Nervös schiele ich zu ihm hinüber und frage mich, wieso ich mich überreden lassen habe, mit meinem Exfreund spontan einen Film zu schauen. Mein Exfreund, der erst seit einigen Tagen mein Exfreund ist, weil ich im betrunkenen Zustand mit ihm Schluss gemacht habe. Es ist erniedrigend und peinlich, dass ich so sehr an ihm hänge und überstürzt auf seine Bitte hin zu ihm gefahren bin.
Jetzt sitzen wir auf seinem Bett und schauen eine Serie, zwischen uns liegt eine Schale Popcorn und eine einzelne Decke ist zwischen uns gespannt. Wie früher eigentlich. Wie vor diesem Ereignis vor gut einer Woche.
Es ist Ostern. Es gäbe schlimmere Möglichkeiten, diesen Tag zu verbringen und doch ist dies eine der angenehmeren Varianten. Nicht zuletzt, weil ich in den letzten Tagen versucht habe, unsere Beziehung irgendwie zu kitten und er hat sich im Gegenzug sehr abweisend verhalten. Was ich durchaus verstehen kann, weil er niemandem leichtfertig vertraut. Und dass ich mit ihm Schluss gemacht habe, weil er mich genervt hat, ist ein enormer Vertrauensbruch, so viel muss ich ihm eingestehen. Darum kämpfe ich auch um ihn, oder versuche es zumindest.
Heute redet er nicht so viel wie sonst und ist sehr in seine Gedanken versunken, aber er benimmt sich nicht abweisend. Es ist nur stiller als sonst und ich bin natürlich auch entsprechend zurückhaltend.
Schon als er mich an der Haustür in den Arm genommen hat, fiel es mir schwer, diese Umarmung zu erwidern und etwas steif stand ich da, legte schlussendlich doch meine Arme um ihn und sog diesen vertrauten Geruch in mich auf, den ich in der Zwischenzeit so vermisst hatte.
Als er mir am Freitag eröffnet hat, dass wir wohl zumindest Freunde sein könnten, war mir nicht klar gewesen, wie normal alles werden könnte, wenn ich es nur zuließe. Es war dennoch merkwürdig. Die Art, wie er mit mir sprach, total unbefangen und dieses Lächeln, das mich zum Schmelzen brachte, schenkte er mir nicht zum ersten Mal heute. Wir entschieden uns für eine Serie, die wir beide aus der Kindheit kannten und eigentlich hätte ich mich wohlfühlen müssen. Ich war rundum versorgt, zwischen uns schienen die Wogen geglättet zu sein und dennoch fühlte ich mich ein wenig verloren.
Die euphorische Stimmung von zuvor, als er mich spontan zu sich eingeladen hatte, war verflogen und dem seltsamen Misstrauen gewichen. Konnte er mich wirklich so schnell vergessen? War es so einfach, den Schalter umzulegen?
Natürlich habe ich diese Beziehung beendet, weil es mir alles zu schnell ging, aber selbst ich, die ja sonst immer nur mit den Männern gespielt hat, fühlt sich unwohl bei dem Gedanken, diese kurze Zeit so schnell und so leichtfertig wegzuwerfen.
Wir passen zueinander, nicht nur haben wir ähnliche Hobbys, Ziele und Wünsche. Wir ähneln uns gerade genug, um einander sympathisch zu finden und dann sind wir so verschieden, dass wir uns ergänzen. Obwohl ich Sam erst drei Monate kenne, ist mir so, als würde ich ihn mein halbes Leben lang kennen und bisher gab es nur wenige Menschen, die eine solche Anziehungskraft auf mich ausgeübt hatten.
Darum ist es auch nicht leicht für mich, einfach so hinzunehmen, dass alles vorbei ist. Natürlich klingt das bescheuert, weil ich ja diejenige war, die die Beziehung beendet hat, aber genau genommen kann ich mich aufgrund meines Rausches gar nicht mehr recht daran erinnern, was mich dazu beflügelt hat und es ist mir so unangenehm und peinlich, dass mein Kopf jegliche Erinnerungen vermutlich munter verdrängt und in regelmäßigen Abständen verbrennt, wenn ich gerade nicht hinschaue.
Sam holt mich aus meinen Gedanken, als er über eine lustige Szene lacht und munter Popcorn in sich hineinschaufelt. „Meine Güte, ich hab total vergessen, was der für geile Sprüche drauf hat“, sagt er und meint den Protagonisten. „Der war früher total mein Held.“ Ich grinse und aus Reflex lege ich meine Hand in seinen Nacken. So wie früher. Allerdings löse ich mich genauso schnell von ihm, so als hätte ich mich verbrannt. Er lässt sich nichts anmerken und schaut munter weiter.
