Leise schleiche ich durch die kühle Morgenluft. Mein Atem bildet weiße Wölkchen und meine Nasenspitze fühlt sich kalt an. Umso größer ist die Freude, als schließlich die Taverne vom Reiche Belletristica vor mir auftaucht. Vorsichtig renne ich die letzten Meter zu der Tür, darauf bedacht, das kleine Valentinstagsgeschenk, welches ich unter meiner Robe verstecke, nicht zu stark durchzurütteln.
Eine angenehme Wärme empfängt mich und rasch schließe ich die Türe hinter mir. Die Taverne liegt still und ruhig, noch ist es zu früh für viele Bewohner. Auch, wenn ich alleine zu sein scheine, mag ich die angenehme Stille des Morgens nicht durchbrechen und schreite lautlos zu einem Tisch, welcher extra mit Abstand zu den anderen Tischen und Stühlen, in die Mitte des Raumes gestellt worden war.
Vorsichtig ziehe ich das Geschenk unter meiner Robe hervor und platziere es langsam auf dem Tisch. Dann reibe ich meine Hände aneinander, um jene etwas zu wärmen und atme kräftig aus. Ich betrachte den Raum und lasse meinen Blick schweifen.
Die Taverne wurde anlässlich des Tages schön, wenn auch dezent geschmückt. Auf jeder Fensterbank steht eine kleine Vase mit rosa Rosen, weißen Veilchen, roten Nelken oder kleinen Lilien. Die Minibar hat ein spezielles Repertoire an heißer Schokolade erhalten und ein Hauch von Zartbitterschokolade liegt in der Luft gepaart mit dem dezenten Duft der Blumen.
Das Knarzen der sich öffnenden Tavernentür ergreift meine Aufmerksamkeit. Ein frischer Luftzug verkündet pfeifend die Anwesenheit eines Bewohners und ich schaue über meine Schulter. Die Türe schließt sich schon wieder und überrascht wende ich mich ihr ganz zu. Da scheint gar niemand zu sein. Hat ein Windhauch sie geöffnet?
»Hier unten!« Ich blicke hinab.
Ein kleiner Grauwolf steht mit stolz ausgestreckter Brust einige Meter vor mir. Kurz herrscht Stille, dann entweicht mir ein seltsames Geräusch aus losprusten, hysterischem Lachen und dem Ausruf: »Aaaaaaaww!«
»Hey!«, ruft Marvin Grauwolf gespielt empört und tappst selbstsicher zum Tisch in der Mitte. Er hat einen hölzernen Bogen bei sich, sowie einen Pfeil mit einem Herzen als Spitze, zudem wirkt er kleiner als sonst und äußerst niedlich, was mich stark schmunzeln lässt.
»Tut mir leid, Marv«, antworte ich und wische mir eine Lachträne aus dem Augenwinkel. Ich geselle mich dann zu meinem überraschend kleinen Bro und hebe ihn, nachdem er verbittert versuchte, durch unelegante Verrenkungen den Tisch zu erklimmen, auf den Tisch mit dem Geschenk.
»Danke!«, bedankt Marv sich und beschnuppert dann das Geschenk, »Ist es das?« »Ja«, ich nicke und hole tief Luft. »Ich hoffe, es wird ihr gefallen ... «
»Bestimmt!« Neugierig umläuft der Wolf das kleine Geschenk, das nur drei bis vier Fäuste kleiner als er selber ist. Ich selber ziehe mir einen Stuhl heran und mache es mir bequem. »Also?«, fragt Marv mit vor Neugierde funkelnden Augen, kaum dass ich sitze. Ich antworte mit einem fragenden Blick. »Na los, erzähl! Was ist da drin?«
Ein breites Grinsen breitet sich auf meinen Lippen aus. »Wer weiß.«
»Och Brokiluuuu!«, jammert die Fellnase und ich lache. »Nein, tut mir leid. Das wird mein Wichtel zuerst erfahren... Hoffentlich.« Ich blicke zu einem Fenster und mustere die immer mehr in Sonnenschein getauchte Landschaft. »Zumal, solltest du es nicht lieber nehmen und deinen Botengang antreten?«
Marvin folgt meinem Blick und zuckt kurz zusammen. »Wieso vergeht die Zeit auch so schnell?!«, jammert der kleine Grauwolf und nimmt vorsichtig die Schleife des Wichtelgeschenkes zwischen die Zähne. Ich stehe wieder auf und setze Marvin auf den Boden, wo er mit gehobenem Kopf zur Tür trabt.
