Der blaue Mantel
Stichwort: Mantel (2020-02-14) [Fingerübungen]
„Hab ich dich!“, rief Sunil freudestrahlend, als er den blauen Stoff von Amars Patka – das Tuch, das er um seinen Kopf geschlungen hatte, um sein Haar zu verdecken – unter dem Treppenaufgang hervorblitzen sah.
Der stolze, junge Sikh, der schon bald Sunils Leibwächter sein sollte, blickte seinem kindlichen Herrn zerknirscht entgegen. Eigentlich hatte er geglaubt, dass er im Schatten der Treppe ein todsicheres Versteck gefunden hätte, dennoch hatte Sunil ihn ohne Probleme finden können. Entweder war der Fünfjährige über Nacht ein Meister im Versteckspiel geworden oder Amars Fähigkeiten ließen heute mehr als zu wünschen übrig. Nicht einmal zwei Minuten hatte es gedauert, bis der junge Prinz ihn gefunden hatte. Amar seufzte. Nicht weil er dieses Spiel gegen Sunil verloren hatte, sondern, weil er nun begriff, wie viel er noch lernen musste um seinen Herrn im Ernstfall wirklich beschützen zu können. Oder aber, ihm nicht ein Versteck zu suchen, das selbst ein Blinder finden würde.
„So ein Mist aber auch“, entfuhr es dem Zwölfjährigen, während er sich auf die untere Stufe sinken ließ und genervt die Wangen aufblies.
„Das ist der Grund, warum ich immer die Augen schließe, wenn ich mich verstecke“, teilte Sunil ihm breit grinsend mit, wobei seine leuchtenden blauen Augen schelmisch funkelten. Kurz überlegte Amar, aber im Gegensatz zu Sunils waren seine Augen fast schwarz und er war sich sicher, dass es besser war sie offen zu halten. Nicht auszudenken, wenn er sie schloss und etwas Wichtiges an ihm vorbeiging.
„Ich denke nicht, dass es an meinen Augen lag, dass ich verloren habe.“ Wieder seufzte er, aber schon bald schlich sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Das hier war kein Training mit seinem Vater, sondern ein Spiel mit Sunil, der sichtlich Spaß daran hatte seinen sonst so perfekten Leibwächter geschlagen zu haben.
„Nein“, gestand Sunil und grinste. „Aber an der Farbe deines Patkas.“
Verwirrt blickte Amar auf das verzerrte Spiegelbild im Geländer des Treppenaufgangs. Das Tuch, das er heute morgen ausgesucht hatte, hatte das gleiche leuchtende Blau, wie Sunils Augen. Es war sein Lieblingstuch, dennoch trug er es nicht oft, weil er Angst hatte die Farbe könne irgendwann verblassen. Wie er nun feststellen musste, war es auch äußerst unpraktisch, wenn man sich verstecken wollte. Das helle Himmelblau musste im Schlagschatten der Treppe einem waren Leuchtfeuer gleichgekommen sein. Hätte er gewusste, dass Sunil heute mit ihm verstecken spielen wollte, dann hätte er sich lieber ein schwarzes umgebunden.
„Jetzt bin ich dran. Ja?“ Quietschend vor Freunde fuhr Sunil auf dem Absatz herum und rannte den Gang hinab. „Du musst mich suchen. Aber erst zählst du bis eine Trillion!“
„Aber nicht in den Maschinenraum! Hast du gehört?“, rief Amar ihm hinterher. Er legte die Stirn in Falten, während er den jungen Prinzen dabei beobachtete, wie er den Gang der Nautilus hinabstürmte und weiter hinten mit einem wahnsinnigen Krach die gegenüberliegende Treppe hinauf polterte. Gut, dass das hier keine ernsthafte Situation war, den Sunil trampelte schlimmer als eine ganze Elefantenherde. Nein, Amar war sich sicher, dass die leiser gewesen wären als sein junger Prinz.
