»Sie kennt dich nicht einmal«, seufzte er.
Er schaute zu seinem Lehrling hoch, dessen Schein selbst im Zwielicht glänzte. Seine Flügel schimmerten und in seinen Augen loderte Hoffnung und Zuneigung.
Er sah, wie Aran die junge Frau beobachtete, während sie lachte und mit einem jungen Mann scherzte.
»Aber ich kenne sie schon ihr Leben lang«, erwiderte Aran und balancierte das Dach entlang, ohne es zu berühren. »Ihr Humor ist Hammer. Und sie ist wunderschön. Nicht nur diese Hülle. Sondern ihr –«
»Das ist keine Liebe«, murrte Leobwin und verdrehte die Augen. »Steigere dich da nicht zu sehr hinein – auch, wenn es dein erster Auftrag ist. Denk daran, was du gelernt hast. Begleite sie, wenn es so weit ist. Kennst du nicht die Geschichte von –«
»Ja, kenne ich. Jeder kennt die«, murmelte Aran und schob seine Unterlippe vor, wie ein beleidigtes Kind. Leobwin seufzte. Sie waren alle irgendwann so gewesen – zumindest glaubte er das. Er selbst erinnerte sich nur vage daran, so egoistisch und egozentrisch gewesen zu sein.
»Dann lass es einfach«, sagte er und erhob sich.
Aran verschränkte die Arme vor der Brust und Leobwin wusste, dass Aran es nicht sein lassen würde.
Es war Punkt 16.37 Uhr an dem Mittwoch, an dem er neben Aran stand und beobachtete, wie sich ihr Geist und die Seele von ihrem Körper lösten. Letzteres fiel nicht in ihren Zuständigkeitsbereich. Dafür war die Einheit in der Menschenwelt verantwortlich.
»Und jetzt? Wie gehst du vor?«, fragte Leobwin seinen Schützling.
»Das hast du jetzt schon zweimal gefragt«, stöhnte Aran und verzog genervt den Mund.
Leobwin war sich sicher, dass er solche Fragen schon mehrere hunderttausend Male gestellt hatte, was machten da zwei mehr oder weniger? Immerhin musste es in Arans Schädel, der sich als besonders hart und hohl erwiesen hatte – wobei sie alle so gewesen waren irgendwann. Er glaubte es zumindest.
»Ich begleite sie und beruhige sie. Die Doppel-Bs«, murmelte Aran. »Dann erkläre ich den weiteren Prozess.«
»Und was willst du auf jeden Fall vermeiden?«, hakte Leobwin nach.
Aran schnaubte, verkreuzte die Arme hinter dem Kopf und ließ die Flügel hängen.
»Man vermeidet, den Menschen unnötig zu verwirren oder auf der Reise aufzuhalten. Es geht um sein Wohlbefinden und die angemessen zügige Aufnahme in die oberen Kreise.«
»Gut. Dann waren die letzten Jahrzehnte doch nicht so eine Zeitverschwendung, wie ich annahm«, erwiderte Leobwin trocken und trat zurück. »Denk daran, es geht um sie.«
Aran nickte, obwohl sich Leobwin sicher war, dass er es zwar wusste, aber nicht verstand. Sie waren alle so gewesen, als sie ihren ersten Menschen begleiteten. Zumindest glaubte er das.
Er hörte sie stammeln und Arans Federn sträubten sich, als sie ihn anschrie und dann schluchzte.
»Aber – aber ich wollte noch – und –«
»Ich weiß. Dieses Gefühl ist völlig normal, das haben wir gelernt. Also keine Panik. Der –«
»Oh Gott, das ist echt kein Traum? Ich – bin tot? So richtig? Oh Gott, ich bin –«
»Ja, also – ähm – weißt du – ja«, schloss er etwas verlegen und schaute hilfesuchend zu Leobwin, doch der nickte ihm zu. Sein Lehrling schlug sich nicht schlecht.
»Das darf nicht wahr sein, das kann einfach nicht – wer – wer bist dueigentlich?«
»Oh, ich bin Aran, ich bin dir zugeteilt, um dich abzuholen und zu begleiten. Ich habe dein ganzes Leben auf diesen Tag gewartet! Ist das nicht aufregend? Endlich ist es so weit und –«
Leobwin verdrehte die Augen. Bis jetzt zumindest.
»Ich kann noch nicht tot sein«, widersprach sie, »ich hatte erst vor einer Woche Geburtstag! Und heute – ich wollte dieses Jahr noch so viel tun! Ich wollte nach Spanien!«
Aran nickte und seufzte.
