Mit weit aufgerissenen Augen starrte Salvia ihm entgegen und brachte keinen Ton von sich. Er hatte sie gefunden. Hatte sie erkannt. Er schien es bereits geahnt zu haben, doch nun hatte Wallace die Bestätigung, dass sie etwas verbarg. Hatte Bestätigung zur Annahme, sie sei eine Antecessoris. Er hatte in Salvia eine Gejagte entdeckt, die es zu morden galt, dessen war sie sich sicher.
Ohne weitere Gedanken zu verschwenden, schleuderte sie mit einer Armbewegung etwa faustgroße Kugeln aus Wasser auf den Mann vor sich, in der Hoffnung, ihn an Mund und Nase zu erwischen und ihm so die Luftzufuhr abschnüren zu können. Sie verfehlte ihr Ziel und Wallace zog eine grobe Erdwand vor sich hoch. Die Gelegenheit wahrgenommen, rappelte Salvia sich auf und wollte von ihm weglaufen, als sie hinter sich zuerst sandiges Rieseln vernahm und dann über eine Erhöhung des Bodens stolperte, die sich gerade vor ihr aufgetan hatte. Sie fiel und lag wieder am Grund.
„Jetzt warte doch mal und hör zu!“ Wallace sprang von seinem Podest aus Gestein und Erde runter und lief zu ihr.
„Eine falsche Bewegung und, bei Mizar, ich ertränke dich“, fauchte sie ihn an, ihre Angst durch Grimm in der Stimme verdeckt. Sie wollte bloß, dass es aufhörte und man sie in Frieden lassen würde, endlich in Frieden. Doch wie sollte sie das je erreichen, wenn sie bei jeder Person, die ihr begegnete damit rechnen musste, einen potenziellen Antecessoris-Jäger vor sich zu haben?
Wallace, der immer noch neben ihr stand, ergriff nun behutsam das Wort: „Du brauchst dir keine Sorgen wegen mir zu machen.“ Der Klang seiner Stimme erinnerte Salvia an Zeiten, in denen ihre Mutter ihr gut zusprach, um sie zu beruhigen, wenn sie wieder Albträume hatte oder generell von der Angst gepackt wurde, man könnte sie und ihre Eltern als Gejagte entlarven. Sie hasste den Klang seiner Stimme, da diese ihr nur ein beklemmendes Gefühl im Herzen bescherte.
„… Und warum sollte ich mir keine Sorgen machen?“, fragte sie ihn mit finsterem Blick.
„Weil ich auf eurer Seite bin.“ Er machte einen Deut auf seine Augen und sie verstand.
Natürlich. Ihre Augen waren schon wieder rot. Dabei fragte sich Salvia unweigerlich, was wohl gewesen wäre, hätte sie auf das Nutzen ihrer Magie verzichtet. Dann hätte er sie nicht als eine Antecessoris, als eine der ‚Rotaugen‘, erkannt – aber wohl trotzdem unangenehme Fragen gestellt, wie zuvor auch schon. Nur mit mehr Grund zur Skepsis.
„So, du bist also auf unserer Seite? Dafür, dass du selbst gerade fleißig Magie gewirkt hast, sehen deine Augen aber nicht sehr rot aus.“
„Man muss selbst kein Antecessoris sein, um ihnen friedlich gegenüberzustehen oder ihnen gar zu helfen.“
„Aber es würde dann Sinn ergeben.“
„Ich weiß zwar nicht, wie es bei dir ist“, er bot ihr seine Hand an, um ihr beim Aufstehen zu helfen, „aber ich sehe sehr wohl Sinn in dem, was ich tue. Sehr viel sogar.“
Ohne auf seine Geste einzugehen, rappelte Salvia sich auf und wahrte Sicherheitsabstand. Sie war nach wie vor sehr argwöhnisch. Menschen hatten immer zwei Gesichter und viele von ihnen waren gut darin, das hässliche zu verdecken.
„Erkläre mir, welchen Sinn du siehst“, forderte sie.
