Schreibübung: Als Beitrag zur SIXTY MINUTES Challenge mit dem Prompt:
Zerbrechlichkeit
Zerbrechlichkeit
Auffordernd blickten die dunklen Augen ihn an und er wusste, dass ihr klar war, dass er das Gesagte schon beim ersten Mal deutlich verstanden hatte. Doch alles in ihm sträubte sich hinzunehmen was seine Mutter ihm gesagt hatte. Sie mochte zwar nach wie vor in einer machtvollen Position sein, aber sie brauchte nicht denken, dass er dies tun könnte! Ja, er war ihr Sohn und sicherlich hatte er ihr zu verdanken wo er heute stand. Aber er konnte es einfach nicht tun und sie konnte es nicht von ihm verlangen. Nein, nicht solange er noch König war!
„Tu es!“, zischte sie erneut. Doch er würde sich nicht beirren lassen. Daher dreht er nur langsam – und äußerst widerwillig – den Kopf zu ihr. Seine Augen sprühten beinahe genauso giftig wie ihre und in diesem Moment konnte keiner leugnen von wem er abstammte.
„Nein!“, brachte er abermals hervor. „Das du das überhaupt in Betracht ziehen kannst!“
Sie schnaubte laut, drehte sich mit einem Ruck um und maß die junge Frau und ihren Säugling auf dem Diwan mit einem säuerlichen Blick. Als würde der Anblick etwas in ihr verbrennen, lief sie mit ausgreifenden Schritten zum Fenster. Er ließ die alte Frau dabei keine Sekunde aus den Augen, so als könne sie herumfahren und sich auf das stürzen, was ihm am liebsten war.
Nein, er glaubte eigentlich nicht, dass seine Mutter zu so etwas fähig war. Sonst hätte sie nie ihm aufgetragen es zu tun. Viel hatte sich verändert in den letzten Tagen und er fühlte sich mittlerweile unglaublich leer. Kaum noch in der Lage die falsche Stärke, die er nach außen hin zeigte, aufrechtzuerhalten.
Woher hätte er wissen sollen, dass sein Glück so zerbrechlich war? Sein Königreich so schwach? Aus den Fugen gerade, nur wegen …
Nein! Fast hätte er gedacht wie seine Mutter und er warf einen um Verzeihung bittenden Blick zu seiner Frau, die das unruhige Baby im Arm hielt.
„Es gibt keinen anderen Weg die aufzuhalten!“, sagte seine Mutter – ernst, aber mit unheimlich ruhiger Stimme. Mit einem Nicken zeigte sie auf einen Punkt weit draußen, hinter dem Fenster. Er wusste, was es da zu sehen gab und trotzdem stand er auf. Stellte sich neben sie, nur um zu sehen wie machtlos er doch war.
„Aber er ist doch noch Baby“, murmelte er fassungslos und mit fast erstickter Stimme. War da etwa ein Teil in ihm, der es tatsächlich tun konnte? Was war ein Menschenleben, gegen so viele, die sterben würden? Seine Mutter musste den Zweifel in ihm sehen und sie stürzte sich auf ihn, um ihn zu nähren.
„Nein, mein Sohn. Er lässt dich das glauben! Aber sieh doch hin! Sie hin, was er getan hat!“ Mit überschlagender Stimme und vor ihm bettelnd deutete sie abermals nach draußen. Diesmal folgte er ihr nicht. Ein Blick auf die Flammen in der Nacht und die wütende Meute, die sich auf den Palast zuschob, hatte genügt.
Die Angst erstickte ihn bald und nicht nur ihn. Aus dem Augenwinkel sah er seine Frau zusammenzucken. Aber er machte sich nichts vor. Er wusste, wovor sie in diesem Moment Angst hatte. Die Meute da draußen war ihr gerade sicherlich nicht egal, aber die lähmende Angst ging von ihm aus.
