Gewisse Bücher scheinen
geschrieben zu sein, nicht
damit man daraus lerne,
sondern damit man wisse,
dass der Verfasser etwas
gewusst hat
(Johann Wolfgang Goethe)
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So verging einige Zeit. Und aus Nacht wurde Tag und aus Tag wurde Nacht. Und es wurde hell und wieder dunkel.
Michael zog sich immer mehr in sich zurück. Schon bald war er ein Teil im Reich des Bruders geworden. Und er las, er las im Buch des Bruders. Klammerte sich krampfhaft an jeden Hinweis.
Und die knisternden Seiten schienen zu wispern. Sie flüsterten seinen Namen. Zogen ihn in ihren Bann. Er konnte sie hören- in seinem Kopf. Sie schrien. Unverständliche Worte, deren Bedeutung zu begreifen er sich nicht in der Lage sah.
Zuerst hatte er das Buch für eine Art Tagebuch gehalten. Das Tagebuch des Bruders.
Und dann...dann war er auf seinen eigenen Namen gestoßen.
...Michael...
Jede Seite dieses Buches beschrieb einen Tag in Michaels Leben, seit dem Verschwinden des Bruders. Es enthüllte seine Gedanken, die er an jenen Tagen hegte. Es erzählte, in der fein geschwungenen Handschrift des Bruders, von Gefühlen, von denen er sich leiten ließ, und von Worten, die er ausgesprochen hatte. In der Handschrift des Bruders, als ob eben dieser die Einträge verfasst hätte.
Rot auf Weiß.
Blut auf Schnee.
Rot wie Blut und Weiß wie Schnee...
Und alle Angaben, jede Einzelne entsprach der Wahrheit. Keine Lügen, nicht erfunden, die reine Wahrheit...
Und heute war der Tag, an dem er die nächste Seite aufschlagen würde, auf die Seite, die ihm Auskunft über seine Zukunft geben würde. Er würde einen Blick nach vorne werfen. Auf Morgen, vielleicht auch Übermorgen. Denn um Vergangenheit und Gegenwart wusste er bereits. Und es gab Fragen, die er sich stellte. Und er verlangte nach einer Antwort.
Was hatte der Bruder gewusst, was er nicht wusste? Wie konnte er wissen, was geschehen würde?
Und als er die nächste Seite aufschlug, standen dort nur wenige Worte. Blutrot auf Schneeweiß...
~Heute ist der Tag, an dem du sterben wirst, Michael, geliebter Bruder~