem Ball lag, den der Junge in seiner Hand hielt und knetete. Nichts Außergewöhnliches, es war ein Ball aus einfachem Leder. "Ein schönes Spielzeug."
Der Junge namens Cornelius nickte und umfasste seinen Ball noch fester, erwiderte sonst jedoch nichts. Also sprach Tom weiter. "Ein Weihnachtsgeschenk?", fragte er, den Kopf ein wenig schief gelegt. Wieder nickte der Junge stumm. "Ich hätte auch gerne einmal ein Weihnachtsgeschenk. Muss schön sein von seiner Mutter ein Geschenk zu bekommen."
Mit einem Lächeln wandte er sich an die Frau, die den Mund vor Schock leicht geöffnet hatte. "Vielen Dank, Ma'am. Ich werde nun weitergehen."
"Du hast noch nie ein Weihnachtsgeschenk bekommen?" Eine kurze Frage, die Tom vermeintlich zurückhielt.
"Nein, Ma'am." Das entsprach sogar der Wahrheit. Geschenke gab es im Heim nicht. Nicht für jemanden wie ihn. Nach außen hin gab er sich, als würde ihn diese Tatsache bedauern.
Früher hatte er Geschenke gewollt, das konnte er nicht bestreiten. Mittlerweile hatte er jedoch gelernt wie er bekam, was er wollte. Er brauchte keine Geschenke.
Die Mutter strich ihrem Sohn über die glatten Haare, ehe sie sich zu ihm hinunter beugte und mit ihm flüsterte. Was sie zu sagen hatte, schien den Jungen nicht zu gefallen.
"Nein, Mutter. Nein! Der gehört mir!"
"Sei nicht so stur, es ist Weihnachten!", hörte Tom nun die Worte, der hinter der Frau stand und zufrieden lächelte. Nun musste er nur warten.
"Das ist mir egal, er wird ihn kaputt machen."
"Mama kauft dir einen Neuen." Mama kauft dir einen Neuen. Tom konnte nicht verhindern, dass er die Luft laut ausstieß, was von den beiden jedoch nicht bemerkt worden war.
Das Gespräch wurde lauter und einige umstehende Menschen drehten sich fragend zu ihnen herum, was die Frau nun in Erklärungsnot brachte und sie zwang zu handeln. Sie nahm dem Jungen den Ball aus der Hand, ohne auf sein Quengeln zu achten, und gab ihn Tom.
"Ist der für mich?", fragte er einfältig und mit großen Augen, während er sich innerlich beglückwünschte. Das Leder fühlte sich rau und speckig an.
"Der ist nur für dich." Zu seiner Freude griff sie erneut in ihre Handtasche, doch statt Münzen brachte sie nun glänzendes Papier zum Vorschein, auf das der Junge gierig schaute. "Hier, gib das den anderen Kindern."
"Ja, Ma'am. Sie sind vom Himmel gesandt." Leere Schmeicheleien, die ihre Wirkung jedoch nicht verfehlten. Die massige Frau fasste sich gerührt an die Brust, ehe sie ihren Jungen an die Hand nahm.
"Fröhliche Weihnachten und ein gesegnetes Fest, kleiner Mann."
Tom wandte sich zufrieden zum Gehen. "Ja ja, fröhliche Weihnachten." Und was nicht sonst noch alles.
Ähnliches, wenn auch nicht so ausführlich, spielte er mit einigen anderen vor der Kirche, sodass er bis Mrs Cole mit den anderen heraus kam, einen beachtlich gefüllten Beutel vorzuweisen hatte. "Wunderbar, Tom, gib mir das." Sie nahm das Geld an sich und prüfte zufrieden das Gewicht. Den schmutzigen Ball hielt er gewollt offen in der Hand, was ihr nicht entging. "Was ist das?", fragte sie mit Wink auf den Ball.
"Den habe ich geschenkt bekommen."
"Nein, nein, du weißt, dass niemand etwas alleine besitzen darf. Das gehört allen. Martha, nimm den Ball. Dann können wir los."
Martha tat, was Mrs Cole verlangt hatte, wobei sie ihm einen entschuldigenden Blick zu warf. Um das Bild zu vervollständigen ließ Tom die Schultern hängen, trauerte aber kaum um den Verlust. Sein Interesse hatte dem Ziel gegolten den Ball zu bekommen, nicht ihn zu behalten. Außerdem verbarg sich in den Falten der viel zu großen Hose der wahre Schatz. Nun war dieser Anzug doch zu etwas gut.