»Nach Spanien. Ja, ich wollte dir ja sagen, dass du das Geld lieber anders ausgeben solltest als für die Reise im Sommer, aber – das ist gegen die Regeln, weißt du? Sorry.«
Sie starrte ihn an und er hob seine Hände, fuchtelte damit vor ihrem Gesicht herum, als könnte er sie so vor einem Zusammenbruch bewahren. Als würde sie so verstehen, dass ihr Leben vorbei war, dass sie niemals nach Spanien reisen würde.
»Aber weißt du, so schlimm ist die Sache nicht. Jetzt, wo du tot bist, können wir uns endlich kennen lernen. Ich mein, ich kenn dich schon, aber du kannst mich kennen lernen. Wir können gemeinsam in die oberen Kreise aufsteigen. Ich mein – du kannst mich endlich sehen und –«
Leobwin atmete tief durch und schloss für einen Moment die Augen, um Arans Geschwätz sacken zu lassen, dann schaltete er sich ein, nahm die junge Frau in seine Arme und zeigte ihr all die schönen Augenblicke ihres Lebens; sie fühlte sie, hörte, schmeckte, sah. Danach ließ er sie all die wunderbaren Möglichkeiten ihrer irdischen Zukunft durchleben. Zeit floss nicht und raste. Ein Tag war ein Leben und ein Leben ein Tag.
»Das wäre schön gewesen«, sagte sie danach und lächelte. In ihrer Mimik spiegelten Ruhe und Zufriedenheit – und ein wenig Sehnsucht.
»Ja, das wäre es«, stimmte er zu und warf Aran dann einen Blick zu. »Sie ist soweit.«
Er stand hinter ihm auf dem Dach, am Horizont die Abenddämmerung. Oder war es der nächste Morgen? Seine Tage flossen ineinander. Es war schwer die künstliche Menschenzeit auf seine Realität zu beziehen.
»Ich hab’s verbockt«, murmelte Aran vor ihm und saß an den Schornstein gelehnt, das Gesicht gesenkt, schwebte nicht wie sonst ein paar Zentimeter über den Grenzen der Realitäten.
Leobwin seufzte.
»Im Anfang gab es einen Wächter. Er –«
»Oh, nicht diese Story. Ich hab’s gerafft. Ich hab’s vermasselt und –«
»Halt die Klappe und hör zu«, unterbrach Leobwin Arans Gemurmel und er verstummte tatsächlich.
»Dieser Wächter wachte über seinen Menschen jeden Augenblick von dessen Leben. Er sehnte sich jeden Moment mehr nach ihm und dem Zeitpunkt, in der sein Mensch ihn endlich kennen lernte. Wenn endlich die Grenzen ihrer Realitäten ineinander flossen und der Mensch seine Liebe erwidern würde.«
»Aber der liebte ihn nicht«, murrte Aran niedergeschlagen, »und der Wächter bekam mächtigen Ärger vom Chef.«
Leobwin brach in Lachen aus, was Aran aufschauen ließ. Er warf ihm einen finsteren Blick zu.
»Das ist nicht witzig«, behauptete er mürrisch.
»Und wie«, widersprach Leobwin mit einem Grinsen auf den Lippen. »In dieser Geschichte ging es nie um Liebe. Es ging um den Wächter und seinen Willen. Es ging um sein Begehren und seine Hoffnungen, nicht die seines Menschen. Er sah nur, seinen eigenen Anfang, aber nicht das Ende des anderen.«
»Ich habe sie geliebt«, murmelte Aran trotzig und ließ sich auf seinen Rücken fallen, die Flügel zu beiden Seiten gestreckt. Er verschränkte die Arme im Nacken und starrte in den Himmel. Leobwin beobachtete ihn und atmete tief ein.
»Nein, hast du nicht«, erwiderte er leise. »Aber irgendwann wirst du es, wirst deinen nächsten Menschen lieben und den übernächsten.«
Arans Blick schoss zu ihm.
»Immer wieder?«, fragte er entsetzt. »Wird es immer so sein? Liebe, Liebe, Liebe für die Menschen und was bleibt uns? Treten wir für immer auf der Stelle?«
Leobwin streckte seine Hand aus, strich über Arans Wange und lächelte angesichts seiner verblüfften Mimik. Dann schaute er in den Himmel. Es war amüsant, dass manche Menschen glaubten, ihr Himmel wäre irgendwo dort oben. Genauso, wie junge Wächter glaubten, ihr Ziel wäre es, aufzusteigen oder geliebt zu werden.
»Irgendwann wirst du verstehen, was Liebe ist«, behauptete Leobwin und legte seine Hand auf dessen Schulter.
Sie waren alle irgendwann so gewesen. Er selbst erinnerte sich noch daran.
© Jaelaki Mai 2016