Es war eine bitterkalte Nacht und der Mond leuchtete hell am Himmel als ein grauer Wolf leichtfüssig über den Schnee trabte.
Er vernahm ein Wimmern in der Ferne, woraufhin er seine Ohren spitzte. Eiligst näherte er sich dem Geräusch, glitt beinahe lautlos zwischen den Bäumen hindurch bis er auf einer kleinen Lichtung zu stehen kam.
Seine glühenden Augen erfassten eine zitternde Gestalt, die zusammengekrümmt auf dem kalten Waldboden lag. Vorsichtig näherte sich der Vierbeiner dem kleinen Mädchen dessen goldenes Haar im sanften Licht des Mondes glänzte.
Ängstlich, aber dennoch neugierig, stupste er sie mit der samtenen Pfote an.
»Wer bist du denn?«, fragte die Kleine den Wolf.
Erschrocken wich er zurück.
»Ich tue dir nichts.« Zaghaft streckte der Lockenkopf die Hand aus. Schnuppernd trat der Vierbeiner wieder näher. »Ich bin der Grauwolf.«
Ein Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Mädchens aus. „Hallo Grauwolf, ich bin Clara.“
Vorsichtig richtete sie sich auf und musste sich am Rücken den Wolfes festhalten, um nicht sofort wieder hin zu fallen.
„Immer mit der Ruhe.“ Sanft stupste das Tier Clara an, seine Augen glitzerten gütig. »Was tust du denn hier draussen, bei dieser Kälte?«, fragte er das kleine Kind.
Sie verzog das Gesicht. »Ich habe mich verlaufen und finde nicht mehr nach Hause.«
»Wir können uns zusammen auf die Suche machen«, bot der Vierbeiner ihr an.
Sofort erhellte sich ihre Miene wieder. »Das wäre toll!«
»Na, dann. Wollen wir?« Der Wolf tapste los.
Nach ein paar schwankenden Schritten wurde das Mädchen sicherer und die beiden gingen Seite an Seite weiter in den Wald hinein.
Vereinzelt fielen Schneeflocken vom Himmel, als die zwei in einen anderen Teil des Waldes kamen. Hier standen keine Tannen mehr, sondern kahle Laubbäume. Selbst unter der dicken Schneeschicht konnte man spüren, dass der Boden hier im Sommer sumpfig war.
Der Graue zögerte einen Moment, bevor er seinen Weg fortsetzte, aber ein gewisses Mistrauen blieb. Sein Schwanz zuckte nervös, die Ohren wachsam aufgestellt, als er und Clara weitergingen.
„Was haben wir denn da? Hast du mir etwa ein Betthupferl mitgebracht, Wölflein?“ Die Stimme schien aus dem nichts zu kommen. Zugleich machte Clara erschrocken einen Schritt nach hinten.
Der Grauwolf fletschte die Zähne und knurrte er wütend: „Lass die Pfoten von ihr, verstanden?“
Ein Lachen war die Antwort und einen Moment später landete ein schwarzer Panther leichtfüssig auf dem Boden vor ihnen.
Ein spöttisches Grinsen im Gesicht schlich er sich näher heran. »Und du, mein kleines Wölflein, willst sie verteidigen?« Die Wildkatze überragte den Wolf um einiges.
Ängstlich schaute der Grauwolf in die leuchtend grün-gelben Augen der Grosskatze. »Wenn du ihr was tust, dann...«
»Dann was? Kläffst du mich an?«, fragte der Panther mit einem höhnischen Lachen, während er sich hinsetzte und anfing gemächlich seine Pfoten zu lecken. »Deine Freundin ist übrigens verschwunden.«
Erschrocken fuhr der Wolf herum, liess seinen Blick schweifen. Clara war nirgends zu sehen. Der Panther gab ein abfälliges Schnauben von sich und wandte sich ab.
„Hey! Wo willst du hin?“ Verwirrt drehte der Graue, der bereits einige Meter weitergegangen war, den Kopf.
„Wohin ich gehe? Ich werde ein Nickerchen machen. Es ist mitten in der Nacht, zudem ich bin müde.“
„Aber Clara….sie wird sterben….“ Doch die Raubkatze hatte sich bereits abgewandt und war mit der Dunkelheit verschmolzen.
So machte der Wolf sich alleine auf die Suche nach den kleinen Mädchen und folgte ihren Spuren im frisch gefallenen Schnee. Doch schon nach kurzer Zeit bedeckten Flocken die Abdrücke, so dass nicht einmal mehr die gute Nase des Rüden vermochte zu sagen, wo Clara sich befand.
Auf einmal hörte er einen Hilferuf. Immer schneller trabte der Wolf voran, versuchte herauszufinden, woher das Geräusch kam. Er nahm ein Getöse war, das er jedoch nicht einordnen konnte.
Vor ihm tauchte ein breiter Fluss, der für das Rauschen verantwortlich war, welches er vorhin gehört hatte.
Clara hielt sich an einem Stamm fest, der im Wasser trieb, während sie hilflos zappelte. »Grauwolf, hilf mir!«
Aber der Vierbeiner wusste nicht was er tun sollte. Das Wasser des Flusses donnerte gegen das Bachbett.
Er hatte Angst davor in das eisig kalte Gewässer zu springen, sich dem Sog vollkommen auszusetzen. Ausserdem hatte er viel zu wenig Kraft um gegen die Strömung anzukämpfen.
Verzweifelt hielt er nach irgendetwas Ausschau, womit der dem kleinen Mädchen helfen konnte, aber da war weit und breit nichts weiter als das tosende, schwarze Wasser und der kalte Schnee.