Sie wusste, dass er schwankte und dass er es vielleicht tatsächlich in Betracht zog. Heftig schüttelte er den Kopf. „Aber er ist mein Sohn, Mutter!“
„Nein! Nein!“, schrie die alte Frau wie von Sinnen, sodass das Baby vor Schreck aufkreischte. „Er ist ihr Teufel! Und er ist gekommen, um uns zu vernichten! Sieh dir doch nur seine Augen an!“ Sie spuckte auf den Boden aus und er wich entsetzt von ihr zurück. Erkannte die eigene Mutter nicht mehr. „Er hat ihre Augen, mein Sohn. Verstehst du denn nicht? Sie verhöhnen uns! Sie haben sich unser Land genommen, sie nehmen uns unsere Macht – ja, jede Grundlage zum Leben! Und nun er!“
Wütend war sie herumgefahren und stierte das Baby mit abgrundtiefen Hass an. „Glaubst du, er kann regieren? Ha! Ein Maharadscha mit den Augen der Feinde?!“
„Er ist der Zweitgeborene“, versuchte er seine Mutter zu beschwichtigen, aber die lachte nur verzweifelt.
„Und wenn Ravindra etwas zustößt? Willst du ihn da tatsächlich auf dem Thron sehen?“ Sie lachte noch bitterer. „Na, das ist egal. Niemand wird von uns wird das überleben. Aber vielleicht lässt sich das Volk besänftigen, wenn sie sehen, dass du dich um ihre Sorgen kümmerst? Töte Sunil! Es ist der einzige Weg!“
Das Herz schlug ihm hart in der Brust und er konnte nicht glauben, dass er tatsächlich einen Schritt in Richtung seiner Frau ging. Und dann einen Zweiten und dann noch einen. Beinahe in Panik presste sie das Kind an sich und blickte ihm mit schierem Entsetzen entgegen. Suchend nach einem Fluchtweg. Aber sie wusste, es gab keinen. Nie würde sie ihm rechtzeitig entkommen können.
„Mein Herr?“, sagte Amrit – sein treuer Leibwächter – geschockt und man sah ihm sein Unsicherheit an. Sollte er seinem König in den Weg treten? Die Königin und den jungen Prinzen beschützen? Oder besser selbst den Dolch nehmen, der all dies beenden könnte? „Dakkar!“ Seine Stimme war zittrig und die vertraute Anrede beinahe frevelhaft, aber sie verfehlte seine Wirkung nicht.
Entschlossen trat er auf seine verzweifelt schreiende Frau zu und nahm ihr den Säugling aus dem Arm. Das zerbrechliche Wesen kuschelte sich direkt an ihn und blickte ihm aus unschuldigen, strahlenden Augen entgegen. Nein, dieses Wesen war kein Teufel oder Dämon. Er war anders, keine Frage. Aber er war wunderschön und würde einmal voller Güte sein. So viel würde er seinem Volk geben können, wenn das nur nicht von unsäglichem Leid gequält gewesen wäre.
Die Feinde von weit weg, gegen die sie alle so vergeblich kämpften, waren kaum zu besiegen. Selbst für ihn. Und sein Volk klammerte sich an jeden Strohhalm. Als sie Sunil das erste Mal erblickten, machten sie ihn für alles verantwortlich. Das kleine Wesen, dass sich gar nicht dagegen während konnte. Sie hofften sich von ihrem Leid zu erlösen und er konnte es nicht verübeln. Aber er würde ihnen nicht das Leben seines Kindes geben.
„Amrit, du und Amar, ihr nehmt Sunil und Ravindra. Über die Katakomben könnt ihr es rausschaffen! Ihr geht mit ihnen“, wandte er sich schließlich an seine Frau und Mutter. „Ich werde sie aufhalten!“
Seine Mutter stieß ein bitteres Lachen aus.
„Ich fliehe nicht vor meinem Volk! Geht nur. Ich bleibe.“
„Ich werde auch nicht gehen!“, rief seine Frau entschlossen aus und er fragte sich, ob denn nun alle verrückt geworden waren. Ein Blick von ihm reichte aus und Amrit riss sie am Handgelenk herum und zerrte sie hinter sich her. Eine Tat, für die sie ihm durchaus den Kopf hätte abschlagen lassen können. Zufrieden nickte er ihm zu und er wusste, dass er seine Familie mit seinem Leben beschützen würde. Egal was passieren würde. Er seufzte und sein Blick ging wieder zum Fenster, wo die Meute fast zum Greifen nahe war. Aber vielleicht gab es ja noch Hoffnung? Denn wo Zerstörung herrschte, konnte ein Neuanfang getan werden.
- Ende -