Anmerkung:
Hier eine kleine Story für diese Sammlung, die absolut nicht unterweltisch ist, aber die Idee kam spontan und wollte aufgeschrieben werden. Wobei, wenn ich mir Vorstelle, dass ich noch so viel zu Sunil und Amar als Erwachsene schreiben will, ist es fast komisch sie als unschuldige Kinder zu schreiben. ^^'
Das nächste Kapitel wird dann wahrscheinlich wieder einer Schreibübung angehören.
Ein neuer Freund
Die Schritte hallten über den Metallboden und allein an ihrem Klang erkannte Sunil, um wen es sich handelte. Ja, er erkannte sogar in welcher Gemütsverfassung sich der Verursacher des Lärms befand. Amar Singh war in absolut gelöster Stimmung. Man konnte auch sagen, dass er bei bester Laune war, denn er machte sich nicht im Geringsten die Mühe sein Herannahen zu verschleiern. Und gerade dabei war er beinahe unschlagbar. Immerhin würde der gerade einmal zwölfjährige Junge dem Beispiel seines Vaters folgen und ein Beschützer des Prinzen werden. Diese Aufgabe nahm er jetzt schon vollkommen ernst, das hieß, bis Sunil ihn zum Spielen aufforderte und er war, was er eben war: ein Kind.
Dann nahm er schon mal gar keine Rücksicht auf Sunils Titel und schlug ihn fast in jedem Spiel, das der kleine Prinz vorschlug. Aber wer wäre Sunil gewesen, wenn er deswegen auf Amar böse gewesen wäre? Sunil liebte es mit Amar zu spielen, auch wenn das hieß, beim Verstecken sofort gefunden und beim Balgen immer den Kürzeren zu ziehen.
Nur zu gerne hätte Sunil gewusst, was Amar in solch eine Aufregung versetzt hatte. Aber noch viel reizvoller war die Idee, dass dieser ihn erst einmal finden musste. Vielleicht würde Sunil heute triumphieren und seinen Leibwächter im Verstecken spielen schlagen? Immerhin wusste Amar noch nicht, dass sie spielten. Einen kleinen Vorsprung durfte er sich doch erlauben, dachte Sunil und presste sich im letzten Moment eine Hand vor den Mund. Fast hätte er vor Freude gekichert.
„Sunil?“, erklangt die Stimme hoffnungsvoll und mit solcher Vorfreude, dass der Fünfjährige beinahe fröhlich aus seiner Deckung unter der Treppe gesprungen wäre. Aber heute war er besser und rollte sich zu seinem kleinen Ball zusammen, der in den Schatten verschwand. Seine dunkle Haut und die schwarzen Haare würden ihn schon tarnen. Aber er musste die Augen zumachen, mahnte der kleine Junge sich im Stillen. Seine tiefblauen Augen würden ihn sonst verraten. Sagte doch sein Vater immer, sie würden, wie das Licht eines Leuchtturms, seine Welt erleuchten. Nein, wenn er gewinnen wollte, dann sollten seine Augen jetzt nicht so hell strahlen. Und da er das einfach nicht beeinflussen konnte, musste er sie eben schließen. So einfach war das.
„Sunil?“, rief Amar wieder und dann versuchte er es sogar mit seinem offiziellen Titel. Aber Sunil gab nicht so viel darauf, als dass er bei 'seine königliche Hoheit Prinz Sunil' einfach aus seiner Deckung spaziert wäre. Nein, da musste Amar sich schon mehr anstrengen. „Hm? Du willst wohl nicht mit auf Landurlaub?“ Amar seufzte enttäuscht und erzählte dann von Bäumen und Sandburgen. Obwohl Landurlaub schon reichte, um Sunils Herz höher schlagen zu lassen. Er konnte an seinen Fingern abzählen, wie oft das vorkam und hörte sonst von Bäumen, Wiesen und Sand – ja gar von der Sonne – nur aus Büchern. Die zumindest konnte er seit einem Jahr aber schon alleine lesen. Das war das Gute daran, dass sein Vater verlangte, dass er so viel lernte. Aber bei all der Langeweile tat Sunil das schon freiwillig. Trotzdem gab es nichts Schöneres, als wenn Amar ihm spannende Geschichten vorlas. Doch, so etwas gab es: Richtige Abenteuer mit Amar zu erleben, war um Längen besser.
