Salvia schaute durchs Fenster in die Nacht hinein und spürte die seichte Brise des Windes von draußen.
Nein.
Es wäre keine Option, jetzt rauszugehen und wegzulaufen, es war viel zu dunkel. Außerdem kannte sie sich hier nicht aus. Wie weit war sie eigentlich von ihrer Heimat, nein, dem kleinen Dorf Miska entfernt …?
Frustriert wand sie sich vom Fenster ab und verschränkte die Arme, während sie unruhig ihren Blick durchs Zimmer wandern ließ. Genau in dem Moment öffnete sich die Tür und Wallace trat ein.
„Alles in Ordnung?“ Er sah besorgt aus.
„Alles in Ordnung“, zwang Salvia sich zu einem schiefen Lächeln und wollte ihn so zum Weggehen verleiten. Doch blickte er ihr nur verwirrt entgegen und blieb an Ort und Stelle stehen, wie ein Fels in der Brandung. Ein Fels, der im Weg stand.
Das Lächeln war wohl zu viel des Guten gewesen.
Sie sah schon vor sich, wie er sich zu ihr gesellen würde mit den Worten: ‚Wenn du reden willst … ich bin hier.‘ Er schien ihr diese Art von Mensch zu sein.
„Bin nur müde“, fügte sie deswegen unvermittelt hinzu, bevor er noch auf dumme Ideen kommen konnte.
„Hm, dann will ich nicht lange stören. Ich wollte nur fragen, ob du eine Ahnung hast, wo wir deine Eltern morgen finden können.“
Salvia fasste sich ans Kinn und überlegte einen Moment, was sie darauf erwidern könnte. Was sie auch sagen würde, es wäre eine Lüge.
„Westen“, nannte sie die erste Himmelsrichtung, die ihr einfiel.
„Wo genau westlich?“
„… Bei einem Wasserfall.“
„Ein Wasserfall? Westlich von hier?“, runzelte er die Stirn.
Sie versuchte, möglichst selbstsicher auszusehen, während sie nickte. Hoffentlich würde Wallace ihr keine weiteren Fragen mehr stellen, denn Salvia war sich sicher, dass nun spätestens ihre Stimme Verunsicherung zeigen musste.
„Es gibt vielleicht nördlich von hier einen kleinen Fluss, aber einen Wasserfall, westlich … davon wüsste ich.“
Die beiden schauten sich stumm an und als klar wurde, dass Wallace eine Antwort erwartete, sagte sie zögerlich:
„Er ist … recht versteckt …“
Sie beobachtete, wie seine Augenbrauen immer weiter nach oben wanderten.
„Dann zeig uns den morgen mal“, schlug er schließlich vor.
Verdammt.
Einen Moment wurde der Raum von erneuter Stille erfüllt, ehe er fortfuhr:
„Mehr gäbe es von meiner Seite aus nicht, hast du mir noch etwas mitzuteilen?“
„Nein, alles gut.“
„Dann würde ich sagen … gute Nacht.“ Recht eilig schien er es zu haben, als Wallace das Zimmer verließ und die Tür hinter sich schloss, um seinen Gast nicht weiter zu stören.
Als Salvia ihm dabei ein wenig verwirrt hinterherblickte, bemerkte sie an der Tür ein kastenförmiges Schloss, welches dort befestigt war. Sie ging dorthin und sah es sich genauer an. Zwar war es ein wenig verrostet, doch steckte der Schlüssel drin und ließ sich auch ohne große Probleme umdrehen. Die Tür konnte dann wie gewollt nicht geöffnet werden und so beschloss die junge Antecessoris, doch weitere Zeit in diesem Haus zu verbringen und sich über ihren nächtlichen Aufenthalt hinweg einzuschließen, statt wegzulaufen.
Zugegeben hätte sie auch nicht gewusst, was nach dem Ausstieg aus dem Fenster hätte passieren sollen, denn weiter hatte sie da nicht gedacht. Aber das war auch nicht mehr relevant.
