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Nach dem Prompt „Spitzmaulnashorn“ der Gruppe „Crikey!“
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Als Crishcan die Augen aufschlug, wusste er nur noch, dass etwas furchtbar schiefgelaufen war.
Er lag auf dem Rücken. Über ihm war weißer Himmel, dicht und tief hängende Wolken.
Himmel? Er war noch nie unter freiem Himmel eingeschlafen. In Lamaria käme das einem Todesurteil gleich.
Schlagartig erinnerte er sich: Seine allererste Jagd. Die Aufregung, als sie die Hüttenflöße zurückgelassen hatten, die sich noch steigerte, als die älteren Männer das grasende Wollnashorn entdeckten. Die Pirsch, nervenaufreibend langsam und still. Crishcan hatte an das Fleisch denken müssen, das sie erbeuten würden, an die Vielzahl an Messern, die sich aus dem mächtigen Horn schnitzen lassen würden.
Dann war er unvorsichtig geworden und unter seinem Fuß hatte vereister Schnee geknirscht, den er eigentlich hätte sehen müssen.
Die letzten Sekunden prasselten als unzusammenhängende Bilder auf ihn ein. Crishcan zuckte zusammen und ein Stöhnen wich über seine Lippen, als diese plötzliche Bewegung gleich mit Schmerzen im Rücken quittiert wurde. Seine Brust pochte schmerzhaft.
Er biss sich auf die Lippen. Nur zu gut kannte er die großen Tundrawölfe, die ein einziger Schmerzensschrei aus tausenden Meilen Entfernung anlocken konnten. Er musste um jeden Preis leise sein.
Als er es schließlich schaffte, sich auf die Seite zu rollen, wurde Gewissheit, was er bereits befürchtet hatte: Er war allein. Schnee erstreckte sich bis zum Horizont, darüber wölbten sich die Wolken. Die Sonne war nicht zu sehen, und so hatte Crishcan nicht einmal den Hauch einer Orientierungsmöglichkeit. Von den Männern, die er begleitet hatte, waren nicht einmal Fußspuren zu sehen.
Hatten sie ihn für tot gehalten? Kein Wunder, denn das Wollnashorn hatte ihn frontal getroffen. Doch mit der flachen, weichen Schnauze. Crishcan war ihm so nah gewesen, dass das Tier beim Angriff weder das Horn gesenkt noch Geschwindigkeit aufgebaut hatte. Der Schlag war immer noch heftig gewesen. Bei jedem Atemzug schien sein Körper zerrissen zu werden. Doch Crishcan lebte noch.
Das entscheidende Wort in dieser Feststellung war das 'noch'. Bereits jetzt waren seine Finger blau, die Lippen sicherlich ebenfalls. Bibbernd machte er ein paar Schritte und musste direkt anhalten. Atmen war eine Qual - gehen nahezu unmöglich. Tränen stiegen dem jungen Elfen in die Augen, während er sich ein weiteres Mal suchend umsah.
Es musste doch Spuren geben, verdammt! Irgendeine Möglichkeit, zurück zu seinem Stamm zu kommen!
Aber er sah nichts, außer - halt, dort! Crishcan atmete so erleichtert auf, dass er sich im nächsten Moment unter einer weiteren Schmerzenswelle vorbeugte.
Trotzdem gab der Anblick der fernen Spuren ihm neue Hoffnung. Er biss die Zähne aufeinander und wankte los.
Doch seine Tapferkeit hielt nicht lange vor. Im tiefen Schnee kam er kaum voran. Sein Rücken und sein Brustkorb schienen bei jedem Schritt zu bersten. Die Anstrengung, mit der er sich voranschleppte, verursachte ihm ein schmerzhaftes Pochen in der Stirn. Und als er den Blick hob, stellte er fest, dass die Spur kaum nähergekommen war.
Das Einzige, was ihn weitertrieb, war das Wissen, dass er ohne seinen Stamm verloren wäre. Die Kälte fraß sich bereits durch die Felle, die er trug. Aber aufgeben durfte er nicht. Alles hing davon ab, dass er zurück zu seinen Leuten käme, bevor ein Raubtier ihn entdeckte. Heim, dieser Wunsch bestimmte seine Gedanken bei jedem einzelnen, schmerzvollen Schritt.
