Die Decke ist kalt, als ich mich im Schlafanzug auf mein Bett sinken lasse. Als ich eben meine Hose zur Seite legen wollte, fand ich in der Tasche noch diesen klein zusammengeschlagenen Zettel, leicht zerknittert, welcher mich seit drei Wochen unentwegt begleitet. Ich winkle meine Beine an und lege sie übereinander. Mein Atem geht langsam und für einen Moment schließe ich die Augen, dann falte ich das Papier langsam auseinander und streiche es auf meinem Kissen glatt.
Draußen ist es dunkel, die Laterne vor unserem Haus ist wie jede Nacht um Mitternacht wieder erloschen. In meinen Ohren habe ich Kopfhörer und höre wie so oft einfach zufällige Wiedergabe meiner Musik, während die restliche Wohnung schon von Schlaf und Stille erfüllt ist. Die kleine Lampe auf meinem Nachttisch leuchtet mir, so dass ich die unordentliche Bleistift-Schrift lesen kann. Auch kann ich mich gut an jenen Abend erinnern, von welchem ich so schöne Vorstellungen gehabt hatte.
Die ganze Woche hatte ich darauf hingefiebert, nicht nur Deinetwegen, sondern auch weil ich sie endlich kennen lernen wollte, aber als Du mir Bescheid gabst dass Du wegen Deiner Kopfschmerzen nicht kommen könntest, wollte ich auch nicht mehr hin. Doch absagen konnte ich nicht und trotz allem wurde es noch ein schöner Abend.
Meine Hände fahren über das Papier, in fetten Buchstaben steht am Kopf
"UNSERE LEIDENSCHAFT. UNSER ANLIEGEN. UNSERE FREUDE."
und am unteren Rand etwas kleiner der Firmenschriftzug.
Ich weiß noch wie ich eintrat, überall Menschen, meinen Blick suchend wandern ließ und er an ihr hängen blieb, wie an einer Leuchtreklame auf welcher groß ihr Name prangte.
Es war wohl ganz gut, dass Du nicht da warst.
Weil ich nicht allein gehen wollte, hatte ich Louis gefragt ob er schon etwas vor hätte. Was bin ich bloß für eine Memme.
Meine Finger wandern noch einmal über das cremefarbene Papier, bevor ich es in die Hand nehme und noch einmal lese.
"Ein Blick,
nur kurz gesehen
Und doch im Gedächtnis geblieben.
Wunderschön, natürlich.
Volles, braunes Haar, das in weiten Zügen ihr hübsches Gesicht unrahmte;
sanfte Lippen, ein strahlendes Lächeln;
klare Augen, definierte Brauen;
Leicht gerötet Wangen, vor Aufregung oder Freude, nur eine kleine Nuance Farbe auf der ebenen, hellen Haut.
Ein schöner Körper
Schlanke Beine enden in Stiefeln mit leichtem Absatz,
der wohlige Oberkörper in dem taillierten Kleid betont.
Eine freundliche, warme Stimme mit der sie spricht, etwas hoch, doch durchaus angenehm.
Nachdem ich eingetreten war, hatten meine Augen sofort nach ihr gesucht. Ich wollte sie wenigstens einmal sehen, hatte Angst sie könnte schon nicht mehr da sein. Doch tatsächlich stand sie dort, nur wenige Schritte von mir entfernt. Ich weiß nicht warum, doch obwohl ich sie noch nie gesehen hatte, habe ich sie sofort erkannt. Einen knappen Kopf war sie kleiner als ich und doch strahlte sie eine starke Präsenz aus.
Aber als sie mich ansah,
wie ich hier in der Türe stand und sie musterte,
ihre reine, gepuderte Haut,
das perfekte Äußere,
da schien sie für einen Moment unsicher. Als wolle sie mich einordnen - als kennte sie mich und wusste nicht, woher. Jedoch legte sie schon ihren Kopf zur Seite, schüttelte das glatte Haar.