Sie streckte sich und schaute aufs zurechtgemachte Bett. Fürs erste sollte sie sich schlafen legen.
Gerade, als sie es fast geschafft hatte, im Tiefschlaf zu versinken, schreckte Salvia hoch, was ihre Befürchtung, nicht einschlafen zu können, doch noch bestätigte.
Wenn sie ihre Augen schloss und versuchte, sich zu beruhigen, war zunächst alles normal. Sobald ihr Körper dann allerdings im Inbegriff war, in den Ruhezustand zu wechseln, schossen ihr Bilder in den Kopf, die sie nicht sehen wollte, ganz und gar nicht sehen wollte.
Es waren vielfältige Bilder und es gab durchaus schöne unter ihnen. Trotzdem wollte sie keines davon sehen. Sie wollte nicht sehen, wie sie neben ihrer Mutter am Kamin saß und mit ihr zusammen ein Buch las. Wollte nicht sehen, wie ihr Vater stolz zu ihr herübersah, so wie er es oft getan hatte, wenn sie zusammen unterwegs waren.
Vor allem aber wollte sie nicht nochmal die regungslosen Leiber derer vor sich sehen, die sie zuvor noch verfolgt hatten. Sie wollte einfach nichts davon sehen.
Doch statt ihren Willen zu kriegen, plagte sie neben genau diesen Bildern ein erdrückendes Gemisch aus den verschiedensten Gefühlen. Sie konnte sie nicht alle genau benennen, doch war sie sich bei einigen sicher, dass sie Teile dieses Brockens an Emotionen waren: Wut auf sich selbst und Angst. Angst vor dem eigenen Scheitern und vor den Leuten, all diesen Leuten, die für ihre Situation, nein, für diese gesamte Jagd, verantwortlich waren … Die stärksten Gefühle allerdings bildeten Trauer und Heimweh. Sie wusste, dass sie wahrscheinlich weder ihre Mutter Beatrix, noch ihren Vater Melaenis je wiedersehen würde. Ihr wurde bei dem Gedanken daran schlecht.
So schlecht, dass sie zum Fenster eilen musste, um es zu öffnen und frische Luft zu schnappen.
„Übergib dich nicht“, hörte Salvia eine Stimme und zuckte zusammen.
Als ihr klar wurde, dass ihre Tante Victricia es war, die zu ihr sprach, beruhigte sie sich und flüsterte: „Werde ich nicht.“
Sie schaute hinauf zum Mond und zu den Sternen, die dort oben auf alles hinabstrahlten.
Zwar waren ihre Augen müde, doch herrschte im Rest ihres Körpers durchweg eine Anspannung, die sich nicht zu lösen vermochte.
„Sag mal“, fing Salvia an, „hätte der Tag auch anders verlaufen können?“ Sie machte sich Vorwürfe, dass sie nichts unternommen hatte und nur vor der Gefahr weggelaufen ist. Mit ihren Eltern als Opferfiguren.
„Falls du meinst, ob du den Tag über auch hättest sterben können: Natürlich. Wenn du allerdings darauf hinauswillst, ob deine Eltern hätten überleben können: Wahrscheinlich nicht. Es ist ja schon ein Wunder, dass du überlebt hast.“
Salvia nickte leicht, lehnte sich mit den Unterarmen aufs Fensterbrett und streifte nachdenklich mit ihrem Blick die raschelnden Büsche und Bäume, die einige Meter entfernt vom Haus wuchsen und einen kleinen Teil des Waldes bildeten, in dem sich die Hütte befand. Dort herrschte Leben, auch in tiefster Nacht, das konnte man hören.
„Ich glaube, ich hätte eigentlich sterben müssen“, gab sie gedankenverloren von sich.