„Um es kurz zu machen: Ich möchte eine Umstrukturierung in der Politik des Landes erreichen. Und weil das Unterbinden des Antecessoris-Genozids auch auf meinem Plan steht, dachte ich mir …“
„Du willst Eldoran regieren.“
„Genau.“
„Und uns dafür benutzen, dir auf den Thron zu verhelfen.“
„Nun, ‚benutzen‘ ist ein harsches Wort. Eher ‚zusammenarbeiten‘. Ich habe sogar schon einige Kollegen gefunden.“
„… Und du bist dir sicher, dass du sie nicht früher oder später allesamt ans Messer liefern wirst? Ich habe gehört, das Kopfgeld sei in letzter Zeit wieder höher geworden, da es ja immer weniger von uns Rotaugen gibt. Mit der Prämie könnte man bestimmt in ein paar ganz feine Sachen investieren, um sein Leben zu bereichern.“ Bitterkeit war ihrer Stimme zu entnehmen.
„Auf gar keinen Fall“, sagte er bestimmt. „Ich weiß, du hast nur mein Wort, aber ich schwöre, das habe ich nicht vor. Niemals.“
Salvia seufzte. „Selbst, wenn es so wäre, hätte ich trotzdem keinen Grund, da mitzumachen. Ich möchte einfach nur ein Leben führen. Und eine Rebellion erscheint mir sehr riskant.“
„Kann man eine Existenz im Verborgenen mit ständiger Angst, entdeckt zu werden, denn ‚Leben‘ nennen?“
Damit hatte Wallace ein Argument und das missfiel ihr. Wie gering war denn die Wahrscheinlichkeit auf Erfolg? Es wäre doch nichts weiter als Selbstmord! Darauf konnte sie verzichten.
„Es ist doch so“, fuhr er fort, „dass Menschen am Ende das bereuen, was sie nicht getan haben, als sie noch die Chance dazu hatten. Ich biete dir diese Chance. Wirst du sie annehmen?“
Noch bevor Salvia darauf antworten konnte, fügte er hinzu: „Glaub außerdem nicht, dass ich naiv bin und mich nicht vorbereite. Rebellium gibt es schon seit einigen Jahren und in dieser Zeit haben wir viele wichtige Kontakte geknüpft und Informationen beschafft, die uns zum Erfolg verhelfen werden. Es wird nicht mehr allzu lange dauern, bis wir so weit sind, dass wir beginnen können.“
„… Denkst du wirklich, ich glaube dir?“ Salvia hatte wirklich keine Zeit für solch alberne Geschichten, die offensichtlich gelogen waren.
„Das kann ich dir leider nicht nehmen. Und Argumente bringen wohl auch nichts, wenn der Gegenüber keinen Grund hat, sie zu glauben …“ Er kratzte sich am Hinterkopf und lächelte etwas hilflos.
Ohne weitere Worte zu verschwenden, hob Salvia ihren Arm und bedeckte Wallaces Gesicht mit Wasser. Sie wollte ihn lediglich ohnmächtig werden lassen, damit er nicht sah, wohin sie verschwand.
Völlig überrumpelt versuchte Wallace, sich irgendwie zu befreien, doch war es zwecklos. Schließlich gab er auf und zeigte stattdessen wie wild auf die Baumkronen um sie herum und gab irgendwelche Handzeichen, die Salvia nicht so recht deuten konnte. Dann verstrichen die Sekunden und sein Körper wurde immer ruhiger. Zu hören war nur noch das Rauschen der Blätter im Wind und das hektische Zwitschern der Vögel.
Gerade, als Wallace langsam und mit schweren Lidern auf die Knie sank, spürte Salvia, wie es kälter um sie herum wurde. Eis kroch sich erst an ihren Füßen, dann an ihren Beinen hoch. Sie begann, zu zittern und sah sich unruhig um.
Von woher kam das? Sie musste es stoppen.
Da ihre Seele selbst aufs Wasser geprägt war, versuchte Salvia, ihr Mana so zu stimulieren, dass sie das Eis, welches sie umgab und das magischen Ursprungs war, zu manipulieren. Sie musste dazu ihre Augen schließen und alles um sich herum ausblenden.