In derselben Formation marschierten sie zurück zum Waisenhaus, wo mittlerweile die Lakaien der Geschäftspartner Wools das Weihnachtsessen gebracht haben dürften. Sein Hunger galt momentan jedoch etwas anderem.
Heimlich, aber dennoch so, dass Elias ihn beobachten konnte, nahm er den verborgenen Schatz hervor; mehrere in glänzendes Papier eingewickelte Bonbons.
"Wo hast du die her?", fragte Elias schockiert mit flüsternder Stimme.
Tom gab sich ertappt. "Die hat mir eine nette Frau gegeben. Wenn du leise bist, bekommst du auch etwas."
Die Augen von Elias wurden groß und er nickte eifrig, während er gierig zusah, wie Tom eines der Bonbons auswickelte und sich in den Mund schob.
Zucker war wahrlich etwas, das sie selten zu essen bekamen. Selbst für ihr Waisenhaus, das finanziell im Vergleich zu anderen Häusern gut unterstützt wurde, war Zucker in diesen Zeiten zu teuer. Ein Bonbon mag etwas Kleines sein, doch für Tom war dies tatsächlich etwas Besonderes; ihm würdig.
Ein Hauch von sahnigem Karamell breitete sich in seinem Mund aus, während er sich das Bonbon schmecken ließ. Auch ein zweites aß er, bis sie in der Nähe des Waisenhauses waren. Elias schaute nervös zum letzten Bonbon.
"Hier, wie versprochen." Tom gab ihm nicht nur das letzte Bonbon, sondern auch das bunte Papier, das Elias breit lächelnd entgegen nahm. Als er das Bonbon essen wollte, stoppte ihn Tom jedoch.
"Warte, du solltest es erst nach dem Essen naschen."
"Du hast es doch auch gegessen."
"Ja, und mir ist jetzt schlecht. Iss lieber etwas von der Gans. Du hast dann das Bonbon zum Nachtisch. Vertrau mir."
Elias nickte langsam, während er dankend das Bonbon und das Papier in seine Hosentasche steckte. Beinahe hatte Tom Mitleid mit dem einfältigen Elias, der sein erstes Weihnachten hier in Wool's Waisenhaus feierte. Noch kannte er nicht die Gepflogenheiten, wie zum Beispiel, dass die Nonnen sie gleich nach der Ankunft durchsuchen würden, bevor sie in die Wärme des Heims durften. Mrs Cole wollte verhindern, dass ein Kind den ein oder anderen zugesteckten Schilling für sich behielt. Ein Bonbon war zwar kein Geld, doch es würde sie sicherlich nicht erfreuen zu sehen, wie jemand versuchte etwas hineinzuschmuggeln - und wenn es nur glänzendes Papier war.
Ohne etwas zu ahnen lief Elias in sein Verderben, und das nur, weil er noch nicht lange hier war. Elias war eines jener Kinder, die kaum als echte Waise definiert werden konnten. Beide seiner Eltern waren noch am Leben, auch wenn man nicht sagen konnte, dass sie sich bester Gesundheit erfreuten. Die meisten Kinder in Wool's Waisenhaus hatten mindestens noch einen Vater, oder eine Mutter, oder Großeltern, jedoch konnten sich die Familien kein weiteres Maul zum Stopfen leisten, weshalb sie das ein oder andere Kind in Heimen abgaben. Das wusste die breite Öffentlichkeit natürlich nicht, und das nutzte Mrs Cole gerne aus. Sogar Tom war keine Waise, sein Vater lebte irgendwo und es scherte ihn einen Dreck, was sein "Sohn" tat. Irgendwann würde er seinen Vater finden, das hatte er sich schon vor Jahren geschworen, und er würde ihn büßen lassen für jedes Jahr, das Tom in dem Heim hatte verbringen müssen.
"In Ordnung, Kinder. Schuhe bitte draußen ausziehen, ich will nicht, dass Innen alles nass ist. Reiht euch bitte ein, damit die Nonnen euch durchsuchen können."
