Schreibübung:
"Beschreibe einen Ort deines Wunsches, wie er sich vom 'guten' bzw. 'normalen' hin verändert zum entweder hocherotischen oder gruseligen Ort und auch wieder zurück."
Link in die Unterwelt:
https://belletristica.com/de/books/17338-ubungsbuch-unterwelt/chapter/63792-schreibubung-1-ort
"Homes and nightmares"
Entspannt stand er am Aussichtsfenster, während die Nautilus so sanft durch das Wasser glitt, dass man kaum merkte wie das majestätische Schiff sich bewegte. Es war einer der wenigen ereignislosen Tage ihrer sonst so abenteuerlichen Reise, die ihn veranlassten nun hier zu stehen. Aber leider bewegte es auch seinen Kopf dazu, sehr aktiv zu sein. Nemo ließ seinen Blick über die Brücke der Nautilus gleiten, die so viel mehr war als nur ein funktioneller Bereich. Sie war, wie der der Rest des Schiffes, eine Heimat.
Die Legenden mochten behaupten, dass die Weltmeere sein Zuhause waren. Aber es war das Schiff, das ihm und seiner Mannschaft Schutz gab. Ein Dach über dem Kopf, einen Platz zum Schlafen und vor allem Luft zum Atmen. Die Nautilus war sein Zuhause.
Aber hatte sie diesen Namen verdient? Bestand sie doch nur aus Metall, das sorgsam verschweißt und vernietet war. Belebt durch elektrische Leitungen, die jeden Befehl aus dem Kontrollzentrum in den noch so entfernten Teil des Schiffes leiteten. Wahrscheinlich hätte die meisten Menschen den Kopf geschüttelt bei dem Gedanken eingesperrt zu sein, in einem metallenen Bauch, der gut und gerne zu einem Sarg werden konnte. Aber so nicht er. Für ihn war das fantastische Schiff ein Ort der Zuflucht, der ihm Sicherheit und Hoffnung gab, wo keine mehr war.
Seufzend wandte er sich vom Fenster ab und ließ sich in einen der Sessel gleiten, die sich hier im hinteren Bereich, des größten Raumes des Schiffes, befanden. Der Kontrollraum war nicht nur das Gehirn des Schiffes, sondern auch der Platz, an dem sich die Crew zum Entspannen traf. Bei den ganzen technischen Gerätschaften mit denen der vordere Teil vollgestopft war, konnte man gar nicht glauben hier in einer Art Wohnzimmer zu sitzen. Zahlreiche Sitzgruppen, Bücherregale und sogar eine Bar machten es aber genau dazu.
Er konnte gar nicht sagen, warum er heute so müde war. Wahrscheinlich weil einfach zu wenig los war. Er war es gewohnt stets gehetzt zu sein. Hinterhalten auszuweichen und noch besser: der erste zu sein der Angriff, bevor es der andere konnte. Die Langweile der letzten Tage quälte ihn regelrecht.
„Du siehst erschöpft aus“, vernahm Nemo eine Stimme und blickte auf seine Hand gestützt auf. Das Glas mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit, das ihm gereicht wurde nahm er schweigend entgegen und nickte. „Gönn dir Ruhe; du hast es dir verdient.“ Dankbar blickte er den Mann, der sein Leibwächter und doch viel mehr ein Freund war, an und nickte abermals.
Er konnte sein Schiff rufen hören. Wie es ihn in Sicherheit wiegte und ihm klar machte, dass er sich fallen lassen konnte. Es würde ihn sicher tragen, bis er seine Kräfte wieder erneuert hatte. Zuverlässig sorgte es für die immer gleiche, angenehme Temperatur und das leichte Tuckern der Maschinen, das stets zu hören war, würde ihn bald in den wohlverdienten Schlaf lullen.
Vorfreude machte sich in ihm breit als er aufstand und auf die Tür zulief, die sich vor ihm öffnete, um ihn sicher in seine Kabine zu lassen, wo er sich für einen tiefen Schlaf in die Kissen fallen lassen würde. Er spürte bereits die Wärme, nur um im nächsten Moment ein eisiges Kribbeln seinen Rücken hinablaufen zu fühlen.
Die Gänge, die trotz des Metalls und den zahlreichen Kabeln und Leitungen an der Decke, einen heimischen Eindruck vermittelten, schienen sich plötzlich zu verengen. Die Wände mussten lebendig geworden sein und bewegten in böser Absicht auf ihn zu. Nemo blinzelte und rieb sich die Augen. Alles war wie immer. Anscheinend brauchte er die Ruhe dringender, als er gedacht hatte.
„Daddy?“, sagte eine Stimme irgendwo vor ihm. Er kannte sie, aber er hatte sie seit Jahren nicht gehört. Dennoch wunderte er sich nicht und machte sich auf die Suche nach seinem Besitzer. Mit jeden Schritt wurde es schwieriger voran zu kommen. Es war kalt! Warum war es nur so kalt?