Als er einen Ast auf dem eisigen Strand liegen sah, zögerte er nicht lange, sondern schnappte ihn sich mit den Zähnen. Mit grosser Anstrengung gelang es ihm schliesslich, das Holz Stück für Stück in den Fluss hineinzuschieben.
Langsam kam das Ende des Astes näher zu Clara hinüber, die mittlerweile aufgehört hatte zu rufen. Sie klammerte sich nur noch wimmernd an dem Baumstamm fest.
Kurz vor seinem Ziel wurde die Strömung jedoch zu stark und der Wolf musste hilflos mitansehen, wie der Ast von den Strömung gepackt und mitgerissen wurde.
Winselnd setzte er sich in den kalten Schnee, blickte verzweifelt zu dem Kind herüber, dessen Kräfte schwanden.
»Und? Wie sieht die Lage aus?«, erklang eine Stimme hinter dem Wolf. Mit einem Knurren drehte sich der Kleinere um und erwiderte: »Hilf mir oder verschwinde.«
Der Panther lugte kritisch über den Rand der Böschung, hinunter zum Wolf, in das tosende Gewässer, wo Clara sich zitternd an einem Baumstamm festklammerte.
»Wölflein, weißt du auch irgendwas? Katzen mögen kein Wasser.« Das Tier schaute ihn kopfschüttelnd an.
»Bitte hilf mir«, bettelte der Grauwolf. »Ich weiss, dass du tief in dir drin ein Herz hast, das gut ist.«
Der andere stiess ein verächtliches Schnauben aus. »Jedes Tier hat ein Herz, weil es sonst nicht leben würde.«
Trotzig schob der Wolf das Kinn vor. »Du weißt ganz genau was ich meine. Bitte hilf mir sie zu retten.«
Mit einem Seufzen betrachtete der Panther den Kleinen. »Ich schaue mal, was sich machen lässt.« Er stolzierte um ihn herum, betrachtete kritisch den Fluss.
Mit einem grossen Satz sprang der Panther den Hang hinunter und landete laut klatschend im Wasser. Obwohl ihm das kalte Nass gerade mal über die Pfoten reichte, jammerte er lauthals: „Wieso tue ich mir das bloss an?“
Vorsichtig, dazu noch wenig elegant stakste er weiter, bis ihm das Wasser zur Brust reichte. Dann stiess er sich ab und begann sich auf Clara zuzubewegen.
Das kleine Mädchen schien das Bewusstsein verloren zu haben, denn kurz bevor die schwarze Katze sie erreichte, verloren ihre Finger den Halt und sie trieb flussabwärts. Der Panther zögerte nur einen winzigen Moment, bevor er seine Richtung änderte und Clara hinterherschwamm.
Der Grauwolf lief derweilen aufgeregt am Ufer neben den beiden her. Als das Rauschen des Flusses lauter wurde, wurde dem Vierbeiner plötzlich bewusst auf was der Panther und das Mädchen da zurasten.
Panisch schrie er: „Ihr treibt auf einen Wasserfall zu!“
„Ich weiss!“, knurrte der Panther zurück. Er schwamm schneller, so dass er Clara einholte. Das Wasser war eisig kalt und umspülte ihren zarten Körper. Sein Kopf schnellte vor, zugleich verbissen sich seine Zähne im Kragen ihres Kleides.
Mit kräftigen Bewegungen beförderte er sie in Richtung rettendes Ufer, weiter weg vom tödlichen Wasserfall.
Als er sich mit letzter Kraft die Böschung hinaufschleppte, kam ihnen der Wolf entgegen.
Clara regte sich und hustete einen Schwall Wasser auf den Panther. „So dankst du mir deine Rettung, Kleine?“, fragte die Katze mürrisch.
Die Wildkatze legte das Mädchen auf den Boden, um sich zu schütteln. Währendem der Graue sich neben Clara kauerte, um sie zu wärmen. Die Kleine gab ein gequältes Wimmern von sich und bewegte ihre blau angelaufenen Lippen.
„Sie besteht ja nur aus Haut und Knochen. Wölflein, hol mal was zu Essen für die Kleine“, sagte der Panther mit einem Blick auf das zitternde Bündel. Er kniete sich auf den schneebedeckten Boden, damit Clara auf seinen Rücken steigen konnte.
Mit klammen Fingern hielt sie sich am seidenen Fell des Panthers fest. Zu dritt machten sie sich auf den Weg durch den Wald. Auf einer Lichtung trennten sich ihre Wege. Der Wolf machte sich auf die Suche nach etwas Essbarem für Clara, während die Raubkatze das Mädchen auf eine kleine Anhöhe hinauftrug, wo sie sich von seinem Rücken gleiten liess.
Zitternd kuschelte sie sich an die Wildkatze, die dem Kind einen skeptischen Blick zuwarf, das Vorhaben aber zuliess.
Als der Wolf zurückkam, ein Blatt voller Beeren im Maul, war Clara bereits eingeschlafen. Mit einem zärtlichen Ausdruck in den Augen legte er sich neben die beiden.
Man hörte den Panther sanft „Gute Nacht“ flüstern und dann schliefen die drei aneinander gekuschelt ein.
Die Sterne leuchteten am Firmament, gleichzeitig lächelte der Mond auf den Panther, das Mädchen und den Wolf hinab.
Von diesem Tag an sollte die Geschichte des kleinen Mädchens Clara nur noch unter dem Namen „Wo Panther und Wolf sich "Gute Nacht" sagen“ bekannt sein.