„Willst du noch?“, fragt er und deutet auf das Popcorn. Ich schüttle den Kopf und er stellt die Schüssel auf den Boden. Jetzt ist da diese Kuhle zwischen uns, die ich nur allzu gern füllen würde. Aber ich trau mich nicht. Ich habe mich wie die größte Zicke aufgeführt und habe kein Recht, diese Zweisamkeiten einzufordern.
Es ist unangenehm, zu wollen aber nicht zu können.
Irgendwann versuche ich mich auf die Serie zu konzentrieren und ein paar Folgen später befinde ich mich trotzdem in seinem Arm. Irgendwann hat er einfach den Arm ausgestreckt, ist näher gerutscht und hat mich an sich gezogen. Wie früher. Hat mich seine definierten Muskeln spüren lassen, mein Gesicht an seiner Brust vergraben und einen Kuss auf meine Haare gehaucht.
Ich habe ihn nicht verdient, hatte ich auch nicht, als wir zusammen waren. Obwohl er älter ist als ich, hat er diese kindliche Naivität und diese Offenherzigkeit, die mir fehlt. Ich bin grüblerisch und misstrauisch veranlagt. Nur in Beziehungen ist das bei mir anders. Bei ihm übrigens auch. Es ist, als würden sich unsere Charaktereigenschaften umkehren, sobald wir in einer Beziehung sind. Dann ist er misstrauisch und ich hoffnungsfroh. Letzteres jedoch nur, wenn es jemand ist, an dem mir nicht besonders viel liegt.
Wie ich feststellen musste, ist das hier nicht der Fall. Irgendwie… bedeutet er mir doch mehr, obwohl ich noch nicht ganz mit dem Finger darauf zeigen kann, in welche Richtung das geht.
Seine Hand, die meinen Oberarm streichelt, fühlt sich gut an. Als würde er mich für all die Stunden, in denen er mich eiskalt ignoriert hat, besänftigen wollen und eine Art Wiedergutmachung damit bezwecken.
Es wundert mich, dass er mir überhaupt so nahekommt. Schließlich wollte er doch mit mir befreundet sein. Oder tun das Freunde neuerdings? Jedenfalls fühlt es sich so an, als wollte er seine Zuneigung ausdrücken.
In einem Versuch, das ganze zu begreifen, schmiege ich mich noch mehr an ihn. Weil ich seine Nähe brauche und mich das Gefühl von Verzweiflung überkommt. Es ist genau das, was ich will. Mit ihm Sonntagmorgen daliegen, alte Serien schauen und meine Hände über seinen Körper wandern lassen. Ihn küssen, ihm Frühstück ans Bett bringen. Ein seltsames flaues Gefühl breitet sich in meinem Körper aus und ich bin froh, dass er mich gerade nicht anschaut. Mein Gesicht ist heiß, ich spüre förmlich den Frosch in meinem Hals und ich schäme mich so abgrundtief, meine Rechte verwirkt zu haben.
Was hätte das alte Ich in diesem Moment wohl getan?
Vermutlich wäre ich auf seinen Schoß geklettert, hätte ihn von dieser grausigen Serie abgelenkt und geküsst, bis er anfangen würde, meinen Körper zu liebkosen, mit seinen zarten, feingliedrigen Fingern und seinen rosigen, weichen Lippen.
Wenn er nur meine Gedanken lesen könnte und wüsste, wie sehr ich mich nach ihm verzehre, obwohl ich ihm nicht das gebe, was er von mir erwartet hat, in jener Nacht. Vielleicht würde er dann wissen, dass diese drei Worte, die er unbedingt von mir hören will, bedeutungslos sind, weil ich ihm meine Liebe mit jeder Pore, jeder Berührung und jedem Kuss zeige.
Dann würde er wissen, dass er mir vertrauen könnte, auch nach diesem schrecklichen Streit. Aber ich bin zu stolz und gleichermaßen zu feige, um mir Gehör zu verschaffen. Ich will ihn küssen und sitze doch schweigend neben ihm, obwohl er mir entgegenkommt. Aber vielleicht ahne ich, dass es sein schlechtes Gewissen ist oder auch Gewohnheit. Ich möchte, dass er mir verzeiht, für meinen Fehltritt und dass ich eine Chance bekomme, ihm zu beweisen, wie viel er mir bedeutet, ohne unter seiner Erwartungshaltung einzubrechen.
Wenn ich ihm sagen würde, was er hören wollte, wäre es nicht echt. Mein ‚Ich liebe dich‘ wäre übereilt und aus Angst daher gesagt, obwohl es noch nicht so gemeint ist, wie es sein sollte. Und verurteilen kann ich ihn dennoch nicht, weil ich seine Bedenken verstehe.