»Isch bin dannn mahl unterhegs«, nuschelt Marv mit dem Geschenk im Maul. »Ay!«, antworte ich und öffne ihm die Tür. Lautlos huscht der Wolf hinaus und ich rufe ihm noch ein »Bis später!« hinterher. Dann schließe ich die Tür zur Taverne wieder und wende mich dem stillen Raum zu.
Ich mag die momentane Atmosphäre sehr. Es ist ruhig, nicht zu warm, nicht zu kalt, ein angenehmer Duft liegt in der Luft und die Taverne scheint nur so darauf zu warten, bald wieder von den verschiedensten Bewohnern besucht zu werden. Doch, bis es so weit ist, beschließe ich den milden Schein der einfallenden Sonne und zum Schlafen einladende Ruhe zu nutzen und schmeiße ich kurzerhand auf das rote Sofa.
Mit einem Seufzen entspanne ich meine Muskeln, lege den Kopf auf die Arme und schaue zur Decke. Während meine Augen immer kleiner werden, wandern meine Gedanken zum Wichtelgeschenk, welches momentan vom Wolf zu seinem Empfänger gebracht wird. Ich beginne etwas zu grübeln und erinnere mich genau an das Geschenk.
Eingepackt in stabilen, weißen Geschenkpapier mit zarten Aquarellmustern geschmückt, welche Blätter und Kräuter darstellen, und weiter noch verziert mit einer zartrosanden Schleife, befindet sich eine Schatulle. Die Schatulle ist geschnitzt aus Kirschbaumholz und ist verziert mit lieblichen Schnörkeln, sowie einem Kätzchenpfotenabdruck oben auf.
Ein kleiner Riegel aus Sterlingsilber, hält sie verschlossen.
Schiebt man den Riegel zur Seite und öffnet die Schatulle, empfängt einem zunächst ein zarter Duft von mexikanischem Traumkraut, etwas Silberwurz und einer überwiegenden Note einer Wildrose. Die Schatulle ist am Boden mit moosgrünem Samt gepolstert. Auf dem Samt ruht eine geschlossene Glasnelke in blassem Rosarot, welche aus frisch gesammelten Morgentautropfen geschmiedet wurde. Ein mysteriöses Glitzern reflektiert jeden Sonnenstrahl, der auf die Nelke fällt.
Auf der Innenseite des Deckels steht mit funkelnder Kalligrafie in grünen Buchstaben: »Ein Valentinstagsgeschenk für die liebe Sharimaya, ich hoffe, es wird dir gefallen! Wenn du die Geschichte erfahren willst, welche die Glasnelke in sich trägt, dann sprich die Worte, die auf dem Samtkissen eingenäht stehen.«
Hebt man die Nelke an, so erblickt man einen Spruch, der mit Silberwurzfäden in das Kissen genäht wurde. Jener sagt: »Kleine Nelke öffne dich, erstrahle in Morgenlicht und sing für mich. Ich bitte dich, kleine Nelke, spiel für mich.«
Sobald man diese Worte der Nelke zu geflüstert hat, öffnet sie sich.
Unter einem zarten Flimmern geht die Nelke auf und fängt an, in lebensfroher Farbe zu erstrahlen. Mit sachten Blütenbewegungen, als würde ein Wind durch jene streichen, fängt die Nelke fast lautlos an zu singen, sodass nur ihre Besitzerin der Geschichte lauschen kann.
Also singt die Glasnelke aus der Kirschbaumschatulle und sie singt eine Geschichte vom Valentinstag einer anderen Welt...