Die Schlucht war tief und schwarz, aber an ihrem Grund konnten wir das leichte Glimmen von Jürgen erkennen. Er hockte artig auf Bumblebores Schulter, der jetzt scheinbar versuchte, aufzustehen.
„Bist du verletzt?“, rief Randalf nach unten.
Jürgen qiekte leise, und Bumblebore antwortete mit einem Ächzen: „Nein, alles in Ordnung. Ich hatte Glück.“
„Wie tief ist das ungefähr?“, fragte Xelan, der bereits in seiner Tasche kramte.
Randalf warf einen weiteren Blick in die Schlucht. „vier, fünf Meter vielleicht?“
Mit gerunzelter Stirn ließ Xelan ein Ende des Seiles in die Schlucht fallen, doch es reichte nicht einmal annähernd bis zu Bumblebore hinab. „Hat jemand noch etwas anderes, was wir als Seil benutzen könnten?“
„Ich würde meinen Mantel anbieten, aber damit können wir auch nur höchstens einen halben Meter rausholen“, überlegte ich. Abgesehen davon würde ich damit auch die fellige Stelle an meinem Arm freilegen. Der Jäger wüsste sofort, was ich bin, ich würde ihn töten müssen, und es gäbe eine furchtbare Fragerei im Dorf hinterher. Immer dieser Stress.
Ohne es zu merken, war mein Blick zum Jäger hinüber gewandert. Er verharrte still am Rande der Gruppe und starrte mich an. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Hatte er mich bereits durchschaut?
„Ich sollte noch ein längeres Seil in meiner Jagdhütte haben“, sagte er schließlich. „Ich könnte es holen, aber ihr müsstet hier warten.“
„Ist gut“, kam es aus der Schlucht, „ich kann hier ohnehin nicht weg!“
Ein leises Lachen entfuhr Pargrim, aber damit war es beschlossen. Der Jäger kletterte über das Seil zurück auf die andere Seite und Randalf beschloss, ihn aus Höflichkeit zu begleiten. Wir anderen blieben zurück und setzten uns zwischen die Bäume. Xelan setzte sich neben mich und holte sein kleines Buch hervor.
„Was schreibst du?“, fragte ich ihn und sah neugierig in die Seiten, die ich durch den Schatten der Bäume kaum sehen konnte.
Xelan nahm meinen Arm und legte ihn um sich, um sich gemütlicher an mich lehnen zu können. „Ich habe ein paar Zeilen im Kopf, die ich gerne aufschreiben möchte, bevor ich sie vergesse.“
„Kannst du denn überhaupt etwas sehen?“
Er lachte leise. „Nicht wirklich, aber das geht schon. Ich sehe ja, welche Seiten leer sind, und ich weiß, wie ich schreiben muss. Für Notizen reicht es.“
„Dann ist ja gut.“ Versonnen legte ich mein Kinn auf seinen Kopf. Einige Momente lang war nichts zu hören außer das Rascheln der Blätter, das Kratzen des Stiftes auf dem Papier und das Murmeln unserer Weggefährten, die selbst in ein Gespräch vertieft waren. Dann fragte ich: „Kannst du mir das beibringen?“
„Was?“
„Schreiben. Lesen. Buchstaben. Ich kann das nicht so richtig.“
Ungläubig sah Xelan zu mir auf. „Ich dachte das wäre ein Scherz gewesen! Du hast nie lesen und schreiben gelernt?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Bei den Piraten hat mir einer ein bisschen etwas beigebracht, aber ansonsten sah niemand die Notwendigkeit dazu.“
Xelans Augen weiteten sich noch weiter. „Du warst auf einem Piratenschiff!?“
Verlegen sah ich zur Seite. „Was ist jetzt, bringst du mir Lesen bei oder nicht?“
„Ist ja gut. Aber nur, wenn du mir mehr über die Piraten erzählst!“
„Ich kann dir ein Lied zeigen, das wir hin und wieder gesungen haben.“
„Fair.“ Xelan legte sein Büchlein wieder in die Tasche und nahm meine Hand in seine. Mit seinem Finger malte er einen Kreis, doch kurz bevor er vollständig war, fügte er eine scharfe Linie ins Kreisinnere ein. „Das ist ein großes G“, erklärte er. Dann zog er seinen Finger von oben nach unten, malte oben einen Halbkreis dran und eine Schräge nach unten. „Ein großes R“, fuhr er fort.
„Ein G und ein R“, wiederholte ich.