„Wann? Wann?“ Aufgeregt lief der kleine Junge nun doch aus seinem dunklen Platz unter der Treppe hinaus und sprang ungeduldig vor dem älteren auf und ab. Mist! Nun hatte er doch vergessen, dass er diesmal der Gewinner des Versteckspiels sein wollte. Aber wenn er es genau nahm, dann hatten sie ja gar nicht gespielt und er würde ihn noch immer auf der Insel beim Sandburgbauen besiegen.
Amar Singh lächelte ihm verschwörerisch zu und ließ sich dann zu Sunil auf die unterste Treppenstufe sinken. Als er sprach senkte er die Stimme zu einem leisen Flüstern. „Ich habe unsere Väter belauscht“, gab er stolz zu. „Und sie sagten, dass wir in 12 Stunden eine verlassene Insel anlaufen und dann zum Vorräte sammeln an Land gehen werden.“
Aus großen Augen sah Sunil seinen Leibwächter in Ausbildung an. „Und dein Papa hat dich dabei nicht erwischt?“ Es war unwahrscheinlich, dass Amrit Singh etwas entging was unter seiner Nase oder hinter seinem Rücken passierte. Was Amar schon gut beherrschte, konnte Amrit schon längst.
„Doch“, gab Amar kleinlaut zu. „Aber ich habe ihn direkt gefragt, ob wir mitdürfen. Papa hielt das zunächst für eine ausgesprochen schlechte Idee, aber ich konnte ihn überzeugen. Naja, das heißt Kapitän Nemo hat es erlaubt. Als Übung für mich, um auf dich aufzupassen.“
„Ich werde dir sicher keinen Ärger machen!“, rief Sunil glücklich und fiel dem Jungen, den er so bewunderte um den Hals. Amar war, wie sein Vater, ein Sikh und sicher würde er auch stark und unbesiegbar werden. Ähnelte er Amrit Singh an Stolz und Zuversicht doch jetzt schon sehr. Mehr als einmal kam es vor, dass Sunil, der der Sohn einer Königsfamilie war, Amar heimlich aus ehrfürchtigen Augen bewunderte.
„Ich freu mich drauf!“, rief Amar überschwänglich und sprang energiegeladen auf die Füße. „Dann hole ich dich später ab!“
Mit federnden Schritten war Amar bald um die nächste Ecke verschwunden, aber Sunil stand noch eine Weile da und malte sich in Gedanken den Spaß aus, den sie beide später haben würden.
Es fiel ihm äußerst schwer sich zu konzentrieren und dabei wollte er seinen Vater eigentlich nicht verärgern. Nicht das dieser auf die Idee kommen würde, er hätte den Ausflug auf die Insel nicht verdient. Sein Vater war nie unfair, aber wenn es um Sunils Bildung ging, verstand er nur wenig Spaß. Das war zuweilen anstrengend und öde, aber der kleine Junge fuhr besser, wenn er sich anstrengte und dem Vater so keinen Grund zur Sorge gab. Aber heute wollten ihm die Lösungen zu den sonst machbaren Multiplikations- und Divisionsaufgaben einfach nicht einfallen. Zehn Stück waren es nur und erst bei einer hatte er, mit unsicheren Strichen, ein Ergebnis hin gekritzelt.
„Bist du fertig?“, fragte sein Vater nach einer halben Stunde, in der Sunil fast die Augen zugefallen wären. Müde stützte dieser den Kopf in seinen Händen ab und gab nur ein Brummen von sich, das so gut wie alles bedeuten konnte. Hinter Sunils Stirn tat es schrecklich weh und nun merkte er auch, wie das Schlucken immer beschwerlicher wurde. Er hoffte daher, dass das Brummen seinem Vater als Antwort reichen würde.
„Sunil? Hast du deine Aufgaben fertig?“, wiederholte sein Vater geduldig. Doch die einzige Reaktion, die er bekam, war ein lautes Niesen gefolgt von einem langgezogenen Schniefen. Bevor sein Vater das 'Gesundheit' auch nur komplett ausgesprochen hatte, bahnte sich schon der nächste Nieser in die Freiheit. Und das nicht, ohne Sunils Kopf noch mehr zu quälen.