„Wo bist du?“, rief er in den Gang, der seine Stimme verschluckte und dennoch nach wenigen Sekunden verzerrt zurückwarf. Erschrocken fuhr Nemo zusammen und blickte gehetzt hinter sich. Zuerst dachte er, dass etwas da gewesen war, aber als er angestrengt in die Dunkelheit blickte erkannte er nichts. Vermutlich war es nur das Echo seiner Stimme gewesen, vor dem er sich erschrocken hatte.
Aber, warum war es nur so dunkel?
Was war mit dem Licht los?
Hatte es einen Energieausfall gegeben? Aber er hörte weiterhin das Wummern der Geräte und spürte das leichte Vibrieren unter seinen Füßen. Es sollte hier eigentlich hell beleuchtet sein! Schwer atmend beschloss er zur Kommandobrücke zurückzukehren. Irgendetwas musste in diesen wenigen Minuten, in denen er abwesend war, passiert sein. Hastig fuhr er herum und prallte im nächsten Moment erschrocken zurück.
„Ah!“ Ein spitzer Schrei einer sehr jungen Stimme durchriss die stumme Dunkelheit des Flurs, sodass das Blut in seinen Ohren zu rauschen begann. Fluchend ermahnte Nemo sich zur Ruhe und seine Augen, die sich langsam an das fehlende Licht gewöhnten, suchten nach dem wimmernden Etwas.
„Sunil?“, rief er mit belegter Stimme. „Bist du hier?“ Als Antwort hörte er nur ein weiteres Schluchzen, aber es half ihm die richtige Richtung zu finden. „Keine Angst. Es ist nur ein Stromausfall. Es ist alles gut.“
Seine Stimme hatte einen zittrigen Klang und strafte sich selbst Lüge. Dennoch hoffte er, dass es reichen würde, um einen verstörten Fünfjährigen zu beruhigen. Die Gänge erschienen ohne Licht wirklich enger geworden zu seinen und mehr als einmal prallte er gegen eine Wand.
Eine kleine Hand griff nach seiner. „Da bist du ja, Sunil“, seufzte er erleichtert, nur um im nächsten Moment festzustellen, dass seine Hand leer war. Verwirrt schüttelte Nemo den Kopf. Er musste sich die Berührung nur eingebildet haben. Das Weinen vor ihm wurde nun wieder lauter, sodass er beschloss sein Schiff, dass ihn versuchte in die Irre zu führen, zu ignorieren.
„Er kommt mich holen, Daddy!“
Das Blut gefror in Nemos Adern und ein plötzliches Aufflackern des Lichts unterstützte diesen Effekt noch. Außerdem sah er nun wieder absolut nichts. Die Nautilus schien sich zwischen ihn und dem, was nach ihr am wichtigsten war – seinen Sohn – gestellt zu haben. Er war noch vor wenigen Minuten gegen etwas kleines, weiches gelaufen, dass ihn zum straucheln gebracht hatte. War das sein Sohn gewesen? Aber dann müsste er ja direkt in seiner Nähe sein.
Suchend tastete er sich weiter vor bis das schluchzende Atmen lauter wurde und er sich in die Hocke sinken lies. Vor ihm saßt ein kleines Bündel, von dem er nicht mehr sah, als ein Büschel schwarzen Haars und angezogene Knie. „Schon gut. Ich bin hier“, versuchte er ihn zu beruhigen, obwohl sein eigenes Herz ihm bis zum Hals schlug. Mit sanfter Gewalt löste er die kleinen Arme, die sich um den struppigen Kopf geschlungen hatten und nahm seinen Sohn auf den Arm. „Keiner tut dir was. Wir gehen jetzt auf die Kommandobrücke und dann ist gleich alles wieder gut. Das Schiff ist heute so zickig wie du manchmal.“
Als wollte sie ihm das beweisen, schüttelte sich die Nautilus plötzlich, als hätte ein Riese sie vor Wut durch das Wasser geschleudert. Mit einem erschrockenen Keuschen verlor Nemo das Gleichgewicht und prallte ungebremst gegen die Decke des Flurs, die plötzlich nicht mehr da war wo sie sein sollte. Ein ohrenbetäubendes Krachen und Knirschen erscholl und er erwartete das Metall brechen zu sehen. Nur um dann von Abermillionen von Tonnen Wasser zerquetscht zu werden. Falls es einen Unfall gegeben hatte und sie nun sanken wie ein Stein, dann hatten sie die Wahl durch das eindringende Wasser zu ertrinken oder vom Wasserdruck zerquetscht zu werden, wie eine Blechdose. Er musste auf die Brücke! Tun, was immer er noch tun konnte.
Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte er sich auf die Knie und blickte in die panischen, blauen Augen seines Sohnes. Es war so finster, dass das unnatürliche Blau in seinem dunklen Gesicht wie das Strahlen eines Leuchtturms erschien.