Xelan nickte und zog eine weitere Linie von oben nach unten, die er mit drei weiteren Strichen versah. „Das ist ein großes E. Versuch mal, die drei Buchstaben zusammen auszusprechen.“
„G, R, E…“, sagte ich noch einmal. „Gre…?“
„Sehr gut!“, lachte Xelan und gab mir einen Kuss auf die Wange. Ich wob meine Finger in seine ein und hielt ihn fest, um ihn noch einmal küssen zu können. Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, während er widerwillig sagte: „Nicht ablenken…!“ Doch statt mich wegzudrücken, erwiderte er den Kuss.
Kurz darauf hörten wir Schritte. Randalf und der Jäger waren wieder über die Schlucht geklettert und warfen Xelan ein Seil zu. „Aufstehen, Turteltäubchen!“, rief er. „Wir holen Bumblebore jetzt daraus.
Ein wenig löste Xelan sich von mir, holte sein eigenes Seil heraus und begann, es geschickt an das andere zu knoten. „Damit sollte es gehen“, meinte er.
Ohne Kommentar nahm Olesch das Seil an sich und ließ es in die Schlucht fallen. Wenig später zog Bumblebore sich keuchend über den Rand der Schlucht. „Können wir für den Rückweg bitte einen Baum fällen?“, brachte er hervor, während er sich den Staub von der Kleidung klopfte.
„Warum hast du das nicht gleich vorgeschlagen?“, rief Olesch und boxte mit einer solchen Kraft gegen einen Baum, dass dieser ohne weitere Bemühungen umkippte. Die Wurzeln ragten hoch in die Luft und mit einem Krachen landete die Krone schließlich auf der anderen Seite der Schlucht.
Bumblebore verdrehte die Augen, schien aber grundsätzlich zufrieden zu sein.
Gemeinsam machten wir uns wieder auf den Weg. Der Trampelpfad wurde immer unebener, sodass wir teilweise Gestrüpp niederschneiden oder klettern mussten, um vorwärts zu kommen. Bald wurde es noch dunkler, sodass wir uns voran tasten mussten. Alles in mir kribbelte. Mein Dyvir wollte herausbrechen, er schrie, dass Gefahr lauerte. Und obwohl ich dem nur zu gerne gefolgt wäre, hielt die Anwesenheit des Jägers mich davon ab. Ich wollte nicht zu dem werden, für das mich ohnehin alle hielten, zumindest nicht vor Xelan.
Mit einem Mal fuhr mir ein süßlich stechender Geruch in die Nase. „Riecht ihr das auch?“, fragte ich leise, dann hörte ich ein Rascheln, Bellen und Knurren. Wir hielten inne.
Vor uns standen mit gefletschten Zähnen drei mordlustige Wölfe.
Drei Wölfe denkt man sich
als tapfere Kämpfer kein Problem
Doch wussten unsre Helden nicht:
Es wurde lang und unbequem.
Die erste Stunde noch voller Mut
Mit Schwertern, Axt und Krallen,
Knochen knackten, es spritze Blut,
Doch keiner war gefallen.
Ein Jäger, man bedenke,
Dessen Job es ist mit Pfeil und Bogen
Tiere über weite Distanzen zu erlegen,
Hat einen Pfeil aus seinem Köcher gezogen.
Und schoss ihn gradewegs
in seinen linken Fuß.
Schreiend in die Knie gehend
Spannte er zum nächsten Schuss
Doch wohl noch verschwommen sehend
Traf er nun den rechten Fuß.
Alle schauten fassungslos
Sogar die Wölfe runzelten die Stirn
Da lag der Jäger wimmernd
Und schoss sich den dritten Pfeil ins Knie.
In Zukunft kann er nun sagen:
„Früher war ich auch mal ein Abenteurer“
Doch jetzt nutzen unsere Helden seine Klagen
Und schlugen in der Verwirrung die Ungeheuer.
Ein dummer Jäger und drei Stunden später
War es also vollbracht
Die mutigen Gefährten
Haben die Wölfe ums Leben gebracht.
Am meisten gelernt aus diesem schrecklichen Kampf
Hat wohl der Spieleleiter und erkannt
Solch einen furchtbaren Tanz
Für einfache drei Wölfe
Wird es nicht mehr geben
Dafür kommen ab jetzt 60 Trolle
Mit zehnmal so viel Leben.
Ach und der Jäger
Gott habe ihn selig
humpelt auf immer und ewig.