Schließlich hob er den Blick nach einem schier endlosen Martyrium und stellte fest, dass er dort angelangt war, wo die Spur mitten im Nichts begann. Es gab keinen Weg, der hierher führte. Schlimmer noch, er konnte allzu deutlich erkennen, dass die Abdrücke im Schnee zu groß für Elfenfüße waren.
Das war zu viel für Crishcan. Ächzend sank er auf die Knie. Der kleine Schneehügel, neben den er sich sinken ließ, empfing ihn warm und einladend. Der Junge schloss die Augen und war vor Erschöpfung bereits eingeschlafen, bevor sein Körper ganz in den Schnee gebettet war.
~*~
Doch seine Ruhe dauerte nicht lange an. Das drohende Grollen eines Eisbären gehörte zu den Geräuschen, die jeden Elfen von Lamaria noch aus dem tiefsten Schlaf zu wecken vermögen.
Crishcan fuhr in die Höhe und keuchte erschrocken auf, als die Schmerzen sich mit voller Macht zurückmeldeten. Eilig blinzelte er die Sterne fort, die vor seinem Blick tanzten.
Der Bär stand nicht weit entfernt und hob witternd die Nase, als sich sein vermeintlich leichtes Opfer bewegte. Crishcan tastete nach dem Messer, das noch an seinem Gürtel steckte. Als er es zog, stellte er fest, dass es zerbrochen war.
"Verschwinde!", brüllte er den Bären an und wedelte mit den Armen, um sich größer zu machen. Schmerzen brannten in seinen Schultern wie Flammen. Er brüllte nur umso lauter.
Irritiert trat der weiße Bär zurück. Dann musterte er Crishcan und setzte mit einem plötzlichen Sprung nach vorne, um ihn anzugreifen.
Just, als der Bär auf ihn zusprang und Crishcans Herz nach unten sackte, bewegte sich der Schneeberg hinter ihm. Ein tiefes, mächtiges Schnauben erklang und ein langes Horn schob sich neben dem jungen Elfen nach vorne. Der Bär bremste so abrupt, dass seine schwarzen Tatzen den Schnee weit in den Himmel wirbelten. Mit einem erschreckten Laut, der fast wie ein Schrei klang, rannte das Raubtier davon.
Crishcan fiel in den Schnee und warf sich herum. Durch den Nebel aus Schmerz sah er ein riesiges, weißes Tier, von dem frischgefallener Schnee rieselte. Das Wollnashorn hatte rote Augen und ragte vor dem Jungen wie ein Berg in den Himmel. Einen Moment lang waren sie beide - Elf und Nashorn - sicher, dass das Tier Crishcan zertrampeln würde.
Doch als das Nashorn einen Schritt machte, ging ein Ruck durch seinen Körper und das befellte Tier musste anhalten.
Atemlos beugte sich Crishcan zur Seite und bemerkte, dass ein Hinterbein des Nashorns festzustecken schien.
Schnaubend blinzelte das Wollnashorn ihn aus kleinen Augen an. Vorsichtig erhob sich Crishcan, sein Blick ruhte auf dem Messer in seiner Hand, glitt dann zur Beute.
"Ich schulde dir was", murmelte er unglücklich. Das Nashorn hatte ihn vor der Kälte gerettet, als er unwissentlich neben ihm zu Boden gegangen war. Vorsichtig streckte Crishcan die Hand aus, bis er die Schnauze des Tieres berührte. Dann drückte er den massigen Kopf sanft an die Seite und machte humpelnd einen Schritt. Dann noch einen. Sein Handschuh glitt über verfilztes, schneeweißes Fell. Das Tier war wirklich weiß, und nicht nur von Schnee bedeckt. Ein solches Nashorn hatte Crishcan noch nie zuvor gesehen. Ein weiterer Grund, warum er es befreien musste.
Vorsichtig beugte er sich neben dem Hinterbein vor. Das Nashorn wartete ungewöhnlich ruhig ab, bis Crishcans suchende Finger endlich auf das dicke Seil stießen und er begann, es mit dem Messer zu durchtrennen. Das Nashorn schnaubte.
"Nokaite", murmelte Crishcan leise, mehr, um sich selbst zu beruhigen. "Diese dummen Nokaite und ihre Fallen ..."
Das Seil gab nach. Schnaufend stapfte das Nashorn los und Crishcan stürzte in den Schnee. Ohne es zu merken, hatte er sich auf die Flanke des Nashorns gestützt. Jetzt konnte er nur kraftlos den Kopf drehen und zusehen, wie das mächtige Tier eins wurde mit der schneeweißen Landschaft.
