Sixty Minutes Challenge
15.12.2021
Bernsteinorange
Leise schlich er durch die dunklen Gänge des Schiffes. Darauf bedacht, nur keinen Laut zu machen, setzte er vorsichtig einen Fuß vor den anderen und steuerte den Raum an, der zu so später Stunde sein Ziel war. Noch am Tag zuvor hatte er den Schiffskoch mit dem neu entdeckten Gerät gesehen und ihm war sofort klar gewesen, dass er jede Gelegenheit nutzen würde, um es im Schutze der Dunkelheit allein zu benutzen.
Ein glückseliges Lächeln lag bereits auf Amars Gesicht und er malte sich in bunten Bildern aus, wie das Ergebnis sein würde. Zwar hatte er am Tag erfahren müssen, dass es einige Zeit dauerte, bis er schließlich ein gutes Ergebnis in den Händen halten würde, aber das war es ihm dann doch wert.
Und das schöne war, heute Abend würde er mit keinem teilen müssen, wenn das Eis erst einmal fertig war. Er würde so viel davon genießen können, wie er wollte und kein Erwachsener würde ihm mit „du bekommst Bauchschmerzen“ kommen oder wie sein Vater, der ihm seinen strengen Trainingsplan vor hielt.
„Wo willst du hin?“
Die Stimme riss ihn unvermittelt aus seinen Gedanken, die sich nur noch um Eiscreme gedreht hatten und ließ ihn erschrocken herumfahren. Aber von seinem Vater oder gar dem Kapitän fehlte jede Spur – zum Glück. Stattdessen senkte er den Blick und starrte in ein paar tief blaue Augen, die ihn aus einem dunklen Gesicht heraus ansahen.
Amar schluckte, er war zwar nicht seinem Vater oder Kapitän Nemo auf den Leim gegangen, aber des Kapitäns jüngster Spross konnte ihm dann doch Probleme machen. „Ich ...“, stotterte Amar und zeigte hinter sich. „Ich konnte nicht schlafen und da dachte ich … ich gehe etwas trainieren.“
Sunil sah streng zu ihm hoch. Es war offensichtlich, dass der Siebenjährige hier versuchte seinen Vater zu imitieren und er war tatsächlich sehr erfolgreich dabei. Vor allem, weil das unnatürlich leuchtende Blau seinen Augen etwas stechendes gab.
„Aber ...“, begann Sunil und dabei konnte der Junge sein Grinsen nicht unterdrücken, „der Trainingsraum ist in der anderen Richtung und dort, wo du hin willst, kommt man nur zur Kombüse oder zum Maschinenraum. Du weißt, dass wir in letzteren nicht rein dürfen?“ Eine Augenbraue hob sich in dem kleinen Gesicht, noch unterstrichen von dem Zeigefinger, der sich ebenso in der Luft befand. Sunil bemühte sich, streng auszusehen, aber das Grinsen stand ihm schon in den Augen und der sieben Jahre ältere Amar schien auch nicht sonderlich beeindruckt. Dennoch ahnte Sunil, dass der etwas vor hatte und, dass er womöglich davon profitieren konnte.
„Natürlich weiß ich das“, fuhr Amar auf, besann sich dann wieder um seinen Ton und deutete eine kleine Verbeugung an. „Kann ich Euch helfen, Hoheit? Soll ich Euch einen Tee machen?“
„Tee, hm?“, machte Sunil, der nun breit grinste und dem größeren Jungen bedeutete, dass er sich zu ihm herabbeugen sollte. „Du wolltest zur Eismaschine, gib es zu.“
Für eine Weile sah es so aus, als würde Amar widersprechen oder mindestens zu dem Thema schweigen wollen, dann aber ergriff er Sunil am Handgelenk und zog ihn mit sich.
„Ist ja gut“, murmelte er dabei. „Du hast gewonnen. Ich wollte in die Kombüse.“
„Ohne mich?“ Anklagend lag der Blick der blauen Augen auf dem älteren. Amar und Sunil waren die einzigen Kinder auf diesem Schiff und sie pflegten alles zusammen zu tun. Nicht nur, weil Sunils Vater darauf bestand, dass er zu jeder Zeit von dem Jungen, der sein Leibwächter werden sollte, bewacht wird, sondern, weil es sich zu zweit einfach besser Quatsch machen ließ. Umso größer war jetzt die Enttäuschung, dass der ältere Junge die Eismaschine ohne ihn anwerfen wollte. „Natürlich nicht ohne dich!“, warf Amar ein, schob den Kleinen in die Kombüse und schon nach wenigen Minuten war die Zaubermaschine mit Früchten, Milch und Zucker gefüllt. Gebannt starrten die beiden darauf, wartend, dass die Anzeige erlosch und sie endlich den ersehnten Eisbecher genießen konnten.
Die Minuten zogen sich wie Stunden und immer wieder warfen sie sich kichernd einen Blick zu, die Süßigkeit in der Vorstellung schon schmecken könnend. Umso erfreulicher war es, als das leise Rauschen verstummte.
„Ist es fertig?“, flüsterte Sunil begeistert, aber ängstlich seine laute Stimme könnte einen Erwachsen herbei zaubern. „Ja“, raunte Amar zurück, holte zwei Schalen und füllte sie bis zum Überlaufen mit der cremigen, eiskalten Masse. Als Sunil nach seiner Portion greifen wollte, zog Amar sie jedoch weg.
„Hey!“, machte der jüngere Junge, sich des gemeinen Mundraubs gegenübersehend. „Ich dachte, wir teilen!“
„Tun wir auch“, erklärte Amar. „Allerdings habe ich bei dir eine Schuld offen.“ Damit nahm er eine Flasche aus dem Schrank und goss einen zähen Sirup, der in Bernsteinorange glänzte, über Sunils Eis. „Karamellsoße, so viel du willst, weil ich beinahe ohne dich Eis gegessen hätte.“