„Das ist sehr direkt.“
„Nein, im Ernst, eigentlich hätte ich den heutigen Tag nicht überleben dürfen. Aber warum habe ich es dann …?“
„Du, das kann ich dir auch nicht sagen.“
„Ich weiß, aber …“ Salvia wand sich vom Fenster ab: „… es erscheint mir nur so surreal. Und gleichzeitig … schmerzt es so sehr, dass ich befürchte, es muss wahr sein.“
„Ich teile diesen Schmerz mit dir“, das tat Victricia durch ihre Verbindung wirklich, „aber wir müssen uns damit arrangieren und versuchen, zu überleben.“
Ihre Nichte hielt inne und erwiderte nichts.
„Hast du schon eine Idee, wie du morgen vorgehen könntest?“, wechselte Victricia das Thema.
Sie schüttelte nur den Kopf und setzte sich auf den Bettrand.
„Wollen wir uns zusammen etwas überlegen?“
„Ich bitte drum“, legte das Mädchen sich hin und schloss die Augen, um besser nachdenken zu können.
Der nächste Morgen graute und draußen ertönte ein lautes Wiehern, welches Salvia aus dem Albtraum riss, den sie gerade hatte. Die Erleichterung darüber, dass das Geträumte nicht real war, hielt nicht lange an, da sie sich schnell wunderte, was dort draußen eigentlich los war.
Verschlafen verließ sie das Bett und dessen Wärme, um ans Fenster zu schlurfen. Und fast sprang sie einen Schritt zurück, als ihr die Nüstern eines dunkelbraunen Pferdes entgegengestreckt wurden, das sie neugierig anstarrte.
„Was zum Henker …?“
Da klopfte es auch schon und sie eilte zur Zimmertür, um aufzuschließen und diese vorsichtig zu öffnen.
Vor ihr stand Wallace, der sie begrüßte: „Guten Morgen. Hoffentlich hast du gut geschlafen. Ich wollte nur Bescheid sagen, dass wir gleich aufbrechen.“
„Aufbrechen?“, wunderte sich Salvia, die immer noch müde war.
„Um deine Eltern zu finden. Wo, sagtest du nochmal, sollten wir suchen?“
Was hatte sie gestern nochmal gesagt? Verdammt, sie wusste es nicht mehr …
Mit leicht geöffnetem Mund stand sie da, brachte aber kein Wort heraus. Dann rieb sie sich die Augen und behauptete: „Tut mir leid, ich bin noch nicht ganz wach, vielleicht später.“
„Oh, nun gut. Dann … werde erstmal wach. Bis gleich!“
Mit diesen Worten überreichte er ihr noch ein paar Klamotten und eilte schon wieder weiter.
Verdutzt schloss Salvia die Tür und zog sich direkt um. Es war ein langes, wohl einst weißes, inzwischen aber leicht vergilbtes Leinenhemd und eine graue Hose aus vermutlich demselben Material. Der Stoff war leicht zerfranst und die Kleidungsstücke waren etwas zu groß für sie. Dennoch wollte sie sich nicht beschweren.
Zu guter Letzt schlüpfte sie in ihre braunen Stulpenstiefel und nahm die zurzeit ungenutzte Kleidung mit, da sie nicht wusste, wohin mit dieser. Damit verließ sie ihr Zimmer und erblickte im Flur einige Gepäckstücke, die man dort gestapelt hatte. Mélina hockte daneben und band gerade den nächsten Sack zusammen.
„Kann ich helfen?“
Die junge Frau zeigte nur zum Ausgang und sagte: „Wallace wartet draußen“, ehe sie das leicht verdutzte Mädchen ignorierte und weitermachte.
Ohne dem Ganzen Worte zuzufügen, trat Salvia aus dem Haus und dachte darüber nach, welche Himmelsrichtung sie gestern eventuell genannt haben könnte.
„Übrigens war es Westen – glaube ich“, gab Victricia an, als ihre Auditor suchend ums Haus herumging.
Sie erblickte Wallace, der bei genau dem Pferd stand, welches Salvia noch wenige Minuten zuvor so überrascht hatte. Ein paar Meter entfernt von ihnen stand ein weiteres, schwarz-weiß geflecktes Ross, das gerade von einem Hünen gestriegelt wurde, der gestern noch nicht da war. Möglicherweise der Besitzer beider Tiere. Sie schienen sich angeregt zu unterhalten, doch sobald Wallace Salvia erblickte, winkte er sie zu sich und unterbrach sein Gespräch.