Eine seltsame Melancholie erfüllte mich. Ich fühlte mich zu ihr hingezogen, wollte so unbedingt mit ihr sprechen, ihr näher kommen, mich mit ihr verstehen. Wollte andererseits einfach sein wie sie. Und gleichzeitig wollte ich hier einfach nur weg.
Ich drehte mich um und verließ, gefolgt von Louis der noch immer neben mir stand und mich verdutzt ansah, den Raum.
Sie ist wunderhübsch, was hätte ich anderes erwartet. Und obwohl ich gerade nur so schrecklich oberflächlich denke, kann ich Dich nun vielleicht ein bisschen besser verstehen.
Doch sie, sie weiß nichts davon.
Nichts von Deiner Liebe zu ihr
Und nichts von meiner Liebe
zu Dir."
Meine Hände zittern, als ich das Papier nehme und zum ersten Mal seit jenem Abend nicht wieder in einer Tasche meiner Kleidung verschwinden lasse.
Louis, der glücklicherweise mitgekommen war, hatte mich in einen anderen Raum begleitet, meine Gedanken waren jedoch gefangen. Ich benahm mich ihm gegenüber absolut unhöflich.
Er redete unentwegt und es schien ihn nicht zu stören, dass ich, über den Tisch gebeugt, hastige Worte schrieb. Als ich fertig war, riss ich das Blatt von dem Werbeblock ab und faltete es zusammen, steckte es in eine kleine Tasche meines Kleides.
"Was ist das?" fragte er.
"Ach .. Egal. Nur ein paar Worte, nichts weiter."
Und damit ließ er es auf sich beruhen.
Ich war so dankbar dass er gerade bei mir war und er mich über meinen Gedanken nach grübeln ließ, doch tat es mir leid ihn zum Mitkommen überzeugt zu haben und ihm jetzt mit meinen Alüren seinen Abend zu versauen.
"Wollen wir nicht wieder hineingehen?" fragte ich also und stand auf.
"Na, von mir aus gern, wenn Du es so möchtest" meinte Louis, bot mir seinen Arm an und grinste.
Ich schöpfe mit den Händen kaltes Wasser aus dem Waschbecken und schütte es mir ins Gesicht. Tut das gut, diese schneidende Kälte auf der glühenden Haut zu spüren. Der Text hat in mir bloß zu viele Erinnerungen geweckt und damit muss ich in dem Moment einfach irgendwie klar kommen. Kaltes Wasser ist eine gute Alternative.
Ich blicke auf, sehe mein Ebenbild im Spiegel an. Das rote Haar zu einem unordentliche Dutt geknotet, schmale, rissige Lippen, die Röte auf den Wangen, welche allzu schnell und bei jeder sich bietenden Gelegenheiten das ganze Gesicht befällt.
Meine Haut ist noch nass und das Wasser läuft in kleinen Tropfen und Rinnsalen an meinem runden Gesicht hinab, langsam haben sich Tränen hinzugemischt. Tue nichts, stehe nur mit den nackten Füßen auf den kalten Fliesen, meine Hand hält sich verkrampft an der harten, weißen Keramikbecken fest, und sehe mich in der funkelnden Scheibe an.
Mein Bauch zieht sich zusammen wenn ich an Dich denke und wie lang wir uns nicht sehen werden, ob es überhaupt gut ist, Dich sehen zu wollen.
Mir fällt so vieles auf, so vieles ein, das Dein Verhalten begründen könnte, und doch scheint nichts davon wahr. So vieles an mir, das Dir nicht gerecht wird.
Warum ist leben nur so kompliziert?
Es drängt mich, Louis zu wecken - einfach um mit jemandem reden zu können, doch ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es bereits nach drei Uhr nachts ist und das möchte ich ihm nicht antun. Ich kann nicht immerzu davon ausgehen, ich könne andere um Dinge bitten die ich selbst nicht täte, kann nicht andere Seiten an mir lieben verlangen, die ich selbst nicht mag. Ich habe es noch immer geschafft, solche Situationen allein zu lösen, das soll sich nun nicht ändern.