… Doch so sehr sie sich auch konzentrierte, ihr Gegenspieler war stärker.
Panik stieg in Salvia auf, als sie mit aller Kraft versuchte, sich trotz des Eises zu bewegen. Vergebens. Ihre Gliedmaßen versteiften sich immer weiter und die Kälte brannte auf ihrer Haut. Inzwischen waren vor allem ihre Extremitäten betroffen, aber auch der Rumpf blieb nicht verschont. Das Eis breitete sich wie ein Virus immer weiter aus und drohte, mit dessen Kälte Salvias lebenswichtige Organe zu unterkühlen.
Ihr zittriger Atem beschleunigte sich, als sie angestrengt nachdachte. Wenn sie nicht auf der Stelle etwas gegen das Eis unternahm, würde sie unweigerlich sterben. Aber wie sollte sie das schaffen, wenn sie sich nicht auf ihre Kraft verlassen konnte? Wie nur …?
„Befreie ihn“, hörte sie eine Stimme, fordernd und mit unterschwelliger Wut behaftet. Widerwillig ließ sie das Wasser an Wallace platschend zu Boden gehen und sah zu, wie er, immer noch kniend, einige Reste dessen aushustete.
„Mélina, es reicht“, keuchte er und das Eis, das allmählich Salvias Hals erreichen wollte, löste sich in der Atmosphäre auf. Schwer atmend sackte sie zusammen und hielt sich den Brustkorb. Ihre Schmerzen waren zurückgekehrt und nahmen stetig zu. Am ganzen Körper zitternd saß sie da und konnte nur noch zusehen, wie Mélina hinter einem Baum hervorkam und mit wütendem Blick auf Salvia zuschritt. Wallace stand auf und stellte sich zwischen die beiden, um Mélina an ihrem Vorhaben zu hindern.
„Aus dem Weg, Vater“, forderte sie, doch blieb Wallace standhaft. „Sie wollte dich umbringen.“
Obwohl diese Annahme falsch war, konnte Salvia kein Wort dagegen rausbringen. Alles, was sie tun konnte war, Mélina mit perplexem Ausdruck anzustarren. Schließlich fand sie ihre Stimme wieder: „Du … hast rote Augen …“ Sie war sichtlich mit der Situation überfordert.
Die junge Frau schob sich an Wallace vorbei und kniete sich vor Salvia hin. „Offensichtlich. Und du auch.“ Ihr Blick war immer noch von Wut geziert.
Vorsichtig trat Wallace näher. „Nun … wenn ich richtig sehe, hättest du jetzt einen Grund, mir zu vertrauen. Theoretisch … Immerhin ist sie meine Tochter.“
„Hast du ihr das nicht früher erzählt?“, wandte sich Mélina zu ihm um.
„Das hätte sie sowieso nicht geglaubt, bis sie es gesehen hätte. Stimmt’s?“ Er blickte fragend zu Salvia und sie nickte stumm.
Mélina atmete tief ein und aus. „Du kannst dir sicher vorstellen, wie gerne ich dir jetzt eine verpassen würde. Aber dieses eine Mal lasse ich es dir wohl durchgehen. Lass es nur nicht zu einem zweiten Mal kommen.“ Ihr Blick sprach Bände.
Wortlos nickte Salvia. Sie wusste nicht, wie sie sonst darauf reagieren sollte.
Ihre Antwort erhalten, richtete Mélina sich auf und schaute abwartend zu ihrem Vater, der gerade damit fertig war, sich das Gesicht mit einem Ärmel trocken zu wischen.