Sunil blickte betreten auf seine Aufgaben hinab. Es war ihm heute unmöglich diese zu lösen und er hoffte, sein Vater würde es ihm nicht übelnehmen. Scharrend wurde ein Stuhl zurückgeschoben, aber die Schritte auf dem Metallboden hörte Sunil kaum. Im nächsten Moment legte sich eine angenehm kühle Handfläche auf seine Stirn, während eine andere Hand das Aufgabenblatt weit von ihm wegschob.
„Du hast ja Fieber!“, teilte sein Vater ihm besorgt mit, aber Sunil schüttelte trotz der Kopfschmerzen energisch den Kopf. Nein, nein, bloß kein Fieber! Er wollte doch den Nachmittag mit Spielen im feinen Sand einer karibischen Insel verbringen und nicht an Bord der Nautilus, wo sein Vater ihn nicht aus dem Bett lassen würde!
Aber es kam, wie es kommen sollte. Nachdem sein Vater ihn mit einem Fieberthermometer im Mund ins Bett gestopft hatte, schlug auch bald der Schiffsarzt bei ihm auf und zwang ihn eine ekelige Brühe zu trinken. Tränen der Wut und der Dickköpfigkeit stiegen Sunil auf und als Amar kam, um ihn abzuholen, fiel er ihm schluchzend um den Hals.
„Ich will aber mitkommen!“, weinte Sunil lauthals heraus und klammerte sich um den älteren Jungen, der ihm beruhigend über den zerzausten Kopf streichelte.
„Aber das geht nicht“, erklärte Amar streng, obwohl auch er darüber traurig war, dass aus ihrem Abenteuer nicht werden und er die Insel alleine unsicher machen würde. Aber er hatte natürlich eine Verantwortung gegenüber dem jungen Prinzen. Die bedeutete nicht nur ihn vor allen möglichen Gefahren zu beschützen, sondern auch, dafür zu sorgen, dass es ihm an nichts fehlte. Und zurzeit fehlte ihm Gesundheit. Daher war es Amars Pflicht Sunil davon zu überzeugen im Bett zu bleiben und sich auszuruhen, bis es ihm besserging.
„Aber das ist so unfair!“, rief der Kleine verzweifelt heraus und Amar musste sich schnell etwas einfallen lassen, sonst würde er womöglich noch einknicken und den Jungen auf seinem Rücken über die Insel tragen.
„Ich weiß.“ Traurig spielte der junge Sikh mit dem dünnen, eisernen Armreif an seinem rechten Handgelenk, als ihm die zündende Idee kam. „Kannst du etwas Wichtiges für mich tun?“
Aus großen Augen, die stets jeden in seinen Bann zogen, blickte Sunil Amar entgegen. Es gab etwas, was er für Amar tun konnte? Der kleine Sunil für den starken Amar? Aufgeregt nickte er, auch wenn sein Kopf sofort wieder heftig schmerzte.
Der Junge war Feuer und Flamme, während sich auf dem Gesicht des älteren ein Ausdruck der Verlegenheit Platz machte. Eigentlich war es eine Unverschämtheit von ihm, den Prinzen um einen Gefallen zu bitten, aber er wusste wie viel Sunil an ihrer Freundschaft lag.
„Was ist es, Amar? Was? Sag schon.“ Aufgeregt rutschte Sunil in seinem Bett herum, bis der junge Sikh sich endlich wieder regte und den Armreif von seinem Handgelenk zog.
„Hier“, hörte Sunil Amar sagen und nahm zögernde den metallenen Ring entgegen. „Ich habe Angst ihn auf der Insel zu verlieren. Kannst du darauf aufpassen? Und wenn ich etwas Schönes sehe, bringe ich es dir zur Belohnung mit.“
„Aber ...“ Sunil betrachtete ehrfürchtig das kühle, metallene Schmuckstück. Er konnte nicht glauben, dass Amar es einfach so ablegte und ihm in die Obhut gab. Immerhin handelte es sich dabei nicht nur um irgendeinen sinnlosen Tand, sondern um ein wichtiges Symbol aus Amars Glauben. Es gehörte ebenso wie der Patka, das Tuch unter dem er sein Haar in einem festen Knoten gebunden verbarg und das er schon bald gegen einen prächtigen Turban tauschen würde, zu ihm und dass er das einfach so ablegte war unvorstellbar. Ernst und nicht minder vor Stolz blickte er Amar an. „Ich werde gut darauf Acht geben!“, versprach er und schob sich den Reif über den dünnen Arm. Er war meilenweit davon entfernt, dass dieser ihm passte und er konnte ihn sich bis zum Oberarm hochschieben. Dennoch würde er ihn nicht eine Sekunde ablegen, denn sein Versprechen war ihm heilig und da verstand er auch keinen Spaß.