Erneut sank Crishcan in einen erschöpften Schlaf.
~*~
Wieder einmal weckten ihn die Geräusche einer nahen Gefahr.
Erschöpft schlug Crishcan die Augen auf. Er wollte sich aufsetzen, doch er war zu matt. Zu den Schmerzen hatte sich Hunger gesellt. Seine Hände und Füße waren bereits taub vor Kälte. Er musste sich selbst eingestehen, dass er nicht mehr hier wegkommen würde.
Müde richtete er den Blick auf das Wesen, das ihn geweckt hatte und mit ziemlicher Sicherheit sein Tod sein würde. Zunächst sah er gar nichts. Es hatte wieder begonnen, zu schneien, der Wind wirbelte weiße Flocken über die Ebene. Dann schälte sich eine massige, ebenso weiße Gestalt aus dem Sturm.
Crishcan blinzelte. Es war das weiße Wollnashorn. Und nicht nur das, auf dem Rücken des großen Tieres saß eine winzige Gestalt, kaum größer als ein Kind. Weißes Haar wie das Fell des Reittieres flatterte vom Kinn des in dichte Pelze gehüllten Reiters. Das Nashorn stellte sich etwas seitlich zu Crishcan, den Schneesturm abschirmend. Völlig verdattert sah der junge Elf hinauf zu dem Reiter. Die Geschichten, die seine Mutter ihm nachts vor dem erlöschenden Feuer erzählt hatte, fielen ihm wieder ein.
"Bist ... bist du der weiße Reiter?" Er merkte, dass er wieder zitterte. Nun war es so weit, der Geist der Kälte rief ihn zu sich. Viel, viel früher, als Crishcan gedacht hatte.
Die Gestalt streckte einen Speer aus, dessen Spitze aus Knochen auf Crishcans Brust zeigte. "Du", grollte das Wesen mit einer für seine Statur ungewöhnlich tiefen und dunklen Stimme. "Hast du Mileyrnias Ketten durchtrennt?"
"W-was?", stammelte Crishcan.
"Mein Nashorn. Hast du sie losgeschnitten?"
Mit ein wenig Verspätung erkannte Crishcan, dass der Reiter seine Sprache nicht besonders gut sprach. Er nickte. "Es war eine Falle der Nokaite."
Der Reiter schnaubte. "Sie werden dafür büßen." Den Speer zog er zurück. "Du bist ein Jäger."
Crishcan schluckte, dann nickte er.
"Ich hasse Jäger."
"E-es war meine erste Jagd. Aber ich habe versagt."
Der kleinwüchsige Reiter schnaubte. "Dennoch wolltest du eines dieser wunderbaren Tiere töten und essen." Er streichelte das weiße Nashorn. Mileyrnia, das musste ihr Name sein. "Ihr Elfen verschwendet keinen Gedanken an das Leben Anderer. Aber du hast sie gerettet. Ich schulde dir daher dein Leben." Der Reiter drehte den Speer und streckte nun das stumpfe Ende zu Crishcan. "Steig auf!"
Der junge Elf konnte kaum denken. Er packte zu und ließ sich erst auf die Füße, dann auf den breiten Rücken des Wollnashorns ziehen. Seine Glieder zitterten vor Anstrengung und Kälte.
Als sich das Nashorn gemächlich in Bewegung setzte, krallte er sich an dessen langes, weißes Fell. Der kleine Reiter - Crishcan konnte problemlos über dessen Fellmütze nach vorne sehen - sah auf einem Sitz aus dunklem Leder, der mit Riemen sicher an dem Tier befestigt war und zudem noch einige Taschen trug. Ganz ähnlich wie die Geschirre von Zugtieren. Doch Crishcan saß auf dem rutschigen Pelz und wusste kaum, wie er auf dem Rücken des Nashorns bleiben sollte. Seine Finger hatten kein Gefühl, um sich festzuhalten.
Der Reiter bewegte sich und ergriff einen Wasserschlauch, der vorne am Nashornhals gehangen hatte. Er reichte ihn an Crishcan. "Trink."
Als der Elf den Schlauch entgegen nahm, sah er auch, dass dem Reiter tatsächlich lange, weiße Haare aus dem Kinn sprossen. Die Haut, unter der Kapuze kaum zu sehen, war bläulich.