"Durchsuchen?", fragte Elias zweifelnd, wurde von Tom aber weitestgehend ignoriert. Er knüpfte seine Schuhe auf und schlüpfte heraus. Die Schuhe in Händen haltend trat er ein, wo mehrere Nonnen bereits auf sie warteten. Die Arme von sich gestreckt ließ er das Abtasten geschehen, die erfahrenen Nonnen wussten, wo die typischen Verstecke waren: Schuhe, Achseln, Haare und-
"Mund auf machen, bitte." Gehorsam öffnete er den Mund, wo sich kein Bonbon mehr versteckte. "Sauber, der nächste bitte."
Elias war nach ihm dran, sodass Tom wohl wissend, was gleich geschehen würde, ein wenig trödelte. Es dauerte nur Sekunden, bis die Nonne nach Mrs Cole rief.
"Madam, wir haben hier einen kleinen Schmuggler."
Elias wurde unruhig. "Nein, das stimmt nicht. Ich wusste nicht, dass-"
"Du wusstest nicht, dass es nicht erlaubt ist, Dinge für sich zu behalten?" Mrs Cole war sofort erschienen und betrachtete die Ausbeute: zwei Fetzen Papier und ein Bonbon.
"Doch, Mrs Cole, aber die sind nicht von mir."
"Natürlich nicht. Die hat dir jemand gegeben und du wolltest sie für dich haben. Schäm dich, Elias."
Tom war einige Schritte an die Szene herangerückt. "Er hat alles gegessen, Mrs Cole. Zwei an der Zahl, das Dritte wollte er nach dem Essen heimlich naschen."
"Er lügt!", rief Elias, dem die Tränen in den Augen standen. "So war es nicht, er hat sie gegessen."
"Du hast das Papier, Elias. Für mich ist das Beweis genug. Nun bist du auch noch so frech es zu leugnen! Ich bin enttäuscht von dir. Und das während des Fest des Gebens."
Jedes Wort von Elias wurde abgewürgt, und Tom war sich sicher, dass er später noch Mrs Coles Ledergürtel treffen würde. Vermutlich war es sein erstes Mal. Elias suchte mit wütendem Blick Tom, der nur dastand und die Schulter zuckte.
In den Gesichtern der umstehenden Kinder spiegelte sich Mitleid für Elias wider, da die meisten eher ihm, als Tom Glauben schenkten, jedoch wagte es niemand sich laut für Elias auszusprechen. Stattdessen ging Tom nun zu Mrs Cole, die das Schmuggelgut in Händen hielt.
"Er wollte mir nichts abgeben, sondern hat grinsend ein Bonbon nach dem anderen gegessen. Ich habe ihm gesagt, es sei doch Weihnachten und er dürfe nicht alles für sich nehmen, aber er hat nicht auf mich gehört."
"In der Tat, es ist Weihnachten." Sie reichte Tom das letzte Bonbon. "Hier, das hast du dir verdient, nachdem du eine so großzügige Kollekte für das Waisenhaus eingesammelt hast. Nimm das Bonbon, Tom." Mit einem enttäuschten Blick wandte sie sich an Elias. "Das soll dir eine Lehre sein. Man gibt, dann kann man etwas nehmen. Folge mir, Elias. Die anderen gehen bitte in den Speiseraum."
Mit dem Gefühl verraten worden zu sein, lief Elias hinter Mrs Cole her, vorbei an Tom, dem er einen hasserfüllten Blick zuwarf. Über den Versuch einschüchternd zu wirken, konnte Tom nur lachen.
Im Rhythmus von Elias Schritten, warf er das Bonbon, welches nun offiziell ihm gehörte, auf und ab, als er auf dem Weg in den Speiseraum war. Dieses Bonbon würde er sich aufsparen, und weder heute, noch morgen essen. In einer Woche war sein Geburtstag, dann wäre er elf. Ein weiteres Jahr wäre dann vorbei, im wahrsten Sinne des Wortes. Geschenke hatte er keine zu erwarten, daher machte er sich jedes Jahr selbst ein Geschenk. Dieses Jahr würde es das Bonbon sein und die Gewissheit, Elias seinen Platz im Waisenhaus gezeigt zu haben, was ihm passender erschien, als ein speckiger alter Ball.
"Fröhliche Weihnachten, Elias."