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Nach dem Prompt „Seehase“ der Gruppe „Crikey!“
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Unter dem Eis zeichneten sich die Algen wie grüne Fahnen ab. Tlate Hiin stemmte sich ächzend hoch, nachdem er den Schnee von der glatten Eisschicht gewischt hatte.
Anik reichte seinem Vater die Spitzhacke und trat ein Stück zurück.
Der Wind heulte und riss an der fellbesetzten Kleidung der beiden. Tlate schwang den Pickel und brach das Eis routiniert auf.
"Achte genau auf die Risse", wies er seinen Sohn an. "Du musst sie lesen lernen."
Anik nickte. Schweigend hielt er den Eimer umklammert und sah seinem Vater bei der Arbeit zu.
Es war noch kalt. Nur langsam begann jetzt die Zeit der Wärme, die Lamaria aus dem Griff des Winters befreite. Die Kühle hatte auch ihre Vorteile, denn sie machte das Eis fest und sicher. So fest gar, dass der alte Elb ziemlich keuchte, bevor er eine runde Öffnung fertiggestellt hatte.
Darunter war das Wasser von einem klaren Schwarz, sauber, jedoch lichtlos. Anik trat vor und starrte wie in einen bewegten Spiegel.
"Siehst du sie?", fragte Tlate Hiin.
Anik strengte sich an. Zuerst nahm er die Algen wahr, große Schatten, die unter den Wellen wehten. Dann sah er etwas anderes, einen plumpen Goldschimmer, vor einer rötlichen Wolke.
"Da ist einer! Ein Arivat!" Der große Fisch befand sich am Boden der flachen Senke, die Aniks Familie schon seit drei Generationen - seit tausenden von Jahren - befischte.
"Nehmen wir ihn?", fragte Tlate lächelnd.
Anik zögerte. "Aber da sind auch Eier. Ist das nicht ein Weibchen?" Die Arivat-Züchter hielten sich an eine einfache Regel: Die Weibchen für die Eier, die Männchen für das Fleisch. Zwar waren die Weibchen größer, aber auch weniger schmackhaft.
"Siehst du den roten Bauch?", fragte Tlate Hiin. "Das ist ein Männchen. Die Männchen passen auf die Brut auf. Die Weibchen sind schon wieder fort."
Anik nickte langsam.
Tlate atmete tief durch, ehe er einen Hitzezauber wirkte und sich schließlich in das Wasser hinuntergleiten ließ. Der große Fisch wich seinen Füßen langsam aus. Er war groß wie ein Schneehund, aber nur sehr langsam. Tlate streckte die Hand aus und Anik reichte ihm den Eimer, worauf sein Vater den Rogen geschickt einsammelte. Als er den triefenden Eimer zurückreichte, war dieser randvoll mit rosa Fischeiern, und sehr schwer. Das eisige Wasser machte Aniks Hände taub. Er schleppte den Eimer ein Stück zur Seite, während sein Vater sich erneut bückte. Er tauchte völlig unter die Wasseroberfläche, die bereits wieder zufror. Diesmal kam er mit dem Fisch im Arm wieder hoch. Der Arivat warf sich hin und her, doch sein Widerstand erlahmte rasch, als Tlate ihn auf das Eis legte.
Anik reichte seinem Vater eine Hand, während dieser zurück auf das meterdicke Eis kletterte und den Feuerzauber ein paar Mal wiederholte, um sich zu trocknen.
Inzwischen bedeckte eine neue, milchige Eisschicht das Loch.
"Siehst du, wie weit die Algen reichen?", fragte Tlate Hiin seinen Sohn und wies mit einer leicht zitternden Hand zum Horizont.
Anik nickte. Überall, wo das Eis dunkler wirkte, befanden sich Algen. "Und da sind überall Arivats?"
Tlate nickte. "Sie kommen jedes Jahr hierher, immer an die gleiche Stelle. Hier befindet sich unter dem Eis ein flaches Tal mit dichtem Tang. Hier sind sie sicher vor Seehunden, die sie jagen. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass das Eis nie zu dick wird und dass sie Nahrung finden, um immer wiederzukehren.
"Und dafür können wir sie töten?" Anik sah mit gemischten Gefühlen auf den großen Fisch. Der Fischvater hatte doch nur seine Eier beschützen wollen. Doch andererseits würde diese Mahlzeit lange vorhalten ...
"Wir nehmen nie zu viele", schärfte Tlate Hiin ihm ein. "Diesen hier kannte ich. Sieh nur, wie groß er ist! Ein sehr altes Männchen. Er hat viele Jahre hier gelebt, doch eines Tages müssen wir alle dem Ruf folgen."
Anik nickte langsam. Ja, das verstand er.
"Und jetzt müssen wir uns beeilen, bevor der Rogen erfriert", drängte Tlate ihn sanft. "Nimm du den Eimer, Anik. Wir müssen uns sputen."
Und so verließen Vater und Sohn das geheime Tal, um das nur ihre Familie wusste.