Obwohl Sunil nun so stolz wegen dieser Aufgabe war, schaute er Amar dennoch wehmütig hinterher, als dieser seine Kabine verließ. Er – Sunil – hatte vielleicht eine ehrenvolle Aufgabe, aber Amar eindeutig den meisten Spaß.
Der Tag verging in Schüttelfrost, Hitze und Kälte, in der ihm das kühle Metall beinahe wie Eis vorkam. Vielleicht dachte Sunil ein oder zwei Mal daran ihn abzulegen, tat es aber tatsächlich nie. Wenn ihm dann der Ring verloren ging, würde er sich das nie verzeihen können und er wollte Amar nicht enttäuschen. Unruhiger, von Alpträumen geplagter Schlaf wechselte sich mit traumloser Schwärze ab und irgendwann wachte er mit nasser, am Körper klebender Kleidung auf. Da sein Vater auf der Insel war, um die Beschaffung der Vorräte zu überwachen, war es der Arzt, der ihm in frische Kleidung half und ihm schon wieder die Ekelbrühe andrehte. Diesmal war der Schlaf erholsam und als Sunil aufwachte, fühlte er sich so klar und ausgeruht wie lange nicht mehr. Noch einmal wälzte er sich in der Dunkelheit herum, aber der Schlaf kam nicht zurück. Erfasst von einer instinktiven Unruhe oder einfach deswegen, weil er zu viel geschlafen hatte.
Das Klopfen war kaum zu hören gewesen und eigentlich war es auch mehr ein Scharren an seiner Tür. Sunil hätte es fast überhört und einfach für ein verzerrtes Motorengeräusch der Nautilus gehalten. Angestrengt durchblickte Sunil die Dunkelheit.
Seine Tür öffnete sich einen Spalt breit, wodurch ein fahler Silberstreifen in sein Zimmer fiel. Im nächsten Moment steckte Amar den Kopf durch die kleine Öffnung und grinste breit. Dennoch wirkte er seltsam gehetzt und warf noch einmal einen Blick auf den Gang zurück, bevor er ganz in die Kabine schlüpfte und die Tür geräuschlos verschloss. Sunil wollte etwas sagen, aber ein schnelles 'Scht' und ein besorgtes Kopfschütteln seitens Amar hinderte ihn daran.
„Was ist denn los?“, flüsterte Sunil, als Amar an seinem Bett angelangt und sich auf die Bettkante gesetzt hatte. Erst jetzt bemerkte er, dass Amar ein kleines Bündel in der Hand trug, welches er immer wieder sorgenvoll anblickte. Die Freude in Sunil wuchs. Darin musste sich das befinden, was Amar auf der Insel gefunden und ihm nun mitgebracht hatte.
„Ich habe gut darauf Acht gegeben“, teilte Sunil dem jungen Sikh daher mit und reichte ihm seinen Armreif zurück. Bedächtig nahm dieser ihn wieder an sich und die Ungeduld steigerte sich ins Unermessliche, als Amar immer noch kleine Anstalten machte ihm endlich zu zeigen, was er bei sich hatte. „Was ist da drin?“, fragte Sunil daher. Nur für den Fall, dass Amar es vielleicht vergessen hatte.