"Du ... du bist ein Zwerg!", erkannte Crishcan.
"Hm", brummte der Reiter unbestimmt.
"Bei den Nordwinden - du bist der Rächer, nicht wahr? Der Jäger der Jäger!"
"Du sollst trinken", knurrte der Zwerg.
"Ist das Gift?", fragte Crishcan, während er den Trinkschlauch öffnete. Er probierte einen Schluck und erzitterte, als ihm eine brennende, heiße Flüssigkeit durch die Kehle rann.
"Nein, es ist kein Gift. Ich habe versprochen, dir zu helfen."
"Wann?"
"Nun ... gerade eben. Du hast meinem Reittier geholfen, also helfe ich dir. Auch wenn es nur ein dummer Zufall war."
"Sie ist wirklich sehr schön", murmelte Crishcan und nahm einen weiteren Schluck des Getränks. Prickelnd kehrte die Wärme in seine Glieder zurück. "Ma ... Melley ... wie war noch gleich ihr Name?"
"Mileyrnia." Der Zwerg ruckte leicht an einem Zügel und das Nashorn trottete ein wenig nördlicher. "Das bedeutet 'einsam'. Sie wurde von ihrer Familie verstoßen."
"Das tut mir leid", murmelte Crishcan.
"Es war ihr Glück. Nur deshalb entkam sie einem Angriff eurer Jäger und überlebte."
Crishcan schwieg. Der unfreundliche Tonfall des Zwerges hatte ihn endgültig verschreckt. Die Geschichten um den Rächer waren legendär. Er jagte die Jäger eines Stammes, wenn sie auszogen, um Fleisch herbeizuschaffen. Manch einen lockte er in trügerischen Schnee über tiefen Schluchten, andere auf zu dünnes Eis. Er ließ Herden in Panik geraten, sodass sie die Jäger zertrampelten, er führte sie in ihre eigenen Fallen. Nicht selten fand ein Stamm schließlich einen Jäger, der zu Fuß geflohen war, ehe ihn ein Speer in den Rücken getroffen und zu Boden gerissen hatte.
"Warum tust du das?", fragte Crishcan schließlich.
"Was?", fragte der Rächer.
"Du tötest tapfere Jäger. Dabei jagen sie doch nur, um uns mit Fleisch zu versorgen."
"Es geht ihnen nicht um das Fleisch", brummte der Zwerg. Er drehte sich im Sattel leicht, um Crishcan anzusehen. "Es geht ihnen um das Elfenbein im Horn der Tiere. Fleisch könntet ihr von jedem anderen Tier erlegen, aber Nashörner finde ich immer wieder tot im Flussland, unversehrt, nur das Horn abgeschnitten."
"Das würden wir niemals ...!" Crishcan sprach nicht zu Ende. Er erinnerte sich an viel zu viele Jagten, von denen die Männer nur mit Hörnern zurückgekehrt waren.
"Hooo", murmelte der Zwerg und das Nashorn hielt an. Als Crishcan den Blick hob, sah er die großen Mammuts am Horizont. Die großen Plattformen mit den Hütten, die die Tiere zogen, waren kaum zu erkennen, denn die Riesen von Lamaria kamen direkt auf sie zu.
"Mein Stamm!", rief Crishcan erleichtert.
"Hier musst du absteigen", verkündete der Rächer. "Sie haben dich bereits gesehen, bald sind sie hier."
Gehorsam kletterte Crishcan vom Rücken des Wollnashorns. "Ich ... vielen Dank."
Der Zwerg schnaubte. "Ich hoffe, wir sehen einander nie wieder, Jäger." Mit einem Schnalzen wendete er das weiße Nashorn und ritt zurück in das Schneetreiben. Schnell war er im Weiß verschwunden, wie ein Geist oder ein Alptraum im Licht des Morgens.
Crishcan hielt sich schwankend auf den Beinen. Endlich konnte er einen Schlitten sehen, der - gezogen von weißen Hunden - auf ihn zu kam. Der Jäger darauf rief schon von Weitem Crishcans Namen, doch der Blick des Jungen glitt zurück zum weißen Nichts, in dem der Rächer verschwunden war.
"Ich verspreche es", murmelte er leise und ließ das geborstene Elfenbeinmesser in den Schnee fallen.