„Wie ich sehe, sind dir die alten Sachen von Mélina nicht zu klein“, lachte er kurz auf und Salvia war sich beim besten Willen nicht sicher, ob er sich über sie lustig machte oder nicht.
„Wo bleiben meine Manieren“, fuhr er schnell fort, als hätte er ihre Gedanken gelesen, „dies hier ist Arne.“
Er deutete auf den blonden Hünen, welcher gerade mit seiner Arbeit fertig war und sich nun verneigte.
„Arne Henriksson, freut mich.“
„Und das hier ist Salvia“, deutete Wallace nun auf sie.
Zögerlich verneigte sie sich ebenfalls. „Salvia … Artevis.“
„Artevis, wirklich?“, kommentierte Victricia leicht amüsiert, doch reagierte ihre Nichte nicht darauf. Die anderen konnten ihre Stimme nicht hören.
„So, dann wollen wir mal losgehen, was, Salvia?“, blickte Wallace ihr erwartungsvoll entgegen.
„Äh, ja“, gab sie nur von sich und erwartete eine weitere Frage, eine nach der Himmelsrichtung. Doch blieb diese aus. Stattdessen wand der alternde Mann sich Arne zu:
„Du willst natürlich wieder zu Mélina, habe ich Recht?“
Ertappt grinste er und antwortete: „Wenn nichts dagegen spricht.“
Wallace kam mit bedrohlicher Langsamkeit näher auf ihn zu, ohne ihn auch nur eine Sekunde aus den Augen zu verlieren, während er seinen kräftigen, rechten Arm erhob.
Dann klopfte er Arne auf die Schulter und sagte: „Richte ihr aus, dass wir im Westen sind. Vergiss aber nicht, wie geschickt sie mit ihrer Magie umgehen kann, solltest du auf dumme Ideen kommen. Und wenn wir nicht zurück sind, bis die Sonne ihren Mittelstand erreicht hat, kann sie uns suchen kommen.“
„Natürlich, werter Herr!“, erklärte der große Mann erhobenen Hauptes und marschierte geradewegs ins Haus.
„Na, ob das mit den beiden je was wird“, grinste Wallace ihm noch hinterher.
Dann holte er aus seiner Tasche eine metallene, runde Büchse, die er über einen kleinen Hebel an der Seite aufklappte. Es offenbarte sich ein Zeiger mit jeweils einer Spitze auf beiden Seiten. Die eine Spitze war rostrot, die andere hellblau gefärbt, wobei die Farben allmählig abzublättern schienen. Des Weiteren waren unter den Zeigern diverse Buchstaben zu erkennen.
Wallace drehte sich und schaute wie gebannt auf den Zeiger, der sich mit ihm drehte. Schließlich stoppte er.
„Dort dürfte Westen sein“, deutete der Mann vor sich und ging los, gefolgt von Salvia, die stetig die Stimme ihrer Tante aus dem Totenreich vernahm, welche sie an den möglichen Plan erinnerte, von diesem Mann wegzukommen und wieder frei zu sein.
Sie gingen nun schon eine Weile und Salvia wurde immer unruhiger, je mehr Zeit verging. Victricias Plan schien vom Gehörten her zwar Hand und Fuß zu besitzen, aber bei diesem Mann konnte sie sich nicht sicher sein, an wem sie war. Trotzdem musste sie es versuchen.
„Ähm“, fing sie nervös an, „das ist mir jetzt ein wenig unangenehm.“
Beide stoppten ihren Gang durch den Wald und Wallace schaute ihr verwundert entgegen.
„Mir fiel soeben ein, dass wir unseren üblichen Treffpunkt geändert haben – zu viele Banditen in der Nähe. Wir müssen weiter südlich von hier.“
„Oh, das ist, nun … dann weiter südlich“, akzeptierte er zögerlich.