„Er kommt mich jetzt hole!“, flüsterte Sunil. Nemo konnte nicht sagen wie er es geschafft hatte, aber er stemmte sich auf die Füße und rannte mit seinem Sohn in die Richtung, aus der er vor wenigen Minuten – vor diesem Alptraum – gekommen war. Ein metallenes Reißen ließ den Boden erneut beben und mit Entsetzen sah er das Schott, dass sich direkt vor ihnen schloss. Nur wenige Meter! Sie würden es schaffen! Und doch …
„Warum hast du ihn genommen?“ Die Stimme ließ ihn abbremsen. Trotz aller Gefahr. Die Todesfalle, in die sich sein Schiff verwandelt hatte, war vergessen. Nur die Stimme, die es seit Jahren nicht mehr geben konnte existierte. „Warum nicht mich?“
Sein Kind an sich gepresst, drehte Nemo sich um. Sie waren gefangen. Die Schotts, die sich eigentlich nur bei Wassereinbruch schließen sollten, hatten ihnen jeden Fluchtweg versperrt.
„Wer ist da?“, rief er in die Dunkelheit hinein, obwohl er wusste, wem diese Stimme gehörte. Aber er musste in seiner Todesangst fantasieren. Anders konnte er sich das nicht erklären. Angestrengt und mit zusammengekniffenen Augen starrte er den Gang hinab. Aber alles was er sah, war das gegenüberliegende Schott.
„Warum?! Warum darf er leben?“, donnerte die Stimme wieder, gefolgt von einer Explosion. Funken sprühten. Unter das Zischen der austretenden Gase mischte sich Sunils angstvolles Wimmern und bald schon ihr qualvolles Husten. Die Nautilus – ihr Zuhause, ihre sichere Zuflucht – sie würde sie töten. Nicht irgendwann, sondern genau jetzt.
Hätte es nun Licht gegeben, hätte Nemo trotzdem die Hand vor Augen nicht gesehen. Die dichten Nebelschwaden und die Tränen, die in seine Augen stiegen, ließen ihn keinen halben Meter weit sehen. Es war das Ende. Sie hatte gewonnen – er würde sterben. Vielleicht hatte er sich zu sicher in ihrem Bauch gewähnt?
Eine Gestalt bewegte sich durch die Gaswolke auf ihn zu, aber seine Sinne waren zu betäubt um irgendetwas zu fühlen. Dennoch begehrte etwas in ihm auf, als er rau den Namen flüsterte, den er so lange nicht mehr auf die Lippen genommen hatte. „Ravindra.“
„Daddy! Daddy!“
Klare, frische Luft – so unglaublich kühl auf der Haut. Das und das wunderbare Gefühl wieder atmen zu können, war das Erste, was er vernahm. Und es war hell. Zwar schaffte er es noch nicht die Augen zu öffnen, aber das angenehme Glühen hinter seinen Lidern sagte ihm, dass es hell sein musste. Licht, das die bösen Schatten der Vergangenheit vertreiben würde.
„Daddy?“ Er kannte die Stimme. Wie würde er auch je diesen Klang vergessen können? Nach den vergangenen Erlebnissen, konnte er jedoch nicht glauben, dass sie so ruhig klingen würde. Nur Sorge schwang darin mit. Keine nackte Todesangst.
Aber bald schon stellte er fest, dass noch jemand hier sein musste. „Er kommt wieder zu sich“, sagte die zweite Stimme, die er bald als die seines Leibwächters identifizierte.
Als Nemo seine Augen öffnete, glaubte er sein Schiff in Trümmern vorzufinden. Aber weder die Sicherheitsschotts waren verschlossen, noch bewegten sich die Wände auf ihn zu. Die Gänge der Nautilus waren vollkommen intakt. Jedes Kabel und Rohr verlief da wo es sollte. Somit war das Schiff bereit, um jeden kleinsten Befehl auszuführen. Keine Nebelschwaden aus giftigen Dampf versperrte ihm die Sicht oder versuchte gar ihn umzubringen. Nein, wie er es schon als aller erstes wahrgenommen hatte, war die Luft vollkommen klar. Nicht einmal ein Schmutzkorn verunstaltete den Boden. Aber dennoch … Es war so real gewesen. Hatte er sich das alles nur eingebildet?
„Sunil?“, flüsterte er. „Geht es dir gut?“
„Das sagt gerade der Richtige!“, tadelte Amrit Singh ihn, während er seinem Kapitän aufhalf. „Sunil hat dich hier gefunden und mich zur Hilfe geholt! Du bist es, um den wir uns Sorgen gemacht haben! Ich hoffe, du hast nun eingesehen, dass es sich nicht lohnt 48 Stunden ohne Schlaf zu verbringen!“
Auf Amrits Schultern gestützt setzte er den Weg zu seiner Kabine fort und konnte nicht glauben, wie beängstigend die warmen und mit Licht gefluteten Gänge bis eben noch gewirkt hatten. Seine Kabine umfing ihn wie eine warme Umarmung und sein Bett war so weich, als hatte es beschlossen ihn nie wieder gehen zu lassen. Die Nautilus pflügte weiter zielsicher durch die Ozean dieser Welt und wiegte ihn dabei in einer sicheren Heimat in den Schlaf.
-Ende-