Demonstrationen und Aufmärsche zum 1. Mai im speziellen können durchaus aus dem Ruder laufen, auch wenn man in diesem speziellen Falle nichts mit Nautik zu tun hat. Über Sinn und Unsinn von Begrifflichkeiten und warum sie, je nachdem mit wem man sich unterhält, andere für eine nämliche Sache sind, sei hier müßig zu erwähnen und passte besser als Inhalt eines anderen Essays. Nun denn der 1. Mai. Ob es sich nun um eine Versammlung, einen Aufmarsch, eine Demonstration oder gar eine Prozession handelt, hängt also ganz vom Initiator der Veranstaltung ab. Eigentlich meint es immer das Gleiche. Personen einer Gesinnung versammeln sich, um dieser, ihrer Gesinnung nämlich, Ausdruck zu verleihen.
Meine Großmutter, Gott hab sie selig, ging gerne mit der Prozession, wo sie heilige Gesänge darbringend durch die Straßen des Ortes zog. Einmal versuchte ich, ihr zu erklären, dass es eigentlich auch nur eine Demonstration sei. Voller Entrüstung schallt sie mich, wie ich so etwas Unflätiges behaupten könne. Sie wäre ja immerhin zu Ehren Gottes unterwegs und hätte nichts mit den langhaarigen Krawallbrüdern, lange Haare ging bei ihr mit Verbrecher zu sein einher, zu tun oder gar mit den liederlichen Gewerkschaftern. Ja, sie hielt die Gewerkschaften für eine Ausgeburt der Hölle und ich solle mich eher an die KAB oder an das Kolpingwerk halten. Sie verstand nicht, dass es eigentlich alles Arbeitervereinigungen waren. Aber egal. Wenn Glaube draufsteht, ist dann auch Tugend drin? Wohl eher nicht, wenn man den Schlagzeilen der letzten Jahre Glauben, welch kuriose Wortgleichheit mit dennoch anderer Bedeutung, schenken kann. Zum Glück bekam meine Großmutter davon nichts mehr mit.
Aber wo war ich? Ach ja, die Versammlung zum 1. Mai. In Zeiten, da Linke nicht immer links und Rechte nicht immer rechts sind, war es durchaus schwierig, mit der eigenen Meinung bei der richtigen Veranstaltung zu sein. Oft ist der genannte Initiator ein guter Hinweis. Diesmal wurde ich jedoch zur Versammlung oder auch Demo eingeladen und befand mich am Treffpunkt, den wir ausgemacht hatten. Als passionierter Nichtdemonstrant, gibt es so etwas eigentlich?, war ich natürlich ohne Schild oder Banner unterwegs. Auch hatte ich keinerlei Radaugerät dabei, sei es eine Trommel, obwohl ich eine Djembe mein eigen nenne, oder eine Ratsche, nun denn ein Topf mit Kelle hätte es auch getan. Immer mehr Menschen strömten herbei und der Platz wurde immer voller, nur meine Verabredung war noch nicht da. War ich doch auf der falschen Veranstaltung? Irgendwo begann ein Megaphon zu quäken. Verstehen konnte ich nichts. Es muss aber lustig gewesen sein, da von vorne eine Welle Gelächter heranrollte. Wenn ich gewusst hätte, dass Demos so unterhaltsam sind, wäre ich schon früher mehr auf solche gegangen. Aber nun war es egal. Verwirrt und missmutig schaute ich mich wieder um, wo blieb sie nur.
Immer wieder ließ ich mich von ihr und ihren Ideen anstecken, dann stand ich in der ersten Reihe und von ihr fehlte jede Spur. Sollte es nun wieder so sein? Durch meine Gedanken sickerte Musik. Spielte irgendwo eine Band? Vereinzelnd sangen Leute mit, wurden etwa irgendwo Liedtexte verteilt und ich hatte das verpasst? Oder wurde dieses Liedgut bei Berufsdemonstranten als bekannt vorausgesetzt? Oh Mann. Ich war eindeutig im falschen Film. Obwohl meine Großmutter, Gott hab sie selig, immer sagte: wo man singt, da lass dich nieder, böse Menschen kennen keine Lieder. Kurz überlegte ich, ob das als universelle Weisheit so stimmen konnte, und verwarf den Gedanken an einen philosophischen Disput mit mir selbst, da mir auf Anhieb schon genug Gegenbeispiele einfielen.
Oh, nun wurden Sprechgesänge angestimmt. Langsam kamen die Worte näher und meine Nachbarn huben an, diese ebenfalls anzustimmen. Meine Lippen blieben stumm, da ich immer noch nicht genau verstand, was die anderen Leute so riefen oder auch schrien. Ihr wisst schon, es ist wie bei den Liedern, deren Text man auch immer falsch versteht. Ihr kennt doch alle das Lied mit „Agathe Bauer“ im Refrain? Na ja, eigentlich heißt es ja „I've got the power“. Ich hoffe, ich habe mein Dilemma klar genug erklärt.
So stand ich nun zwischen all den anderen und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Aber wo war nur meine Begleitung? So blieb ich am Rande stehen und ließ die Leute ziehen, in der Hoffnung, dass meine Bekannte noch käme. Herrje, was konnte sie eine Flitzpiepe sein. Oder in diesem Falle doch eine Kanaille?
Während ich so noch überlegte, ob ich nun alleine, also eigentlich mit der Demo, losziehen sollte oder nicht. Kam erneut Bewegung in die Menge, die aber weniger geordnet war. Vereinzelt nahm ich Rufe oder waren es Schreie wahr. Dann brach das Chaos los. Ich beglückwünschte mich zu der Tatsache, dass ich mich noch am Rande befand und glaubte, mich ungesehen von dannen oder auch von hinnen zu machen. Doch weit gefehlt. Unbemerkt war eine Reiterstaffel aufgezogen und blockierte den Rückweg. Ups. Das war mir noch nie passiert. Sollte jetzt etwa die ganze Sache hier eskalieren? Verängstigt hielt ich Ausschau nach dem Wasserwerfer, der, das kannte ich ja aus den Nachrichten, gerne bei solchen Demonstrationen als Mittel der Wahl eingesetzt wurde. Mit dieser Höllenmaschine wollte ich keine Bekanntschaft machen, außerdem hatte ich heute Morgen, da mir meine persönliche Hygiene durchaus wichtig ist, schon geduscht.
Da erblickte ich endlich meine Bekannte, die mich zu dieser, im nach hinein betrachtet, unsäglichen Veranstaltung geschleppt hatte. Sie stand fett grinsend hinter der Absperrung, die von der Polizei aufgebaut worden war, und winkte lässig zu mir herüber, dass ich zu ihr kommen sollte. Dann sah ich sie mit einen der Uniformierten tuscheln, der dann kurz die Barriere öffnete und mich vorbei ließ.
„Und...?“ Sie vollendete ihre Frage nicht.
„Nix und. Wie konntest...“ Doch weiter kam ich nicht.
„Stell dich nicht an wie ein Mädchen, dass muss man einmal in seinem Leben mitgemacht haben.“ Belehrte sie mich.
„Außerdem ist dir doch gar nichts passiert. Die Action kommt doch noch.“
„Nein, danke“, lenkte ich ein, „live und in Farbe brauche ich das nicht. Das sehe ich mir lieber nachher in den Nachrichten an. Schön auf dem Sofa und vielleicht Maibowlen unterstützt.“
Sie rollte mit ihren Augen.
„Außerdem bin ich ein Mädchen“, setzte ich noch nach.