Grinsend stand er da. Dabei hätte er um ein Haar vergessen, dass er ja zählen musste, während Sunil sich ein Versteck suchte. „Eins“, zählte er laut und lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen die Wand. Bis zehn würde er zählen, auch wenn Sunil ihn nachher wieder tadelnd würde, dass das ja wohl keine Trillion sei. Seit einigen Wochen war der junge Prinz fasziniert von diesem Wort. Seit er begriffen hatte, dass eine Trillion anscheinend das Wissen seines Vaters begrenzte. Jedenfalls war das die Zahl gewesen, bei der Nemo das Spiel, das sein Sohn mit ihm begonnen hatte, zu dumm wurde. Nämlich stolz eine Eins schreiben und nach jeder zugefügten Null fragen, wie die Zahl denn nun hieße. „Neun, zehn“, rief Amar halbherzig. „Eine Trillion, ich komme!“
„Das waren zu wenige Nullen, für eine Trillion!“, schrie es irgendwo weiter hinten im Schiff. Nun war Amar zumindest schon mal klar, dass Sunil die Treppe rauf und direkt wieder runter gerannt war. Er befand sich also noch auf dem gleichen Deck.
Kopfschüttelnd lief er los. So oft hatte er Sunil gesagt, dass man leise sein musste, wenn man sich versteckt hatte, aber der Junge musste trotzdem zu allem seinen Senf dazugeben. Alles was Amar also tun musste war, dem nicht aufhörenden Kichern zu folgen. Dieses führte ihn direkt in den Frachtraum, wo es nur eine Frage von Minuten war, bis er den Jungen gefunden hätte. Jedenfalls hatte Amar sich das so gedacht, es konnte aber auch sein, dass …
„Amar! Amar! Sieh mal!“, rief Sunil aufgeregt und sprang wie ein kleiner Teufel aus einer Kiste. Genauso gut konnte es sein, dass Sunil mittendrin vergaß, dass sie gerade Verstecken spielten. Er wollte Sunil gerade darauf hinweisen, als er sah, was der Junge in der Hand hatte. Erschrocken wich er zurück.
„Was hast du denn?“, fragte Sunil verwirrt. Der kleine Junge hatte sich den viel zu großen, blauen Mantel über den Arm gelegt und näherte sich besorgt dem älteren Jungen, den er so bewunderte.
„Wo … wo hast du das gefunden?“ Amar war noch einer Spur blasser geworden, während er auf den blauen Stoff mit den glitzernden Verzierungen aus Edelsteinen deutete.
„Da in der Kiste“, beantwortete Sunil wahrheitsgemäß. „Er ist wunderschön und würde sogar zu deinem Patka passen. Aber leider ist er ganz schmutzig.“ Nun blickte der Junge traurig zu Boden. Nur zu gerne hätte er Amar in diesem wunderschönen Mantel, der eines Helden würdig war, gesehen. Aber mit diesen Flecken darauf ... Wahrscheinlich hatte man ihn nicht mehr sauber bekommen und irgendwer fand ihn dennoch viel zu Schade zum wegwerfen, weswegen er in der Kiste gelandet war.
„Oh Sunil“, seufzte Amar und nahm den kleineren Jungen nun doch den Mantel ab. Der junge Prinz wusste nicht, was er da gefunden hatte und Amar haderte kurz mit sich, ob er es ihm sagen sollte. Die andere Option war jedoch sich eine Geschichte auszudenken, warum ihn der Mantel so erschreckt hatte. Das hieß zu lügen und Lügen waren nie gut, das wusste Amar.
Andächtig ließ er sich in die Hocke sinken und breitete das Kleidungsstück auf dem Boden aus, als handele es sich dabei um ein heiliges Relikt. Irgendwie, war das auch so. Lange blickte Amar darauf. Suchte nach den richtigen Worte, die einem Fünfjährigen schonend klarmachen würden, worauf sie da blickten.
