Der blaue Geist (Fortsetzung zu "Der blaue Mantel")
Stichwort: Geist (2020-01-28) [Fingerübungen]
Unruhig wälzte Sunil sicher herum. Er fühlte sich gefangen zwischen dem Zustand, der zwischen wach und schlafend herrschte. Kurz sah er den Ausgang des Ganzen vor sich. Sunil wusste, dass er einfach nur aufwachen musste. Die Decke beiseite schlagen, mit den nackten Füßen über den kalten Metallboden tapsen und nur eine Kabine weitergehen, in die seines Vaters. Er würde ihn trösten und die bösen Geister wieder vertreiben. Vielleicht durfte er sogar in seinem Bett weiterschlafen, angekuschelt an die warme Brust, die ihn schnell wieder in das Land der Träume schicken würde. Nur diesmal würden es besser Träume sein, die er besuchen konnte und nicht die verzerrten Finger der Vergangenheit. Noch nie hatte er darüber ein Wort verloren, obwohl er manchmal daran gedacht hatte sich Amar oder seinem Vater anzuvertrauen, aber die Dinge die er sah, waren zu beängstigend. Außerdem bezweifelte er, dass man ihm glauben würde.
Ein Schluchzen entwich Sunils Kehle. Er hatte es geschafft sich aus seinem Schlaf zu befreien, dennoch fühlte er keine Sicherheit. Ganz genau konnte er fühlen, dass ihm etwas gefolgt war. Sonst waren es nur diffuse Gefühle gewesen, aber heute spürte er, dass etwas anders war.
Sicher lag es an der Kiste, die er im Frachtraum gefunden hatte. Sunil war zwar erst fünf, aber auf der Nautilus gab es nicht viel zu tun, deswegen hatte er schon früh gelernt zu lesen, um all die fantastischen Welten in der Bibliothek seines Vaters besuchen zu können. Dort hatte er auch von der Box der Pandora gelesen. Vielleicht war die Truhe an diesem Nachmittag auch so etwas gewesen. Er hatte sie geöffnet und den Mantel seines toten Bruders herausgeholt. Was, wenn er nun noch mehr befreit hatte, als nur ein altes, verdrecktes Kleidungsstück?
Amar hatte der bloße Anblick beinahe in den Wahnsinn getrieben und nun waren überall diese Schatten. Ängstlich lugte Sunil unter seiner Decke hervor. Er wusste ganz genau, dass er nicht mehr allein war in seiner Kabine. An der Wand tanzten Schatten und Lichter, die gar nicht sein durften, weil es nichts gab, dass sie verursachte. „Licht“, flüsterte er, aber selbst dieses eine Wort hörte sich falsch an. Dabei war klar, was er machen musste: Er musste aufstehen und das Licht einschalten, damit die furchtbaren Schatten verschwanden. Die Lösung schien so einfach zu sein, dennoch war sein Körper völlig gelähmt.
„Hast du Angst, kleiner Bruder?“, hörte er ein leises Kichern. Einen spitzen Schrei ausstoßend zog Sunil sich schnell wieder die Decke über den Kopf und getraute sich kaum zu atmen. Mit klopfendem Herzen lauschte er, aber alles blieb still. Dennoch fiel es ihm schwer zu glauben, dass die Stimme nur ein Echo aus seinem Traum gewesen sein sollte. Aber um die Frage zu beantworten: Ja, er hatte Angst. Ziemlich große sogar. Deswegen beschloss er nun allen Mut zusammen zu nehmen und nach nebenan zu seinem Vater zu gehen.
Als er die Decke beiseite schlug, richtete sich sein Blick fest auf die Tür, durch die er gleich stürmen würde. Der Boden unter seinen nackten Füßen war eisig kalt, aber er ignorierte es tapfer und rüttelte an der Türklinke. Die Tür ging nicht auf, so sehr er es auch versuchte. Panisch blickte er hinter sich, wo die Schatten wieder begonnen hatten zu tanzen. Noch einmal riss er mit aller Macht an der Tür, aber sie bewegte sich kein Stück!
„Vater!“, schrie er, nun völlig blind vor Angst. Die Atemluft stieg in dicken Wölkchen vor ihm auf, während sich Eisblumen auf seiner Zimmertür ausbreiteten. Sie waren wunderschön anzusehen, daher blieb er kurz stehen, obwohl er wusste, dass er sich verstecken musste.
„Sunil.“ Die Stimme war nicht die seines Vaters. Außerdem hörte er sie direkt hinter sich. Mit einem weiteren Schrei fuhr er herum. Der Weg zu seinem Bett war abgeschnitten, daher ließ er sich fallen und krabbelte unter den Tisch, wo er sich zu einer kleinen Kugel zusammenrollte. „Sunil, wo bist du?“
Schritte tapsten über den Boden, kamen immer näher. Sunil war so darauf bedacht, kein Geräusch zu machen, dass er den Atem anhielt. Dann griffen die Hände nach ihm.
Ein Kreischen entrang sich seiner Kehle. Seine Stimme überschlug sich und dann setzte sein Verstand aus: Blind schlug und trat er um sich, aber die Arme zogen ihn immer enger in eine Umarmung.
„Sunil! Sunil!“, rief jemand. Langsam ging ihm auf, dass die Stimme nicht die des Jungen von eben war. Sie war tiefer, wärmer und versprach ihm Sicherheit. „Sunil, was ist los?“, fragte sein Vater besorgt. Mit Tränen in den Augen blinzelte Sunil. Sein Zimmer war nun hell erleuchtet, sein Vater trug Schlafanzug, Morgenmantel und nur einen Pantoffel. Er musste sich das alles schnell übergeworfen haben, weil einige Knöpfe falsch verschlossen waren und der Mantel schief an ihm hing. Sekunden später stürmte auch Amrit Singh mit erhobenem Säbel herein. „Was ist passiert?“, rief er aus und sah sich nach dem Bösewicht um.
„Sunil hat nur schlecht geträumt“, meinte Nemo und drückte seinen Sohn, der bitterlich weinte, fest an sich. Der Junge schüttelte heftig den Kopf und versuchte sich aus der liebevollen Umklammerung zu lösen.
„Nein! Es war kein Traum!“, begehrte er auf. „Er war hier! Ich bin mir ganz sicher!“
„Wer?“ Amrits Augen verengten sich, während er sich erneut umsah. Er ging sogar zum Kleiderschrank und öffnete ihn. Natürlich war er leer.
„Ravindra!“, flüsterte Sunil. Nemos Augen weiteten sich in Unglauben. Zunächst wollte er auffahren, weil der Schmerz über seinen längst verstorbenen Sohn viel zu schlimm war, aber dann gewahrte er seinen noch lebenden Sohn, der völlig traumatisiert war.
„Sunil, du hast schlecht geträumt“, versuchte er noch einmal seinen Jungen zu trösten. Auch Amrit sah mit einer Mischung aus Trauer und Sorge zu seinem jungen Herrn hinab. „Na komm“, meinte Nemo ruhig und hob den Fünfjährigen auf seine Arme. „Heute schläfst du bei mir.“
Sunil schlang seine Arme um den väterlichen Hals. Vielleicht war doch alles nur ein Traum gewesen? Er drehte den Kopf und blickte zu seinem Bett.
Dort lag der wunderschöne blaue Mantel.
Während sein Vater ihn hinaustrug, heftete sich sein Blick darauf und dann sah er wieder die durchscheinende Gestalt. Jetzt sah sie traurig aus.
„Geh nicht, Bruder“, flüsterte er. „Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich dachte nur, wir können spielen.“