„… Um also nochmal auf das eigentliche Thema zurückzukommen“, fing er etwas verunsichert an, „Wir können dafür sorgen, dass du eine neue Identität bekommst, mit der du sogar in Latis Fuß fassen könntest. Dort ist der Hauptsitz unserer Rebellion.“
„Latis …“, dachte Salvia nach. Latis, was war das nochmal für ein Ort …? Moment, seine Wortwahl war ‚sogar in Latis‘ …
„Seid ihr irre?!“, fragte sie geschockt, als ihr endlich einfiel, dass Latis die Hauptstadt war, „Wieso nicht gleich im Büro des Generals?!“
„Hey“, wollte er sie beruhigen, „es hört sich sehr riskant an, das weiß ich. Aber bedenke, dass Rebellium nun schon einige Jahre existiert. Wir hatten soweit keine Probleme.“
„Soweit“, wiederholte sie skeptisch.
„Wir passen sehr auf, damit wir unser Ziel letztlich erreichen. Es muss funktionieren. Es muss einfach …“ Wenn Salvia richtig lag, spiegelte sein Blick Ehrlichkeit, aber auch Sorge.
„Also“, fuhr er fort, „Was ist dein Ziel im Leben? Möchtest du dich nicht für deine, nein, für eure Freiheit einsetzen?“
„… Ich muss darüber nachdenken.“ Liebend gerne hätte Salvia sich nun mit Victricia abgesprochen, doch konnte sie ihre Comes nicht mehr hören, nachdem sie so viel ihres Manas verbraucht hat. Sie hasste es. Aber vielleicht wäre es sowieso besser, wenn sie selbst darüber nachdachte und eigenständig ihre Entscheidung fällte … Es wäre besser, denn es war ihr Leben.
Eine Rebellion. Jahre der Vorbereitung. Andere Antecessoris treffen. Ein neuer Anfang.
Wenn sie sich ihnen anschließe, hätte Salvia die Möglichkeit, sich ein neues Leben aufzubauen, ohne sich verstecken zu müssen. Dann hätte sie einen ordentlichen Neustart mit einer neuen Identität, von der sie nicht wüsste, wie sie sich die selbst aufbauen könnte. Das Risiko der Rebellion an sich erschien hoch. Aber gleichzeitig wäre sie, wenn sie Wallaces Worten Glauben schenken konnte, auf anderen Gebieten versichert.
Irgendetwas in ihr widerstrebte es, dies zu sagen, doch ihre Antwort lautete: „Meinetwegen … Aber wenn ich auch nur kleinste Ungereimtheiten feststelle, bin ich weg.“
Bei dieser Aussage lachte Wallace erleichtert auf und sagte mit gewohnt lauter Stimme: „Gut, gut, dann machst du bei uns mit! Und keine Sorge, wir haben nicht vor, Verrat zu begehen.“
Mélina schien sich inzwischen auch abgeregt zu haben. „Dann wäre das geklärt. Wir sollten nun zurück.“ Mit Zustimmung der beiden anderen machten sie sich auf den Weg zur Hütte.
Während ihrer Wanderung kam Salvia nicht drum herum, mit ihrem Blick immer mal wieder Mélina zu fixieren. Salvia fand sie schon vorher irgendwie mysteriös, aber jetzt, wo sie wusste, dass diese Frau ebenfalls eine Antecessoris war, kamen ihr noch mehr Fragen auf. „Wer ist eigentlich dein Comes?“, fragte sie schließlich.
„Ich habe keinen.“
„Du hast niemanden?“ Das verdutzte Salvia.
„Nein. Ich bin eine von denen, die mit niemandem eine Verbindung eingehen konnten.“
Als Mélina sah, wie Salvia sie weiterhin verwirrt anblickte, fragte sie: „Ist was?“
„Es ist mir nur neu, dass eine Antecessoris keinen Comes hat.“
„Das ist gar nicht so selten. Wie viele andere aus unserer Linie kennst du denn?“
„… Neben mir nur zwei.“
„Wen?“
„… Meine Eltern …“ Sie senkte ihren Blick und bereute fast, diese Fragerei begonnen zu haben.
Mélina reagierte nicht auf diese Reaktion. „Du wirst schon sehr bald ein paar mehr von uns kennenlernen.“
Salvia wollte es zwar nicht zugeben, aber ein wenig freute sie sich wohl darauf, andere ihres Klans zu treffen. Ein klein wenig.