„Du weißt, dass du einen Bruder hattest?“, sagte er irgendwann tonlos. Er schaffte es dabei nicht, Sunil anzusehen. Die Erinnerungen kamen Amar so plastisch in den Sinn, dass er die abgestandene Luft des Tunnels wieder riechen konnte. Er fühlte wieder das Gewicht, dass Sunils kleiner Körper für ihn dargestellt hatte und die Angst, dass er sie beide nicht beschützen könnte, wenn man sie hier allein fand. Vor den Toren des Palastes stand ein Mob, der sie lynchen wollte, nur weil sie glaubten, das Baby in seinen Armen sei der Grund für ihr Leid, weswegen sie ihre Wut nun an der königlichen Familie auslassen wollten. Ravindras Schritte waren schon lange im Gang verhallt und auch die von Amars Vaters, der dem Kronprinzen hinterhergeeilt war, um den Jungen zurück und in Sicherheit zu bringen.
Damals – vor nun fast fünf Jahren – hatte Amar Ravindra zum letzten Mal gesehen. Den Prinzen, der hätte König werden sollen und sein bester Freund gewesen war, obwohl Amar das als Diener nicht zugestanden hatte. Jetzt war Ravindra schon lange tot und alles was von ihm geblieben war, war dieser Mantel.
Sunils Augen wurden groß, während er von Amar auf das Kleidungsstück und wieder zurück starrte. „Willst du sagen, dass da gehörte Ravindra?“ Mit zittrigen Fingern tastete er über den Stoff, jedoch stoppte er vor dem seltsamen braunen Fleck, den er vorhin noch so sorglos berührt hatte. Die Wahrheit darüber breitete sich in seinem kleinen Kopf aus, dennoch wollte er es nicht begreifen. Seine blauen Augen füllten sich mit Tränen, als er Amars leises Murmeln hörte. Es machte ihm Angst, weil der sonst so starke Junge vollkommen verloren wirkte.
„Er hat ihn getragen, an diesem Tag.“ Amars Stimme brach, während seine Augen sich fest auf den Mantel richteten.
Das war genug! Sunil fühlte eine Wut in sich, von der er nicht sagen konnte, wo sie plötzlich herkam. Aber er wollte Amar nicht so sehen. Amar war immer stark, er war immer für ihn da und Amar brach nicht. Kein Mantel konnte dies ändern. Zornig nahm er sich das Kleidungsstück, faltete es hastig zusammen und warf es wieder in die Kiste, dessen Deckel er schwungvoll zuwarf. Es knallte und erst das ließ Amar in die heutig Zeit zurückkehren. Sunil konnte sich nicht an seinen Bruder erinnern, doch wenn dieser Amar in diesen Zustand versetzte, dann sollte Ravindra bleiben wo er jetzt war: In der Vergangenheit!
Amar blinzelte. Der laute Knall hatte ihn herumfahren lassen. Erst jetzt begriff er, dass er sich in einer Art Trance befunden hatte. Er fühlte sich seltsam ertappt, als er Sunil ansah, aber da war noch mehr, was ihn verwirrte. Der kleine Junge schien sauer zu sein. Nur Amar wusste nicht wieso.
„Was ist los?“, fragte er daher.
„Ich habe keine Lust mehr Verstecken zu spielen!“, brach es meckernd aus ihm heraus. „Du findest mich viel zu schnell und das macht mir keinen Spaß!“ Schmollend verschränkte er die Arme vor der Brust und stampfte sogar mit den Füßen auf. Sunil sah deutlich die Verwirrung in Amars Augen, aber auch, dass es bereits in dessen Kopf arbeitete. Er suchte nach einem Weg seinen jungen Herrn zufriedenzustellen und schon bald hellte sich sein Gesicht auf.
„In Ordnung, dann … Hast du Hunger?“
Einige Sekunden ließ Sunil noch verstreichen, dann schielte er vorsichtig zu Amar, der nun bereits wieder lächelte. „Ja. Meinst du … Meinst du, du kannst uns Pfannkuchen machen?“
„Nichts leichter als das!“, entfuhr es dem älteren Jungen fröhlich, der die Kiste schon vollkommen vergessen hatte. Aber Sunil hatte das nicht. Während Amar schon mit beschwingten Schritten auf den Ausgang des Frachtraums zulief, musterte Sunil den Schatten über der Kiste. Vorhin hatte er sich noch darüber gewundert, aber nun wusste er genau, was er war.
„Nicht heute, Bruder!“, raunte er ihm zu. „Heute lässt du ihn in Ruhe!“