Somit durfte Mélina keine potenzielle Gefahr mehr darstellen.
Während sie ihren Weg fortsetzten, wurde Wallace neugierig: „Wie kommt es eigentlich, dass Latiser Leute hier an diesem abgelegenen Ort umherwandern? So mit der ganzen Familie?“
„Das, ähm, ist eine gute Frage. Also … wir sind Kaufleute und haben da gerade so ein, äh … Geschäft am Laufen, über das ich leider nicht reden darf … Aber es ist legal.“
„Das will auch keiner bezweifeln“, lachte er laut auf und Salvias Blick ruckte überrascht von ihm weg.
„Ihr seid also viel unterwegs, weil ihr einflussreiche Kaufleute seid? Da hat man doch sicherlich Geld, um sich ein paar Leibwächter zu besorgen.“
„Nein, wir …“, brach sie ab und dachte angestrengt nach, was sie sagen sollte. Dass er sowas fragte, beunruhigte das Mädchen. Er war doch selbst kein Bandit, oder?
Schließlich ergänzte Salvia Victricias Worte: „Wir haben keine Leibwächter, weil wir keine brauchen. Ich werde nicht ins Detail gehen, aber die letzten Banditen, die sich mit unserer Karawane angelegt haben, wurden noch am selben Tag bestattet, während man voller Freude die Nachricht verbreitet hat, dass das Gebiet nun wieder sicher sei. Lange schon hatten sie die umliegenden Dörfer bedroht.“
Der Mann schaute mit großen Augen das Mädchen an, dessen Worte nicht so recht zu ihrer zuvor noch so verunsicherten Ausstrahlung passen wollten.
„Heute bist du echt gesprächig, weißt du das? Was war gestern nur los?“
„Ich war erschöpft.“
„Ja, aber du sahst aus, als wäre irgendwas passiert. Allein schon deine Kleidung … Als hätte man dich dazu gebracht, über den Waldboden zu kriechen, vielleicht noch in Bäumen zu klettern oder sonstiges.“
Mit blanker Miene erwiderte sie nichts.
„Willst du nichts dazu sagen?“
Ein Kopfschütteln als Antwort.
Je mehr Wallace redete, desto gefährlicher kam er ihr vor. Gestern wirkte er auf sie zwar noch ein wenig naiv, gleichzeitig aber schien diese ganze Fragerei eine Drohung seinerseits zu sein, um nach Lücken in ihren Aussagen Ausschau zu halten. Und es wurde immer deutlicher, dass dieser Mann mehr wusste, als er zeigen wollte. Sie musste schnell von ihm weg.
„Übrigens“, fuhr Wallace fort, „als Arne heute zu uns stieß, erzählte er etwas von einem Dorf in der Nähe. Miska heißt es, glaube ich.“
Das Mädchen schaute einfach nur geradeaus und erwiderte seinen Blick nicht mehr, während sie weitergingen.
„Man riet ihm, sich vom Wald fernzuhalten. Ganze vier Männer hatte man seit dem letzten Abend vermisst und befürchtete Schlimmes. Muss fürchterlich für die Angehörigen sein, nicht zu wissen, was mit ihnen los ist, sich aber mit jeder verstreichenden Stunde über dessen Tod sicherer zu werden.“
Salvia merkte, wie sich ihre Hände zu Fäusten geballt hatten und löste den Griff.
„Vermutlich ein Wolfsrudel oder sowas“, kommentierte sie nur.
Es gab die einen, über dessen Verlust man trauerte und die anderen, über dessen Verlust man froh wäre. Sie, die den vorigen Abend überlebte, gehörte mit ihrem Blut zu letzteren, jene, die sie gejagt hatten und nun tot waren, zu ersteren. Salvia war sich nicht sicher, wie sie sich bei dem Gedanken daran fühlen sollte.