Er hat Angst, dass ich nur mit ihm spiele, weil ich ihm meine düstere Vergangenheit offenbart habe. Dass ich Männer immer irgendwie zum Spielzeug degradiert habe. Davon habe ich ihm erzählt, als ich seine Avancen anfangs zurückgewiesen habe und versucht habe, ihm zu erklären, dass ich kein Beziehungsmensch bin.
Sam hat nicht lockergelassen und irgendwie habe ich mich doch zu ihm hingezogen gefühlt, hatte sogar an einem gewissen Punkt in meinem Leben das Gefühl, mir selbst im Weg zu stehen. Darum haben wir beschlossen, es langsam angehen zu lassen. Aber seine Liebesbekundung und die Frage, warum ich seine Worte nicht erwidern kann, haben mich wütend gemacht. So wütend, dass ich einen über den Durst getrunken habe, um dieser schrecklichen Falle zu entgehen. Und dann habe ich ihm gesagt, wie nervig er ist und wie kindisch. Das sind die einzigen Worte, die mir im Kopf blieben. Genau erinnern kann ich mich nach wie vor nicht daran und es ist vielleicht auch besser so.
Es hat keinen Sinn, darüber nachzudenken, was ich hätte besser machen können oder doch bleiben lassen sollte, schließlich ist der Schaden angerichtet worden.
Mein schlechtes Gewissen hält mich davon ab, ihm nahe zu kommen. So wie ich denke, dass er nur Mitleid mit mir hat, so fühle ich mich im gleichen Atemzug nicht wert, seine Zuneigung überhaupt zu verdienen.
Dennoch streichelt er mich und irgendwann spüre ich seine Lippen an meinem Ohr, leise flüstern, sodass ich nur ahnen kann, was er gesagt hat. „Wir sind Freunde“, sagt er. Und ich schlucke, weil ich verstehe.
„Ja", flüstere ich und habe das Gefühl, jeden Moment losheulen zu müssen. Weil es mir so vorkommt, als würde er mir das Herz aus der Brust reißen und darauf herumtrampeln, wie ein Elefant im Porzellanladen. Aber bevor ich überhaupt zu einem weiteren Gedanken fähig bin, hat er seine Lippen auf meine gepresst und mich geküsst.
Dass ich den Atem angehalten habe, wird mir erst ein paar Sekunden später bewusst, als er von mir ablässt und mit seinem Daumen über meine Wange streicht. Er schaut mich seltsam eindringlich an und ich kann es nicht wirklich zuordnen, aber in diesem Moment schlägt mein gerade noch so verletztes Herz in einem schnelleren Takt. Verwirrt bringe ich etwas Entfernung zwischen uns, schaue auf seinen Mund und auf das Lächeln, das in dessen Winkel liegt. Nochmal.
Ich hebe meinen Blick, schaue ihm in die Augen und versuche herauszufinden, was er da bitte schön plant. Ob das alles nur ein Test ist und er herausfinden will, ob ich nach seinen Regeln spiele. Aber was für ein seltsames Spiel ist das nun?
„Wir sind Freunde“, sage ich nun mit fester Stimme, weil ich keine Ahnung habe, wie ich sonst reagieren soll und lege den Kopf schief, um irgendeine Reaktion heraufzubeschwören.
„Wir sind Freunde“, bestätigt er. Seine Lippen finden meine und seine Finger vergaben sich in meinem Haar. Mit der anderen Hand umgreift er mich und zerrt mich mit einem Ruck auf seinen Schoß, als hätte er meine Gedanken gelesen und als wöge ich nichts. Und obwohl dieser winzige Gedanke in meinem Hinterkopf ist, dieses Schuldbewusstsein, verschränke ich meine Hände in seinem Nacken und spiele dieses perfide Spiel mit. Selbstgeißelung war schon immer genau mein Ding.
Jetzt gerade in diesem Moment versuche ich in seiner Zuneigung zu ertrinken, weil es so viel besser ist, als davonzulaufen und meine Sehnsucht zu verleugnen. Mich hinzugeben und einfach dem Lauf zu folgen, den er vorgibt. Er könnte mir keine schönere Erlösung in diesem Augenblick schenken, als diese, nicht darüber nachdenken zu müssen, dass wir Freunde sind.
Dass wir eigentlich keine Freunde sind, blendet mein Kopf vollkommen aus. Es ist eine Frage für später, eine, an der ich noch verzweifeln werde. Aber für den Moment genieße ich, wie mich diese verrückte Welle hinfort trägt und nichts anderes existiert, als er und ich, in diesem weiten Universum, wo wir mittendrin existieren, ohne Form und Richtung. Kein Gut, kein Böse, kein Schwarz, kein Weiß, einfach wir.
Einfach wir, in diesem Augenblick der Schwäche, den ich mir zugestehe, weil er mit seiner Zunge die Narben meiner Seele heilt.