„Es ist unser Geheimnis. In Ordnung?“, fragte Amar verschwörerisch. Wobei es nicht wirklich eine Frage, als mehr eine Feststellung war. Sunils Verwirrung wuchs immer mehr. Was in drei Teufels Namen hatte Amar da mitgebracht, dass er so ein Theater darum machte? „Ich konnte es gerade so an meinem Vater und Kapitän Nemo vorbeischmuggeln.“ Er schwieg kurz und sah mich ernst, aber auch aufgeregt, an. „Aber auf keinen Fall konnte ich es dalassen. Zwar wusste ich erst nicht was es frisst, aber mit einer kleinen Flunkerei konnte ich das beim Schiffsarzt herausfinden.“
Amar schlug nun die dünne Decke zurück und Sunil staunte nicht schlecht, als er das kleine Etwas erblickte. Seine Augen wurden groß vor Freude, auch wenn er sich nicht sicher war, was er da vor sich hatte. Das Tier musste noch recht jung sein. Es hatte grauweißes Fell, das an seinem Rücken mehr ins Schwarze überging und schließlich an seinem Schwanz lustige, schwarze Kringel bildete. Außerdem trug es eine witzige schwarze Maske im Gesicht und sah mit der Stupsnase einfach zu süß aus.
„Was ist das?“
„Ein Waschbär“, erklärte Amar. „Ich hab ihn bei seiner toten Mama gefunden und er ist noch so klein, also habe ich ihn mitgenommen. Vater hätte es sicher verboten. Daher habe ich es heimlich getan.“
„Ein … Waschbär?“, wiederholte Sunil belustigt über diesen Namen, aber er begann jetzt schon dieses kleine Wesen in sein Herz zu schließen. Teilten sie doch irgendwie ein Schicksal. Auch seine Mutter war tot und er konnte sich den Schmerz dieses kleinen Wesens nur zu gut vorstellen. Auch er war noch so klein gewesen, als es passierte. „Darf ich es halten?“, fragte Sunil hoffnungsvoll und blickte Amar mit großen Augen an. Vorsichtig reichte der ihm die Decke und Sunil Herz machte einen Hüpfer, als das kleine Wesen sich vertrauensvoll in seine Armbeuge kuschelte.
„Du kannst echt gut mit Tieren. Er scheint dich wirklich zu mögen“, gab Amar erstaunt zu. „Willst du ihm vielleicht einen Namen geben? Ich denke, er braucht einen. Wir können ihn nicht die ganze Zeit nur Waschbär nennen.“
„Hm, aber Waschbär hört sich doch süß an?“, überlegte Sunil laut. Ja, Waschbär war eindeutig der lustigste Name, den er je gehört hatte. Belustig zuckte Amar mit den Schultern und sah sich suchend in der Kabine um.
„Waschbär also?“ – Sunil nickte freudig – „Also, wir brauchen ein Versteck für Waschbär, wenn unsere Väter hier aufkreuzen.“
Befreit vom Fieber und durch seinen neuen Freund mit bester Laune beseelt, sprang Sunil aus dem Bett und schüttelte eine kleine Schachtel mit Spielzeugen aus. Dann packte er die kuscheligste Decke hinein und ließ Waschbär darin probesitzen. Der Kleine schaute ihn aus großen Augen an und man konnte es in seinem Köpfchen rattern sehen.
„Keine Sorge, Waschbär. Da musst du nur rein, wenn mein Vater kommt. Sonst schläfst du natürlich bei mir im Bett!“ Waschbär würde versuchen jedes Wort zu verstehen, das er sprach – da war Sunil sich sicher. Und deswegen war es auch nicht verwunderlich, dass er alles mit ihm besprechen würde. Seine Augen leuchteten; jetzt hatte er zwei Freunde. Amar und Waschbär.
„So, erschrick dich jetzt nicht. Wenn Vater kommt, musst du kurz hier runter“, erklärte Sunil dem kleinen Tier und schob ihn mitsamt der Kiste unter sein Bett. Seine Bettdecke tat sein Übriges damit man nicht so leicht darunter blicken konnte. So sollte es gehen, dachte Sunil. Dennoch bereitete es ihm etwas Bauchschmerzen, was sein Vater sagen würde, wenn er Waschbär doch entdeckte. Aber so schnell würde sein Vater es sicher nicht bemerken und Sunil bezweifelte, dass er wegen einem Waschbären das Unterseeboot wenden und die Insel erneut ansteuern würde.