„Ich weiß nicht, mir sind hier bisher kaum Wölfe begegnet. Und für gewöhnlich sind sie doch recht menschenscheu.“
„Ich bin mir sicher, es gibt Ausnahmen.“
„Mag sein, aber vier Männer … ich weiß ja nicht.“
Eine Weile noch setzten sie wortlos ihren Weg fort. Wallace, der sich immer mal umsah und Salvia, die einfach ziellos geradeaus ging und so tat, als würde sie sich dort auskennen, um kein Unbehagen bei ihrem Gegenüber auszulösen.
Dann stoppte sie und drehte sich zu ihrem Begleiter um.
„Ich brauche kurz einen Moment für mich.“
„Oh“, verstand er auf der Stelle, „dann mach mal, ich bleibe in der Nähe und passe auf.“
Wortlos suchte Salvia nach einem ruhigeren Platz, von wo aus Wallace sie nicht mehr im Blick haben würde. Als sie einen ausfindig gemacht hatte, der einige Meter von ihnen entfernt lag, ging sie dorthin. Hinter sich hörte sie allerdings weitere Schritte, woraufhin sie sich umdrehte. Wallace stoppte seinen Gang und schaute verlegen zu ihr rüber.
„Ich will nur in Hörreichweite sein“, erklärte er sich. „Falls dir etwas passiert.“
Ohne ihre Skepsis zu verbergen, wandte sie sich wieder nach vorne und positionierte sich schließlich hinter einem Baum, um zu lauschen. Tatsächlich stoppten seine Schritte erst direkt auf der anderen Seite dieses Baumes.
„Das ist mir unangenehm …“, merkte sie leise, aber hörbar an.
„Keine Sorge, ich kann auch singen, wenn du möchtest.“
Einen kurzen Moment dachte sie darüber nach. Es konnte sowieso nicht mehr genau nach Plan verlaufen, also musste sie sich anpassen.
„In Ordnung“, sagte Salvia und als Antwort hörte sie ein Räuspern, gefolgt von lautem Gesang. Es schien sich bei dem Lied um eine Geschichte zu handeln, in der es um einen Jäger ging, der sich mit einem Bären anfreundete. Irgendwo hatte sie dieses Lied schonmal gehört, vor sehr langer Zeit. Die Töne wurden dabei überraschend gut getroffen. Auch schätzte sie vom Gehörten, dass Wallace gerade am Baum lehnte und sein Blick somit gänzlich in die andere Richtung fiel, als die, in der sie sich befand. Gute Voraussetzungen für sie.
Während er sein musikalisches Talent auslebte, sah sie sich um. Auf ihrer Seite hinter dem Baum befand sich neben kleineren Felsen und ziemlich viel Laub auf dem erdigen Boden auch ein Abhang, den sie raufklettern konnte. Zwar war seine steinige Oberfläche von Moos bewachsen, doch wenn sie nur genug aufpassen würde, sollte es funktionieren.
Dem Gesang lauschend marschierte sie auf den Abhang zu und kletterte langsam, mit steter Vorsicht, hinauf. Fast ganz oben angekommen, war sie bemüht, sich den Rest hochzuziehen. Dabei stoppte der Gesang und sie rutschte vor Hektik fast ab, konnte sich aber noch halten und manövrierte sich schließlich auf die sichere Oberseite, wo sie sich hinlegte, um nicht so leicht entdeckt zu werden, sollte Wallace nachsehen, was mit Salvia los war.
Wenige Sekunden später hörte sie von unten, hinter dem Baum: „Soll ich noch ein Lied singen oder bist du fertig?“
Schnell kroch sie von der Stimme weg, um nicht doch noch entdeckt werden zu können.
„Salvia?“
Auf allen Vieren krabbelte sie davon.
„Salvia!“
Es ertönte das Geräusch brechenden Gesteins und rieselnder Erde, woraufhin sie ihren Blick hinter sich richtete und plötzlich Wallace erblickte. Er stand auf einer Erhöhung des Waldbodens und schaute das Mädchen streng an.
„Also bist du tatsächlich eine der Gejagten.“