Wir werden uns lang nicht sehen, Du bist eine Woche mit ihr unterwegs. Ich weiß dass Du sie angeblich nicht mehr liebst. Ich weiß dass Du angeblich keine Chance bei ihr hast.
Doch ich kann mir nicht vorstellen, wie jemand Dich nicht lieben kann.
Ahh! Ich tus doch auch nicht, nicht auf diese Weise - oder? Warum ist das alles nur so kompliziert? Kann mir nicht einfach jemand Antworten geben, Erklärungen, mir sagen was das ist das ich fühle und wie ich damit umzugehen habe? Doch die einzige Person die dies vermögen könnte, bin ich selbst, mein kleines Herz das, unschuldig wie eh und je, pumpt und schlägt, mich am Leben erhält und mir zugleich eine solche Aufgabe stellt, mir so bitter melancholisches Glück serviert, das zu erreichen mir unmöglich ist. Es schweigt. Und auch Antworten von Dir wünsche ich mir, doch schweigst auch Du - in meiner Gegenwart. In ihrer hingegen, wird Wort zur Tat und Liebe füllt nicht bloß leere Sätze.
Ah, ich kann sie nicht vergessen. Sie ist überall in meinem Kopf, meinem Geist, vor meinen Augen, in meiner Vorstellung. Und das ist so irrwitzig von mir, so jeglich ohne Sinn. Nur wieder will der müde, kranke Teil in mir Vergleichen und vernichten, Ängste und Vorstellungen schüren, ein kleines Leid dass ich habe so riesig machen, dass die Schärfe des Wassers mir nicht ausreicht und ich tue wofür ich mich am meisten verabscheue.
Ich sitze auf dem harten Boden, im Rücken die kalte Heizung und mein Gesicht ist trüb, blickt anteilnahmslos geradeaus und weint stumm, mein Verstand schreit Nein!, doch die Hände tun womit sie meinem Körper Leid bereiten.
Müde greifen meine Finger nach einiger Zeit in dieser Stille zu den schwarzen, kleinen Kopfhörern und ich stecke sie mir in die Ohren, bei der Bewegung zuckt mein Arm zusammen. Stehe wieder, blicke traurig das Mädchen im Spiegel an, das denkt es würde nicht genug, und wasche das Blut von meinen Fingern.
Nach ein paar einzelnen Akkorden, das Schlagzeug hat auch wieder eingesetzt, singt Paul dazu, ich höre diese nüchterne Stimme und mir entfährt ein leises Schluchzen, ehe ich wieder Wasser in meine Hände laufen lasse und mein Gesicht hineintauche. Das bringt Klarheit. Und das will ich. Ich werde stark sein, das sage ich auch zu diesem blauen Augenpaar, das mich im Spiegel noch immer unsicher ansieht.
Etwas anderes hat dieses verdammt gute Leben, gar nicht von mir verdient.
"Und ich will Gute Zeiten, schlechte hatt' ich genug." schreit es in meinen Ohren mit dieser nostalgisch, sanften Stimme und auf meinem Gesicht zeichnet sich ein Lächeln ab.
Wie wahr, denke ich und beschließe mich nicht weiter in Selbstmitleid zu wälzen.
Beinahe hätte ich mitgesummt, als ich wieder in mein Zimmer eintrete. Lediglich der Umstand, dass ich Pflaster aus meiner Schublade nehmen muss, holt mich zurück in dieses harte Universum.
Ja, sie ist wahnsinnig schön, doch vielleicht ist Dein Verlangen nach ihr wirklich vergangen.
Ich werde morgen zum Frühstück Eierkuchen machen, für Louis und Marie, das haben sie mehr als verdient.
Und wenn ich Dich das nächste Mal sehe, wer weiß...
Vielleicht gelingt es mir, Dir zu sagen was ich in so vielen Gedichten über Dich schreib.
Oder vielleicht werde ich auch nur einen weiteren, 'wahnsinnig schönen' Tag haben, in diesem wahnsinnig schönen Leben.
Denn mit Dir ist alles (unglaublich) schön.
[So wie Du es bist]