„Kümmer dich gut um Waschbär“, meinte Amar und reichte Sunil noch ein paar Stücken Brot und Käse. „Ich muss nun gehen. Vater wollte noch irgendetwas von mir.“
Überschwänglich nickte Sunil und reichte Waschbär, der sich halb unter seinem Kissen eingerollt hatte, ein kleines Käsewürfelchen. Das Tier machte große Augen und näherte sich dann äußerst skeptisch dem Leckerbissen. Amar lachte, verabschiedete sich dann für den Abend und verließ die Kabine.
Fasziniert und überglücklich beobachtete Sunil Waschbär und das erste Mal an diesem Tag fand er es gar nicht schlimm, dass er mit Fieber im Bett gelegen hatte.
„Vielleicht hätte Amar dich gar nicht gefunden, wenn ich dabei gewesen wäre?“, erzählte er Waschbär, der ihn aus noch größeren Augen anblickte und zaghaft am Käse nagte. Es klopfte an der Tür, die danach direkt geöffnet wurde. Sunil beachtete das Geräusch gar nicht weiter. Sicher nur Amar, der doch noch etwas vergessen hatte.
„Amar! Waschbär hat Käse gegessen!“, rief Sunil freudig aus und wirbelte herum. Nur um im nächsten Moment mit offenem Mund seinem Vater gegenüberzustehen. Er schaffte es gerade noch so seine Bettdecke über Waschbär zu werfen. Aber es war unmöglich ihn noch in sein Versteck zu packen.
„Wer ist Waschbär?“, fragte sein Vater ihn verwundert. Anscheinend hatte er das kleine Tierchen noch nicht bemerkt. Aber so wie der kleine Racker hinter Sunil durch das Bett pflügte, würde das nicht mehr so lange dauern. Mit beinahe lauerndem Blick musterte Nemo seinen Sohn, der angestrengt denkend auf der Unterlippe kaute.
„M…mein Teddy!“, stieß Sunil aus und streckte seinem Vater das hellbraune Stofftier entgegen. Auf den Lippen seines Vaters erschien ein schwaches Lächeln, als er sich zu Sunil auf das Bett setzte.
„Ich denke er heißt Theodore?“
„N…nein, er heißt jetzt Waschbär!“, schmollte Sunil und hoffte sein Vater würde sich damit zufrieden geben. Aber wie er leider schon oft bemerkt hatte, war es gar nicht so einfach einem König und Kapitän einen Schritt voraus zu sein. Das war sogar absolut schwer!
„Und Waschbär kann Käse essen?“, erkundigte sich Nemo mit einem belustigten Glitzern in den Augen. Heftig nickte Sunil. Etwas zu sagen schaffte er nicht, denn er spürte bereits, dass sein Vater ihm kein kleines bisschen glaubte. Dennoch schien er ihm absolut nicht böse zu sein und lächelte sogar breit, als er die Decke von Waschbär herunterzog.
„Und wie heißt der?“, fragte er und deutete mit einem Kopfnicken auf das quirlige Tier.
„Also gut, das ist Waschbär“, gab Sunil kleinlaut zu und schaute betreten zu seinen Schuhspitzen. Als hätte Waschbär gespürt, wie er sich fühlte, stupste dieser ihn an, bis Sunil ihn hinter den Ohren kraulte. Wenn sein Vater sich über die Anwesenheit des Tieres wunderte, so zeigte er es jedenfalls nicht.
„So, so“, machte sein Vater und sein Blick wanderte nachdenklich von dem Tier zu Sunil und zurück. „Und wie ist Waschbär an Bord gekommen?“
Sunil schluckte schwer und dachte an Amar. Waschbär und die Geschichte, wie Amar ihn gefunden hatte, war ihr beider Geheimnis. Und nie würde er Amar einfach so verraten. Dafür war ihm seine Freundschaft zu wichtig! Daher musste er sich schnell einen anderen Grund für Waschbärs Anwesenheit ausdenken. Aber alles was ihm einfiel war: „Ich hab ihn gefunden!“
„So – Und wo?“
„Im … Maschinenraum“, stotterte Sunil und sah seinen Vater mit einem um Verzeihung heischenden Blick an. Ihm war natürlich klar, dass er als Kind nicht in den Maschinenraum durfte. Selbst Amar durfte dort nur in Begleitung seines Vaters hin. Aber sein Vater schien diesen Fakt für den jetzigen Moment zu übergehen und nickte nur langsam – die nächste Frage bereits auf den Lippen.
