Ja, das Leben hatte mich wieder. Ich tat sogar schon wieder so etwas Verrücktes wie arbeiten. Natürlich schalt mich Giselmar, wie es sich für einen wahren Freund gehörte, jeden Tag, da er es angebracht hielt und natürlich auch an jenen Tagen, die nicht angebracht waren. So holte ich mir quasi täglich eine Schelte ab und ich überlegte, ob ich diese tatsächlich verdient hätte. Ja, hatte ich, das stand außer Zweifel.
Zum Jahreswechsel überlegte ich mir dann doch etwas Besonderes für den besten oder auch besondersten, gibt es das Wort überhaupt, Freund der Welt. Da ich um seine Vorliebe für cineastische Best- und Höchstleistungen wusste, war ein Besuch eines grandiosen Leinwandtempels unumgänglich. Filme sollte immer in vortrefflicher Bildgröße und sattem Sound genossen werden. Wenn man dabei noch in plüschigen Sesseln versank und dazu Popcorn knabberte, war der Abend komplett und ließ eigentlich keine weiteren Wünsche mehr offen.
Wie gut war es da, dass mir gerade um Weihnachten ein Prospekt für ein derartiges Lichtspielhaus in die Hände flatterte. Na ja, eigentlich wurde das Werbeblättchen in meinen Briefkasten gestopft, wo sich schon unzähliges von mir ungewünschtes Werbematerial angesammelt hatte. Doch dieses war gänzlich anders, dass es mein Interesse weckte. Wer eröffnete im Zeitalter des Streamings noch einen Kinosaal? Doch das Konzept gefiel mir. Roter Plüsch an den Wänden und Kristalllüster an der Decke. Es erinnerte mich an meine Kindheit, als es noch einige dieser alten Lichtspieltheater gab, damals die Lichtburg war schon legendär. Es war immer etwas Besonderes, wenn wir dort einen Film anschauten.
Genau das sollte es auch für Giselmar werden, etwas Besonderes. Er ließ sich für mich ja auch immer etwas einfallen, dass alles andere als gewöhnlich war. Gewöhnlich war gestern, heute wäre extraordinär.
Schnell hatt ich telefonisch für uns zwei Karten geordert und um Expresszustellung des Geschenkes gebeten. Selbstverständlich zu mir, denn ich wollte ihn ja damit überraschen. Und es war ein wahrlich schöner Geschenkgutschein, der stilecht in einer Metalldose, einer Filmrolle nicht unähnlich, verpackt. Es wäre genau das, was Giselmar erfreute und auch angemessen war.
Gerne hätte ich gesagt, dass ich Giselmar zu unserer Abendveranstaltung abholte, doch er untersagte mir aus gegebenen Anlass immer noch das Führen eines Fahrzeuges. Leider konnte ich nicht nachvollziehen, was ihn dazu bewog. Aber er hatte gewiss hinreichende Gründe dafür, die für ihn gewiss schlüssig waren. Wer war ich, dass ich es ihm ausredete? So hatte er bestimmt einen angemessenen fahrbaren Untersatz für uns organisiert. Ein letzter Blick in den Spiegel bescheinigte mir, dass ich nicht mehr wie der Tod auf Latschen aussah, trotz alledem dennoch weit entfernt vom blühenden Leben wäre. Ich machte wieder Pläne, das war alles, was zählte. Als ich Giselmar öffnete, korrigierte er meine voreilige Einschätzung.
„Du solltest dich schonen.“
„Ich arbeite doch auch wieder“, war wie immer mein All-in-One Argument. Er verdrehte nur die Augen und hakte mich unter, als wenn ich nicht in der Lage wäre, selbstständig zu gehen. Wie konnte man nur so übertrieben fürsorglich sein? Ich ließ mich jedoch von ihm geleiten, wenn es ihn beruhigte.
Nach kurzer Fahrt waren wir am Ort der Wunder und fulminanten cineastischen Abenteuer. Etwas verwundert waren wir schon, dass der Andrang vor der Tür eher verhalten bis gar nicht vorhanden war. Die jungen Leute hatten so wirklich keine Ahnung von Kino und vom Reiz der großen Leinwand. Sollten sie doch weiter ihre Filme am Handy streamen und sich wundern, dass der Funke nicht wirklich übersprang.
Alsbald lümmelten wir uns in den plüschigen Polstern, die uns wie freundliche Monster zu verschlingen drohten. Ja, das waren Unterhaltungssitzmöbel genau nach meinem Geschmack. Zwischen uns parkte eine Schüssel herrlichen Popcorns nebst einem perlenden Getränk. Welcher Art der Schaumwein war, interessierte uns nun wirklich nicht und es spielte auch keine wichtige Rolle. So prosteten wir uns zu und harrten der Dinge, die nun kommen sollten. Dann endlich wurde das Licht gedimmt, Musik schwoll an und der Vorhang schwang leise surrend zur Seite. Der Vorspann begann.
Genüsslich lehnte ich mich zurück, um das Kommenden besser genießen zu können. Als ich im Augenwinkel eine Bewegung wahrzunehmen glaubte. Doch als ich mich dorthin wandte, sah ich nichts, was sich dort hätte bewegen können. Also richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Leinwand.
„Psst. Nicht umdrehen.“ Die Stimme war nah an meinem Ohr. Es fiel mir unheimlich schwer, dem Drang mich umzuwenden zu widerstehen.
„Hast du es?“
Was sollte diese Frage? Verstohlen sah ich zu Giselmar hinüber. Doch diese blickte fasziniert auf die flimmernden Bilder vor ihm.
„Was denn?“ Fragte ich leise zurück.
„Verarsch mich nicht!“
Etwas war hier reichlich seltsam, doch ehe ich mich über diese Antwort echauffieren konnte, brach krachend und qualmend das Inferno über uns herein. Schüsse knallten und das Mündungsfeuer blitzte gespenstisch auf. Etwas ging gerade gewaltig schief und ich wusste nur noch nicht was. Einer jähen Eingebung folgend ließ ich mich zu Boden gleiten. Wer flach liegt, kann weniger gut von Kugeln getroffen werden, das hatte ich in diversen Actionfilmen so wahrgenommen und setzte dieses Tipp nun um. Halb unter dem Tischchen liegend hätte ich mich beinahe an Giselmars Kopf gestoßen, der wohl synchron zu mir seinen Sessel verlassen hatte.
„Hey, Mann. Der beste Kinobesuch aller Zeiten.“ Er war begeistert und hielt die Sache für vortrefflich inszeniert.
„Findest du?“ Mir war gar nicht wohl bei der Sache. „Wir sitzen wie Hasenfüße unter dem Tisch.“
Giselmar grunzte nur. Vielleicht wurden ihm die Absurdität und möglicherweise auch die Gefahr, in der wir schwebten, nun doch bewusst. Ehe ich mir darüber Gedanken machen konnte, wurde ich gepackt und fortgezerrt. Ein schneller Blick verriet mir, dass auch Giselmar aus der Schussbahn gezogen wurde. Herrje, was war hier nur los? Etwas zu ruppig wurde ich durch eine geheime Luke in der Wand geschoben. Plötzlich herrschte Stille, als mein Retter die kleine Klappe hinter uns schloss. Wortlos reichte er mir eine Jacke, die ich wohl überziehen sollte. Sie war schwerer als ich vermutete und schien eine Art Schutzausrüstung zu sein. Kaum hatte ich den sperrigen Verschluss bezwungen, lotste er mich durch die verwinkelten Katakomben unterhalb des Kinosaals. Was ging hier nur vor?