„Und wie ist Waschbär da hin gekommen?“
Nachdenklich kaute Sunil auf seinen Lippen. „Na, er ist geschwommen und dann an Bord gekommen. Er ist doch ein Waschbär! Die können doch sicher gut schwimmen.“
„Und wie ist er rein gekommen?“ Sein Vater schien die Unterhaltung wirklich zu erheitern, denn er konnte ein Grinsen kaum noch unterdrücken.
„Durch die Tauchkammer?“, murmelte Sunil kleinlaut und blickte seinen Vater schüchtern an.
„Du meinst, er ist durch das Meer geschwommen, minutenlang getaucht und hat es dann geschafft die Tauchkammer zu öffnen und zu benutzen?“ Lächelnd kraulte er Waschbär zwischen den Ohren. „Ein ziemlich geschicktes kleines Kerlchen. Aber meinst du nicht du solltest mir die Wahrheit sagen, Sunil?“
Betreten blickte Sunil wieder auf den Boden und schwieg.
„Also gut“, seufzte sein Vater und sah sich suchend in dem kleinen Raum um. Schließlich nahm er sich die Kiste, die Sunil vorhin schon für Waschbär vorbereitet hatte und setzte das kleine Fellknäul hinein. Dann stand er auf und blickte Sunil auffordernd an. „Komm mit“, forderte er ihn auf.
Nur zögerlich folgte Sunil seinem Vater und als sie die Tür erreichten, griff der kleine Junge nach seiner Hand. „Wo gehen wir hin?“ Die Angst nagte in ihm, was sein Vater nun mit Waschbär vorhatte und wo er mit ihm hinwollte. Aber trotz der Angst, die sein kleines Herz fühlte, konnte er sich nicht vorstellen, dass sein Vater etwas Böses mit ihm tun konnte. Nein, sein Vater tat keinen Unschuldigen etwas.
„Zu Amar“, klärte sein Vater ihn auf.
„Zu Amar?!“, rief Sunil erschrocken aus. „Warum zu Amar?“
Auf Nemos Gesicht erschien erneut ein gewinnendes Lächeln. „Weil du vorhin seinen Namen gesagt hast und er vielleicht weiß wie Waschbär es an Bord geschafft hat.“
Mit schmerzendem Bauch trottete Sunil hinter seinem Vater her und überlegte krampfhaft, was er tun könnte. Doch es fiel ihm einfach nichts ein. Das wurde auch nicht besser, als sie Amars Kabine erreichten.
„Kapitän?“
Verwundert musterte Amrit Singh die Kiste samt Inhalt, die Nemo ihm in die Hand gedrückt hatte, kaum dass er die Tür geöffnet hatte. Sunil konnte gerade so ein verzweifeltes Seufzen unterdrücken, als er bemerkte, dass auch Amars Vater da war. Aber er machte sich auch keine Illusionen, sein Vater hätte ihn so oder so dabeihaben wollen. Immerhin war Amar ebenfalls noch ein Kind.
„Es tut mir leid, Amar! Ich habe ganz sicher nichts gesagt!“, stieß Sunil aus, sobald sie eingetreten waren und er sein erschrockenes Gesicht gesehen hatte. Noch bevor ihm ganz klar wurde, was er damit ausgelöst hatte, schlug er sich die Hände vor den Mund.
„Sunil!“, seufzte Amar und trat verlegen von einem Bein auf das andere.
„Es tut mir leid“, murmelte Sunil verlegen, während sein Blick über ihre Väter und seinen jungen Leibwächter huschte. Das hatte er so richtig verbockt! Er konnte nur hoffen, dass Amar nicht sauer war, dachte er, als er sich neben den älteren Jungen auf die Bettkannte setzte. Schwer schluckend schaute er auf und sah sich nun seinem Vater und dessen Leibwächter, dem bärtigen Amrit Singh, entgegen.
Amars Vater war streng – sehr streng – das wusste Sunil, aber Amar beschwerte sich nie. Denn er wusste ganz klar wieso es so sein musste und es machte ihn stolz der Leibwächter des jungen Prinzen zu sein. Daher gehorchte er dem Vater, ertrug jedes noch so schwere Training und war, auch wenn er noch ein Kind war, ein ernstzunehmender Gegner für jeden Feind seines Herrn.
„Hast du mir etwas zu sagen, Amar?“ Amrits Stimme war hart und wer ihn nicht kannte, mochte nun Angst vor ihm haben. Das hatte Sunil zwar schon, aber er hatte auch den leichten Spott in der Stimme gehört. Kaum zu bemerken, aber er war da.
„Ja, Vater“, sagte Amar wie aus der Pistole geschossen und erzählte ohne Umschweife was passiert war. Waschbär war währenddessen aus der Kiste abgehauen und hatte es sich auf Sunils Schoss gemütlich gemacht. Als Amar geendet hatte, nickten sowohl Sunils Vater als auch Amrit Singh verstehen. Dabei schauten sie sich an und kurz huschte ein Grinsen über ihre Gesichter, bis sie plötzlich wieder vollkommen ernst dreinsahen. Sunil konnte nicht drumherum kommen, die beiden für diese Fähigkeit zu bewundern. Er platzte einfach immer mit allem raus. So auch heute – und nun hatte er Amar damit Schwierigkeiten eingebrockt.
„Deine Absichten ehren dich, Amar“, riss nun Sunils Vater das Wort an sich. „Dennoch hättest du ihn dort lassen sollen. Dieses Schiff ist einfach kein richtiger Ort für ein Tier.“
„Aber seine Mutter ist tot!“, schoss Sunil dazwischen – wissend, dass er seinen Vater unterbrach. „Wenn Amar ihn nicht mitgenommen hätte, dann wäre er es jetzt sicher auch! Und er wird sicher nicht einsam sein. Er ist jetzt mein Freund!“
Geduldig blickte Nemo seinen Sohn an und wartete bis der Ausbruch vorbei war. Dabei musterte er das schwarzgraue Fellbündel, dass äußerst aktiv turnte.
„Ich denke, dass er zurechtgekommen wäre und selbst wenn nicht; das ist der Lauf der Dinge, Sunil. Wir können uns nicht in die Natur einmischen wie wir wollen! Und er ist ein Tier. Er hat nun mal nichts auf einem Unterseeboot verloren.“
„Aber wir sind doch auch hier!“, protestierte Sunil energisch und blitze seinen Vater, der nun doch langsam die Geduld verlor, böse an. „Und Mamas Tod? War das auch einfach der Lauf der Dinge? Hast du das auch so hingenommen?“
Sunil hatte es eigentlich nicht sagen wollen. Aber bevor es ihm ganz klar war, war nicht mehr die tote Waschbärmutter in seinem Kopf, sondern seine eigene. Die Worte sprudelten einfach so heraus, mitsamt dem Schmerz dahinter.
„Das hat damit gar nichts zu tun, Sunil! Wir haben uns dafür entschieden, aber das Tier kann das nicht. Daher ist das einfach kein Leben hier für ihn!“ Nemo seufzte, drehte sich um und suchte sichtbar nach seiner Fassung. Müde rieb er sich über die Augen und hockte sich dann wieder vor seinen Sohn. „Tut mir leid.“
„Muss Waschbär jetzt wieder gehen?“, fragte Sunil traurig. Traurig nicht nur wegen Waschbär, sondern weil er die Verletzlichkeit seines Vaters spürte. Müde schüttelte der den Kopf.
„Nein, deswegen drehen wir nicht um.“ Bevor sich aber eine ausgelassene Stimmung zwischen den beiden Jungen breitmachte, hob Nemo die Hand und blickte sie mahnend an. „Aber ihr kümmert euch um ihn. Wenn ich sehe, dass ihr ihn vernachlässigt bekommt ihr Ärger. Verstanden? Als erstes bringt ihr ihn zu Dr. Mason, damit wir sichergehen, dass er auch gesund ist.“
Das ließen sich die Jungen nicht zwei Mal sagen und stürmten zur Tür hinaus, als ihre Väter sie entließen. Seufzend blickten die beiden Männer ihren Söhnen hinterher. Ihr Schiff hatte heute ein absolut seltsames Maskottchen bekommen. Aber die Situation hatte ihnen auch gezeigt, wie sehr sich die beiden Jungen füreinander einsetzten und sie waren sich sicher, dass ihnen eine gute Zukunft bevorstand.
- Ende -